Seit Ende Januar 2020 breitet sich in Deutschland SARS-CoV-2 aus. Ende März 2020 stellte der Deutsche Bundestag eine „epidemische Lage von nationaler Tragweite“ fest. Frühzeitig wies der Präsident des Robert Koch-Instituts darauf hin, dass sich die SARS-CoV-2-Pandemie in verschiedenen Regionen Deutschlands „unterschiedlich stark ausbreiten“ werde. Im April 2020 wurden dann die regionalen Unterschiede in den täglichen SARS-CoV-2-Statistiken deutlich und in den Medien wurde gefragt: „Warum hat der Osten weniger Corona-Fälle?“
Schnell wurden verschiedene Erklärungsansätze diskutiert: Die demografische Struktur oder die geringere Bevölkerungsdichte in den neuen Bundesländern reduzierten das Infektionsrisiko. Alternativ wurde die Diktaturerfahrung der Ostdeutschen als Erklärungsversuch lanciert. Denn diese verstärke die Einsicht, dass die Einschränkungen durch die Hygieneregeln notwendig seien. Als vorläufiger Höhepunkt dieser medialen Auseinandersetzung erwies sich die Frage, ob eine „DDR-Impfung“ gegen SARS-CoV-2 helfe. Bei dieser sogenannten DDR-Impfung handelte es sich um die BCG-Impfung gegen Tuberkulose, die seit Ende der 1920er Jahre weltweit zum Einsatz kam. Der Impfstoff wurde ab 1949 auch in der DDR in einem begrenzten Impfprogramm eingesetzt, das 1951/52 ausgeweitet wurde. Ab 1953 bestand in der DDR eine Pflicht zur BCG-Impfung mit Erst- und Wiederimpfung. Aus Stellungnahmen des Robert Koch-Instituts und des Deutschen Zentralkomitees zur Bekämpfung der Tuberkulosen geht deutlich hervor, dass bisher keine Evidenz für die Behauptung vorliege, eine BCG-Impfung schütze vor SARS-CoV-2. Laufende Klinische Studien zu dieser Frage seien noch nicht abgeschlossen.
Dennoch wurden in Medien die Vorteile einer Impfpflicht und Vorzüge der Gesundheitsversorgung der DDR immer wieder in den Vordergrund gerückt. Vor diesem Hintergrund möchten wir aus medizinhistorischer Perspektive einen Blick auf das Thema Epidemien in der DDR werfen. Dazu haben wir zunächst in Literaturdatenbanken Publikationen zum Themenfeld recherchiert und diese anschließend ausgewertet.
Unsere These lautet, dass die rechtlichen Rahmenbedingungen in der DDR ein zentrales Instrument zur Bekämpfung von Epidemien darstellten. Sie gewährleisteten die ungehinderte Überwachung von Epidemien durch umfangreiche Melde- und Behandlungspflichten. Damit bildeten die rechtlichen Rahmenbedingungen, neben prophylaktischen Impfungen, eine wesentliche Grundlage bei der praktischen Bekämpfung von Epidemien. Im Weiteren werden wir zunächst die rechtlichen Rahmenbedingungen darstellen (Kapitel 1) und anschließend an drei Beispielen aufzeigen – Asiatische- und Hongkong-Grippe (Kapitel 2), Ruhr-Epidemie (Kapitel 3) und HIV/AIDS (Kapitel 4) –, wie in der DDR hierauf reagiert wurde.
1. Rechtliche Rahmenbedingungen
In der SBZ/DDR waren bis in die 1960er Jahre das „Reichs-Impfgesetz“ vom 8. April 1874 und eine Vielzahl von Verordnungen der Sowjetischen Militäradministration Deutschlands (SMAD) gültig, in denen Fragen der Bekämpfung von Epidemien geregelt waren. Eine einheitliche Regelung zum Schutz vor Epidemien trat in der DDR erst mit dem „Gesetz zur Verhütung und Bekämpfung übertragbarer Krankheiten beim Menschen“ vom 20. Dezember 1965 in Kraft (GüK 1965), das durch mehrere Durchführungsbestimmungen konkretisiert wurde. Schließlich wurde am 3. Dezember 1982 eine Neufassung des „Gesetz[es] zur Verhütung und Bekämpfung übertragbarer Krankheiten beim Menschen“ verabschiedet (GüK 1982), die bis zum Einigungsvertrag Bestand hatte. Unter einer Epidemie wurde im GüK 1982 „das gehäufte Vorkommen einer übertragbaren oder vermutlich übertragbaren Krankheit mit zeitlicher und räumlicher Begrenzung“ verstanden. Beide Gesetzestexte bestanden im Wesentlichen aus Schutzmaßnahmen, die im Einzelfall die „Weiterverbreitung einer übertