Sie ist assoziiertes Mitglied der Allgemeinen Rabbinerkonferenz Deutschland und Vorstand des jüdischen Lehrhauses "Beth Etz Chaim". Sie forscht und publiziert zum Judentum, zur Situation der Jüdinnen und Juden in der DDR und zu "Jüdischen Frauen, Organisationen und Bewegungen in Deutschland nach 1945". Über die Herausforderungen im Kontext von Wissenschaft und Religion, den täglichen Spagat jüdischer Menschen zwischen Selbst- und Fremdbestimmung und auch zu ihrer Forderung nach einem Wandel in der Bildungspolitik und Erinnerungskultur erzählt Esther Jonas-Märtin in diesem Gespräch.
Sharon Adler interviewte für das Deutschland Archiv die Rabbinerin Esther Jonas-Märtin.
Kindheit und Jugend in der DDR
Sharon Adler: In welcher Form haben Sie als Kind bzw. Jugendliche Judentum in Ihrer Familie erlebt?
Esther Jonas-Märtin: Das fand nicht statt, außer der Tatsache, dass es zu einer bestimmten Zeit im Jahr immer Mazzot gab. Und das war's auch schon. Das wurde aber nicht erklärt und blieb unkommentiert stehen.
Sharon Adler: Warum, denken Sie, hat Ihre Familie nicht jüdisch gelebt, aus welchen Gründen hat sie nicht am Gemeindeleben partizipiert?
Esther Jonas-Märtin: Für meine Großeltern, die beide das Konzentrationslager überlebt hatten und nun zurückkamen, war Religion bzw. Glaube nicht mehr möglich. Weil mein Großvater Kommunist war und als solcher schon 1935 inhaftiert war, haben sie sich in dieser Ideologie eingerichtet. Die Idee von einem sozialistischen, respektive besseren Deutschland war ihr neuer Lebensinhalt. Deshalb auch die bewusste Entscheidung für die sowjetische Besatzungszone. Ich weiß vom Hörensagen, dass meine Großeltern, wie viele andere, einen großen Kreis von anderen Überlebenden um sich hatten. Das habe ich auch später in meiner eigenen Arbeit festgestellt: dass viele Überlebende nur mit anderen Überlebenden in der Lage waren, aufzublühen und sich zu unterhalten – und nicht mit Leuten, die davon nicht berührt waren.
Sharon Adler: Im Alter von sieben Jahren haben Sie Ihre Großmutter auf ihre auf dem Arm eintätowierte Nummer angesprochen. Wie hat sie reagiert?
Esther Jonas-Märtin: Sie wurde hysterisch und ich konnte das überhaupt nicht einordnen. Ich habe mich dann später damit schwergetan, sie in Berlin zu besuchen, doch niemand hat versucht, mir zu erklären, was passiert war.
Sharon Adler: Bis Sie 15 Jahre alt waren, wussten Sie nicht, dass sie Bergen-Belsen und Auschwitz überlebt hat, und dass Sie und Ihre Familie jüdisch sind. Was hat sich für Sie verändert, als Ihnen das bewusst wurde?
Esther Jonas-Märtin: Ich wusste, dass meine Großeltern im KZ waren, aber ich wusste nur, dass sie als KommunistInnen im KZ waren. Dass sie auch als Juden im KZ waren, ist mir erst klargeworden, als ich das Familienalbum mit dem Stammbaum und mit einem Foto aus dem Jahr 1926 mit vielen Verwandten gefunden habe. Den Hinweis auf Rabbiner, auf Konversionen, und darauf, dass die Linie mit meinem und dem Namen meiner Schwester endete. Da habe ich realisiert, dass Jüdischsein nicht nur irgendwie historisch ist, das mit einem Tag X aufhört, sondern: das hat auch etwas mit mir zu tun. Das war für mich die Antwort auf viele meiner Fragen: Warum ist meine Familie nur so klein? Wieso leben wir über die Kontinente verstreut? Wieso findet Erinnerung an die ermordeten Menschen nicht statt? Mir war immer klar, dass etwas fehlt, etwas nicht bearbeitet wurde. Aber der Verlust wurde nicht thematisiert. Trauer gab es nicht. Meine Eltern waren sehr auf "Normalsein" orientiert, das Jüdische wurde in die Zeit vor 1945 verlagert und hatte mit dem Heute nichts zu tun. Für sie war es später auch schwer, meinen Weg zu akzeptieren.
Antisemitismus in der DDR
Sharon Adler: Welche Reaktionen sind Ihnen begegnet, als Sie thematisiert haben, dass Sie jüdisch sind?
Esther Jonas-Märtin: Ich hatte eine DDR-Sozialisation, Religion war da nicht vorgesehen, es war das per se Böse. Ich bin zu meiner Geschichtslehrerin
gegangen, um mit ihr darüber zu sprechen. Das haben einige MitschülerInnen mitbekommen, und danach war's nicht lustig. Wir hatten einen Davidstern am Briefkasten und die Klasse ist mit "Juden raus"-Rufen hinter mir hergelaufen. Damit wurde ich allein gelassen, geholfen hat mir weder mein Elternhaus noch die Schule. Die LehrerInnen waren komplett überfordert. Die Interims-Schulleiterin – das alles fand im Wendejahr statt – hat uns nahegelegt, die Schule zu wechseln, was ich als extrem ungerecht empfand. Was mich bis heute daran erschüttert, ist, dass sich im Umgang mit jüdischen SchülerInnen so wenig geändert hat.
1989 und die Öffnung der innerdeutschen Grenzen aus jüdischer Sicht
Sharon Adler: Wie haben Sie die Wende-Zeit wahrgenommen und erlebt?
Esther Jonas-Märtin: Ich bin im Glauben daran aufgewachsen, dass die DDR ein antifaschistischer Staat ist und der Antisemitismus ausgerottet sei. Und das war nun definitiv nicht so. Die Wende selbst war für mich kein so einschneidendes Erlebnis, denn durch meine Erfahrungen war die DDR ohnehin bankrott. Mit dem Begriff "Wiedervereinigung" streite ich mich, weil eine Vereinigung vorausgesetzt hätte, dass man zwei System miteinander vereint und nicht eines über das andere stülpt. Was mir Sorgen gemacht hat, war der aufkeimende Nationalstolz. Ich hatte damals ein diffuses Gefühl von Besorgnis dazu, dass man plötzlich Leute mit Deutschland-Flaggen durch die Gegend laufen sah und sagen hörte: "Wir sind stolz, Deutsche zu sein". Vor allem bei Leuten, die vorher sehr auf DDR-Linie waren und sich dann plötzlich dieses "Deutschland über alles"-Mäntelchen umgehängt haben.
Juden und Jüdinnen zwischen Judentum und DDR-Staat.
Sharon Adler: Darüber, wie (oder ob) sich die Haltung der DDR gegenüber ihren Jüdinnen/Juden im Laufe der Jahrzehnte verändert hat, sowie zu den Jüdischen Gemeinden in der DDR haben Sie intensiv geforscht und vielfach publiziert. Heute halten Sie bundesweit Vorträge zum Thema "Juden in der DDR". Welche Fragen begegnen Ihnen in dem Kontext immer wieder und wo gibt es Erklärungsbedarf?
Esther Jonas-Märtin: Das Interessante ist, dass viele Leute gar nicht wissen, dass es überhaupt Juden in der DDR gegeben hat. Das scheint komplett ausgeblendet worden zu sein. Zum Ende der DDR hatten wir noch 500 jüdische Gemeindemitglieder, in Leipzig waren es 35. Man kann sich schon ausrechnen, wieviel Gewicht diese winzig kleine Gemeinschaft im öffentlichen Leben hatte, und trotzdem wurde ein jüdisches Nachrichtenblatt, für DDR-Verhältnisse in sehr hoher Auflage, produziert und publiziert, weil man bewusst ein Image kreieren wollte. Die DDR stellte sich ja per Staatsdoktrin auf die Seite der Sieger. Und Juden kamen darin zwar irgendwie vor, aber trotzdem gab es zu unterschiedlichen zeitlichen Etappen erst Antisemitismus und dann Antizionismus. Lebendige jüdische Menschen waren in der Öffentlichkeit so gut wie gar nicht existent. Wenn überhaupt, wurden Juden und Jüdinnen nur herangezogen, um Erklärungen gegen den "Unrechtsstaat Israel" abzugeben oder waren erst dann gefragt, als Erich Honecker in den USA vom Präsidenten empfangen werden wollte. Konsens war, dass Juden und Jüdinnen ja nur Opfer, aber keine Kämpfer gewesen seien. Damit fielen sie nicht in die Ehrenliga der DDR-Obrigkeit und waren somit uninteressant.
Das Nichtwissen überwiegt. Viele Menschen haben Probleme mit der Anerkennung davon, dass Antisemitismus und Rassismus in der DDR keineswegs ausgerottet waren. Das ist für viele, die die DDR erlebt haben, ganz schwer zu akzeptieren. Was ich verstehen kann, denn auch ich bin mit diesem Narrativ groß geworden, und das ist etwas, woran viele geglaubt haben. Die DDR sorgte dafür, dass Nachrichten über Friedhofsschändungen, antisemitische Vorfälle und Drohbriefe nicht an die Öffentlichkeit gelangten. Dadurch, dass ich diese biografischen Wurzeln über meine Großeltern habe, die von den Slánský-Prozessen in Mitleidenschaft gezogen wurden, glaubt man mir, sonst bekäme ich noch mehr Reaktionen wie "das kann nicht stimmen; das war westdeutsche Propaganda".
"Fromme Verspätung?" Das Verhältnis von religiösen Frauen zur Neuen Frauenbewegung
Sharon Adler: Im interreligiös angelegten Projekt der Deutschen Forschungsgemeinschaft (DFG) haben Sie als wissenschaftliche Mitarbeiterin für Ihr Projekt "Fromme Verspätung" zum Thema "Jüdische Frauen in Deutschland nach 1945 zwischen Religion und Politik" geforscht. Was war die Basis, was das Fazit Ihrer Forschungen?
Esther Jonas-Märtin: Ein abendfüllendes Thema! Ausgangspunkt war, herausfinden zu wollen, wie die Generationslinien zwischen den Überlebenden und der Töchtergeneration aussehen und die Beziehung zwischen der „Zweiten Generation“ und der Mehrheitsgesellschaft. Meine Fragestellung war, wie sich die Töchter von Überlebenden oder Rückkehrerinnen gegenüber dem Vorwurf positionierten, sie können ja keine Feministinnen sein, wenn sie Jüdinnen sind. Außerdem wurde die Frage danach gestellt, wie es sich verhält, wenn sich Frauen, die sich als religiös verstehen, gleichzeitig politisch betätigen. Meine Grundthese war, dass jüdische Frauen gerade als bewusste Jüdinnen in der Frauenbewegung aktiv sind. Ich habe untersucht, was dafür die Triebfedern waren und wie sich das mit einem religiösen Selbstverständnis vereinbaren lässt.
Sharon Adler: Auf welchen Ebenen fand ein Austausch statt und wo gab es Ablehnung oder Ausgrenzung?
Esther Jonas-Märtin: Es war nur punktuell oder lokal ein guter Austausch möglich. Die Frauenbewegung war weiß und christlich geprägt. Das Vorurteil der christlichen bzw. christlich geprägten Frauen war, dass das Judentum das Patriarchat erfunden hätte. Das begegnet mir bis heute. Auch als Rabbinerin wird mir vorgeworfen, dass ich ja als Jüdin nicht Feministin sein kann. Es gab daher drei Varianten für die jüdischen Frauen: entweder, sie engagierten sich ausschließlich „jüdisch“, oder sie entschieden sich für die feministische Arbeit, oder sie zogen sich komplett ins Private zurück. In dem Kontext ist den jüdischen Frauen aber nicht nur Antisemitismus, sondern auch Philosemitismus begegnet. Das geht ganz viel über Erwartungshaltungen. Wenn man feststellt, dass wir ja doch nicht so perfekt sind und Juden und Jüdinnen auch Macken haben, dann schlägt das ganz schnell um. Der Umgang mit Vorurteilen ist aber vor allem anstrengend, und was ich in dem Zusammenhang bei der Ersten, der Zweiten und meiner Generation auch sehe, ist: es ist in der Hauptsache unsere Arbeit… Das geht übrigens schwarzen Frauen genauso, das ist kein spezifisch jüdisches Phänomen. Wobei für mich der wesentliche Unterschied zwischen Antisemitismus und Rassismus darin besteht, dass Antisemitismus historisiert wird, während Rassismus als aktuell problematisch gilt.
Das spannende Endresultat meiner Arbeit war aber, dass viele der Frauen, die sich in den 1960er und 1970er Jahren politisch betätigt haben, sich in den Neugründungen von Reform- und liberalen Gemeinden der 1990er Jahre wiederfinden. Dazu hätte ich gern noch weiter geforscht.
Entscheidung für das Rabbinat
Sharon Adler: Ihr Weg in das Rabbinat war insofern eine logische Folgerung aus all Ihren Erfahrungen. Die erste Rabbinerin weltweit war Regina Jonas , die 1935 ordiniert wurde. Ist sie ein Vorbild für Sie?
Graduation an der American Jewish University in Los Angeles im Mai 2017, Esther Jonas-Märtin mit Rabbi Bradley Shavit Artson.
Esther Jonas-Märtin: Ja, das ist durchaus logisch! Was ich an Regina Jonas bewundere, ist, dass sie gegen viele Widerstände ihren Weg gegangen ist. Sie war die Einzige in ihrem Jahrgang, die dezidiert gesagt hat, dass sie Rabbinerin werden möchte, und nicht "nur" Religionslehrerin. Da gehört schon einiges dazu, wenn man sich so positioniert. Sie hat sich selbst auf sichere Füße gestellt. Das ist etwas, das ich im Prinzip genauso gemacht habe: Bildungstechnisch und mit meinem ganzen Hintergrundwissen. Dazu wusste ich genau: Diese Stamina, diese Ausdauer musst Du haben. Ich meine, man kann Willensstärke haben, aber es schadet nicht, wenn man auch das Handwerkszeug hat. Dafür habe ich die beste Ausbildung gesucht und gefunden. Das war für Regina Jonas damals genauso. Sie hat die Hochschule des Judentums für sich entdeckt. Sie hat einfach brillant agiert, ihre Arbeit geschrieben und ist ja dann als Predigerin und Seelsorgerin und als Rabbinerin tätig gewesen. Ich finde es immer schwierig, wenn es heißt: „Sie durfte nicht offiziell amtieren.“ Denn warum soll das für Berlin, nicht aber für Theresienstadt gelten? Sie war ja dort bis zum Schluss als Rabbinerin tätig und in dieser Funktion unterwegs; sie war ordentlich ordiniert und das ist, was für mich zählt. Was ich ihr nachgemacht habe, war die Sorge für sichere Standbeine. Ein deutliches Ja, sie ist ein Vorbild für mich!
Sharon Adler: Woraus resultierte die Entscheidung, Rabbinerin zu werden? Was macht für Sie die Arbeit als Rabbinerin heute aus?
Esther Jonas-Märtin: Die Idee, ins Rabbinat zu gehen, ist eigentlich schon ziemlich alt. Sie wurde das erste Mal 1996 von Hermann Berlinski z‘‘l , einem Leipziger Juden, an mich herangetragen. Damals hatte ich gerade damit angefangen Vorträge zur jüdischen Geschichte Leipzigs zu halten und somit das Erbe meines Mannes Erwin Märtin z‘‘l angetreten, das ich nach und nach neu definierte. Die Idee vom Rabbinat hielt ich da noch für komplett unmöglich, doch im Laufe meiner wissenschaftlich-akademischen Karriere, bei Vorträgen, im Gespräch oder in Aktion, habe mich immer öfter gefragt: Was ist denn jetzt die Botschaft? Also, jenseits von Zahlen, Daten, Fakten – was möchte ich eigentlich vermitteln? Ich habe auch gemerkt, dass einem wissenschaftliches Arbeiten, egal wie gut, am Ende jederzeit irgendwer um die Ohren hauen oder in der Luft zerreißen kann. Nur weil Du irgendeine Fußnote nicht richtig gesetzt hast. Was für mich immer wichtiger wurde, war dieses sinnstiftende Moment. Sinnstiftendes Wissen weiterzugeben, wurde mein Motor. Das hat sich immer mehr zusammengefügt. Ich habe für mich selber entdeckt, dass ich nicht nur Lehrerin oder Dozentin für Faktenwissen sein wollte, sondern ich wollte sinnstiftend Lehrerin sein. Das ist das, was "Rabbinerin" am besten für mich beschreibt und was ich als Rabbinerin am besten leisten kann.
Sharon Adler: Sie gehören heute der egalitären Masorti-Bewegung im Judentum an. Können Sie bitte für die nicht-jüdischen LeserInnen erläutern, was die Philosophie von Masorti ausmacht und warum Sie sich für diese Richtung entschieden haben?
Esther Jonas-Märtin: Masorti kommt aus dem Hebräischen und steht für "Masora", wie Tradition, traditionell. Was es für mich ausmacht, ist, dass Masorti versucht, traditionelles, also das althergebrachte bzw. das traditionsbewusste Judentum mit der Moderne zu verknüpfen. Das heißt, ich trage nicht einfach nur die Halacha, so wie sie ist, in die moderne Zeit und tue nicht so, als gäbe es keine öffentlichen Verkehrsmittel oder Spülmaschinen, sondern ich versuche, Tradition und moderne Erkenntnisse aus Ethik, Philosophie und Medizin in Einklang zu bringen und eine neue Halacha zu kreieren. Und was ich daran spannend finde, und da denke ich wie Regina Jonas, ist, dass man sich dadurch auf ganz feste Fundamente stellt: die der Religionsgesetze. Indem ich also nicht nur sage, dass Frauen Rabbinerinnen werden sollten, weil wir im Zeitalter der Gleichberechtigung leben, oder sage, die Halacha sei an der Stelle falsch und: wir machen jetzt einfach alles anders. Indem ich solche Schritte mit dem Religionsgesetz, mit Bibeltexten, Talmud, Mischna und modernen Erkenntnissen belege, kreiert es Tragfähigkeit und das macht für mich einen echt wichtigen Unterschied.
Was mich am Masorti-Ansatz fesselt, ist, dass es diese große Ehrlichkeit im Umgang mit den Schriften gibt. Dass ich nicht darüber hinweggehe, wenn mir ein Text nicht gefällt, sondern ihn mir anschaue und dann überlege: was mache ich damit heute? Da schlägt mein Akademikerherz vor Begeisterung, denn das finde ich ganz einfach aufrichtig. Darin liegt für mich auch ein Bemühen darin, G'ttes Stimme immer wieder neu lesen und hören zu können. Das ist so, wie wenn man einen Teppich aus verschiedenen Garnfarben webt. Am Ende entsteht ein schönes Bild.
Sharon Adler: Was bedeutet für Sie die Verknüpfung von altem Wissen in der hebräischen Bibel bis zu modernerer jüdischer Auslegung mit dem Leben von heute?
Esther Jonas-Märtin: Weil ich festgestellt habe, dass den meisten Menschen das Wissen darüber fehlt, dass der jüdische Kalender anders aussieht als Weihnachten, Ostern, Pfingsten, habe ich für das nächste Jahr die Vermittlung von dem jüdisch-liturgischen Jahr im Fokus, also die jüdischen Feiertage und wie sie gelebt werden. Sowie die Vermittlung davon, dass und wie Judentum sich verändert hat. Judentum wird oft nur als historische Religion wahrgenommen. Es hält sich hartnäckig die Idee, dass Judentum immer noch laut hebräischer Bibel funktioniert. Für meine Arbeit greife ich auf Texte zurück, die die Bandbreite jüdischer Auslegung widerspiegeln von der hebräischen Bibel bis zur Moderne, denn im Judentum und in den Feiertagen steckt immer altes Wissen und gleichzeitig ist es modern. Beispielweise Sukkot und die Tikkun Olam-Idee mit der Verbindung von Umweltschutz. Das ist heute wie eine Awareness-Woche.
Gleichstellung innerhalb des Rabbinats
Sharon Adler: Der Jüdische Frauenbund forderte zu Beginn des 20. Jahrhunderts die politische Gleichstellung der Frauen innerhalb der Jüdischen Gemeinden und das Rabbinat von Frauen. Dazu haben Sie in Ihrem Beitrag „‘Jüdischsein‘ und die Neue (feministische)Frauenbewegung. Jüdischer Frauenbund bis Bet Debora“ geschrieben. Wie ist die Situation für Rabbinerinnen in Deutschland heute – sind sie den Rabbinern vollkommen gleichgestellt?
Esther Jonas-Märtin: Klares Nein. Ich denke, dass Rabbinerinnen immer noch härter arbeiten, viel stärker kämpfen und für die gleiche Anerkennung viel mehr tun müssen als männliche Kollegen. Ich glaube, das ist so, weil Deutschland generell konservativer ist als der anglo-amerikanische Raum. Rabbinerinnen stellen immer noch eine Ausnahme dar und amtierende Rabbinerinnen entsprechen nicht den Sehgewohnheiten, womit sich die Leute noch immer schwertun. Meiner Meinung nach werden Rabbinerinnen in diesem Land immer noch nicht genügend gewürdigt, und es wird nicht genügend betont, dass Rabbinerinnen ihren männlichen Kollegen in nichts nachstehen, oftmals sogar besser und differenzierter ausgebildet sind. Da fehlt mir noch Einiges, auch von den offiziellen Institutionen, wie dem Zentralrat.
Wo sind denn da die Frauen? Und wo sind die Rabbinerinnen? Mein Mann Lothar Mertens z‘‘l, war Historiker und er war es auch, der mich immer wieder aufforderte zu hinterfragen, was dargestellt ist, aber mehr noch zu fragen, was fehlt! Schauen Sie sich also die Broschüre zum 70. Jahrestages des Bestehens des Zentralrates der Juden in Deutschland an: Was da fehlt ist offensichtlich! Es heißt ja immer so schön, man sei für alle Strömungen im Judentum offen. Man kann nicht einerseits sagen: Rabbinerinnen sind gleichberechtigt, und andererseits tauchen sie kaum auf. Mir fehlt die Sichtbarkeit. Die Akzeptanz und der Respekt. Die Anerkennung dessen, was Jüdinnen und eben Rabbinerinnen in diesem Land leisten. Ich glaube, da haben wir noch eine ganze Menge zu tun, bis tatsächlich eine Gleichstellung vollzogen ist, bis wirklich ALLE Strömungen gleichermaßen repräsentiert und als zugehörig wahrgenommen werden.
Sharon Adler: Und wie sieht das im nicht-jüdischen Kontext aus, wie steht es um die Akzeptanz und Sichtbarkeit von Frauen im Rabbinat?
Esther Jonas-Märtin: Da sind viele nicht-jüdische Leute meist ganz überrascht: „Ach, ich wusste gar nicht, dass es im Judentum auch Rabbinerinnen gibt! Wie geht denn das?!" Ich frage dann immer nach, ob sie schon mal von Pfarrerinnen gehört haben oder wissen, dass Kirche sich in evangelisch und katholisch aufteilt. Ja, das wissen sie, aber das Judentum nicht nur orthodox ist oder ein monolithisches Irgendwas, und mehrere Strömungen hat, das überfordert das Vorstellungsvermögen.
Es ist auffällig, dass Leute an der Stelle nicht mal recherchieren können. Wir leben im Informationszeitalter und haben, was das anbetrifft, paradiesische Verhältnisse. Es war noch nie so einfach, an Informationen zu kommen. Es setzt natürlich voraus, dass man die Informationen hinterfragt und eben unterscheiden kann zwischen fake news und authentischen Quellen, aber das Nachdenken muss schon Jede/r selbst tun. Dann beginnt die eigene Suche eben in der Bibliothek und/oder auf den Webseiten jüdischer Institutionen. Es sind heute tausende Bücher digitalisiert, Du kannst lesen bis zum geht-nicht-mehr, ohne Dich aus der Wohnung wegzubewegen.
Im Auftrag für Bildungspolitik. Die Gründung von Beth Etz Chaim . Lehrhaus-Gemeinschaft-Teilhabe e.V.
Sharon Adler: 2018 haben Sie in Leipzig das jüdische Lehrhaus "Beth Etz Chaim" (Deutsch: "Haus Lebensbaum") mitgegründet. Wofür steht das Bild des Lebensbaums?
Esther Jonas-Märtin: Wenn wir unsere Persönlichkeit entwickeln, müssen wir dazu ganz starke Wurzeln haben und uns auch verzweigen. Dieses Bild ist auch deshalb spannend, weil Bäume immer weiterwachsen und sich verändern. Ich denke, wir sind nur dann starke Persönlichkeiten, wenn wir stark verwurzelt sind. Ob in der Familie, der Wahlfamilie oder in der Tradition. Wir müssen uns irgendwo verwurzeln, damit wir wachsen können. So wie Bäume unterirdisch miteinander verbunden sind, glaube ich auch daran, dass die gesamte Menschenfamilie auf irgendeine Weise miteinander verbunden ist.
Sharon Adler: Was bedeutet das Bild des Baums bezogen auf Tikkun Olam, auf die Werte des Judentums?
Esther Jonas-Maertin: Tikkun Olam heißt ja "die Welt reparieren", "die Welt ein Stück besser machen". Und hier geht es einfach um die Verantwortung, die wir haben. Die Verantwortung dafür, dass wir die Werte, für die wir stehen wollen, so gut wie möglich auch leben. Davon, was wir entscheiden zu tun, sind auch andere, die mit uns verbunden sind, betroffen. Es geht darum, anderen Vorbild und Brücke dafür zu sein, sich zu trauen, selber etwas Gutes zu tun und nicht nur für das Eigene zu sorgen. Und dafür bildet wiederum das Lehrhaus die Wurzel, damit Dinge wachsen können, für uns selbst und auch für andere. Das Beth Etz Chaim ist offen für alle, auch für nicht-jüdische Menschen. Mein Anliegen ist es, lebendiges jüdisches Leben zu vermitteln. Ich will weg von dieser Historisierung von Juden und Jüdinnen. Historische Figuren gehören dazu, aber wenn ich heute als amtierende Rabbinerin auf nur knapp zwei Themen festgelegt werde, dann frage ich: Was ist schiefgelaufen (nicht nur) in den vergangenen 30 Jahren?
Selbst- und Fremdbestimmung im Kontext von Erinnerungskultur
Sharon Adler: Besteht Ihre Kritik also auch darin, dass Sie als Person eher im Kollektiv denn als Individuum wahrgenommen werden?
Esther Jonas-Märtin: Ja, genau. Was mir immer wieder auffällt, ist diese Festlegung von Juden und Jüdinnen auf die Shoah und auf Antisemitismus. Das scheint so zu sein, dass das unsere Kernkompetenz ist. Und das ist es einfach mal nicht. Ich bemerke, dass man sich schon sehr in den Extremen zwischen Selbst- und Fremdbestimmung bewegt. Mich beschäftigt die Frage, inwieweit wir als Jüdinnen und Juden selbst entscheiden können oder wo wir eine Deutungshoheit anderer erfüllen.
Vor allem, wenn es um Projekte in der Erinnerungskultur geht, reagiere ich inzwischen sehr sensibel auf Anfragen und frage nach, was genau geplant ist. Hintergrund ist, dass ich mich frage, als was ich eigentlich gesehen werde – soll ich eine Staffage sein für eine Veranstaltung, nur weil das gerade auf der Agenda der Mehrheitsgesellschaft steht? Es wird ganz einfach vorausgesetzt, dass ich als Jüdin das Verlegen von Stolpersteinen oder andere Formen der (mehrheitsdeutschen) Erinnerungskultur per se ganz toll finde. Ich meine, dass es mir zusteht, darüber eine eigene Meinung zu haben, ebenso darüber, was ich mir wünschen würde. Ich möchte ganz einfach ordentlich gefragt werden, bevor man mich auf ein Thema festlegt. Stattdessen wird mir etwas aufoktroyiert. Hier fehlt mir die Reflektion darüber, wie sich ein mehrheitsgesellschaftlich christlich geprägter Mensch fühlen würde, wenn man sie/ihn auf etwas festlegt: „Das was du nicht willst das man dir tut, das füge auch keinem andern zu.“ Aber das zu reflektieren machen die meisten einfach nicht.
Sharon Adler: Welche Bildungslücken beziehungsweise Lücken in der Bildung zum Judentum gibt es? Was fehlt?
Esther Jonas-Märtin: Unwahrscheinlich viele. Ich glaube, dass wir in einer Gesellschaft leben, die eine Wissensgesellschaft ist, aber nicht mehr eine Bildungsgesellschaft. Das Problem ist, dass wir verlernt haben, Bildung als etwas zu sehen, was Persönlichkeitsbildung ist, was auch Empathie-Training beinhaltet. Genau das fehlt mir im Bildungsansatz und damit auch die Fähigkeit, mit Differenzen und Diversitäten klarzukommen, anderen Menschen gegenüber Empathie zu zeigen. Stattdessen wird Wissen in die Leute reingeprügelt, das wenig alltagstauglich und anwendbar ist. Da ist die Bildungspolitik, so wie sie heute betrieben wird, nicht nachhaltig. Solange man bestimmte Themenbereiche nicht verpflichtend und rechtlich einforderbar festlegt, solange wird sich an der Gesamtsituation nichts ändern. Ich sehe hier nur eine Chance, wenn ein wesentlicher Wandel in der Bildungspolitik einsetzt. Schulbücher sind so konzipiert, dass sie Segregation betreiben, statt mit der Kreation eines gemeinsamen Narrativs nachhaltig für Empathie zu sorgen. Mir fehlt die Vermittlung deutsch-jüdischer Geschichte. Samuel Salzborn hat dies mit seiner Schulbuchforschung belegt, aber wir wissen das schon seit Jahren ... Solange das so ist, wird jüdische Geschichte nur Exkursgeschichte sein und gehört nicht wirklich dazu.
Erinnerungskultur und der 9. November in Deutschland heute
Sharon Adler: Mit Blick darauf, dass nur noch wenige ZeitzeugInnen von den Verbrechen der Shoah berichten können: Wie könnte eine würdige Erinnerungskultur gestaltet sein?
Esther Jonas-Märtin: Ich sehe das Problem, weil bald keine ZeitzeugInnen mehr da sein werden. Ich beobachte auch, dass die ZeugInnen der ZeitzeugInnen in den Fokus rücken. Angst davor, dass ein Paradigmenwechsel stattfinden wird habe ich allerdings nicht. Die Erinnerungskultur muss sich verändern und wir dürfen auch neue Wege gehen. Ich realisiere gerade ein Projekt zum Gedenken an eine Malerin aus Leipzig, und wir versuchen herauszufinden, wie man dem Erinnern gerecht werden kann. Im Judentum ist erinnern ein Imperativ, der die Verantwortung jedes Einzelnen im Hier und Jetzt nach sich zieht. In der Mehrheitsgesellschaft ist es aber ganz schwer, die oftmals statischen Vorstellungen von Erinnern und Erinnerung aufzubrechen.
Es reicht nicht, nur Reden über ein „Nie wieder“ zu halten und für den Moment betroffen zu sein – dadurch ändert sich im Alltag nichts. In Deutschland redet man über tote Juden, mit lebenden Jüdinnen und Juden dagegen redet man selten oder gar nicht. Das könnte unter Umständen ja auch anstrengend werden, weil die Lebenden auf die Idee kommen könnten, Dinge anders zu sehen. Es fehlt im Erinnerungskultur-Kontext der Hinweis darauf, dass es nicht-jüdische Deutsche waren, die jüdische Deutsche ausgegrenzt, sich an ihnen bereichert und sie schließlich umgebracht haben. Das ist das gemeinsame Narrativ und das brauchen wir. Es heißt – auch in der Tagesschau – immer nur, dass am 9. November die Nationalsozialisten die Synagogen angezündet haben, aber es wird nicht gesagt, dass es die Söhne, Ehemänner, Väter, Großväter von "guten Deutschen" waren. Deswegen war ich Bundespräsident Steinmeier so dankbar, weil er in seiner Rede dezidiert darauf einging.
Sharon Adler: Wie lauten Ihre Forderungen an Politik und Zivilgesellschaft, wenn es darum geht, Antisemitismus , Shoah-Bagatellisierungen und -Relativierungen, aktuell im Kontext der Covid-19-Pandemie bei den "Querdenker"-Aufmärschen, entgegenzutreten? Wo wünschen Sie sich (mehr) Unterstützung und Empathie?
Esther Jonas-Märtin: Ich würde mir überhaupt Solidarität wünschen. Vor kurzem habe ich einen passenden Begriff kennen gelernt, "Empathiegefälle", geprägt von Maisha Auma . Danach erleben Juden und Jüdinnen, und andere Gruppen nur dann Empathie, wenn etwas passiert ist. Stichwort Halle: Die Empathie erreicht eine Klimax und nach zwei Wochen stehst Du wieder alleine da. Ich wünsche mir die feste Verortung von Bildungsansätzen gegen Rassismus und Antisemitismus in Schule und Universitäten. Last but not least ich wünsche mir gesellschaftlich-politische Stringenz und Nachhaltigkeit!
Zitierweise: "Esther Jonas-Märtin: Rabbinerin und Publizistin aus Leipzig. Positionen und Perspektiven", Interview mit Esther Jonas-Märtin in: Deutschland Archiv, 13.11.2020, Link: www.bpb.de/322884
Weitere Texte aus unserem Projekt "Jüdinnen in Deutschland nach 1945":
wurde 1974 in Leipzig geboren, studierte Germanistik, Jüdische Studien, Moderne Geschichte und Religionswissenschaften in Leipzig und Potsdam. In ihrer Magisterarbeit widmete sie sich der Thematik "Israel" im Werk der jiddischen Lyrikerin Malka Li. Nach ihrem Abschluss zur Magistra Artium im Jahr 2006 arbeitete Jonas-Märtin als wissenschaftliche Mitarbeiterin in einem interreligiös angelegten DFG-Projekt zum Themenbereich "Jüdische Frauen in Deutschland nach 1945 zwischen Religion und Politik". Dies bewog sie zu ihrer Entscheidung für das Rabbinat im Sinne eines egalitären Judentums. Interner Link: Mehr zu Esther Jonas-Märtin >>
geboren 1962 in West-Berlin, ist Journalistin, Moderatorin und Fotografin. Im Jahr 2000 gründete sie das Online-Magazin und Informationsportal für Frauen AVIVA-Berlin, das sie noch heute herausgibt. Das Magazin hat es sich zur Aufgabe gemacht, Frauen in der Gesellschaft sichtbarer zu machen und über jüdisches Leben zu berichten. Sharon Adler hat verschiedenste Projekte zu jüdischem Leben in Deutschland für unterschiedliche Auftraggeber/-innen umgesetzt und auch selbst Projekte initiiert wie "Schalom Aleikum“, das sie zur besseren Verständigung von Jüdinnen und Muslima entwickelte. Nach dem Anschlag auf die Synagoge in Halle im Jahr 2019 initiierte sie das Interview- und Fotoprojekt "Jetzt erst recht. Stop Antisemitismus". Hier berichten Jüdinnen und Juden in Interviews über ihre Erfahrungen mit Antisemitismus in Deutschland. Seit 2013 engagiert sie sich ehrenamtlich als Vorstandsvorsitzende der Stiftung ZURÜCKGEBEN. Stiftung zur Förderung jüdischer Frauen in Kunst und Wissenschaft. Für das Deutschland Archiv der bpb betreut sie die Reihe "Jüdinnen in Deutschland nach 1945"
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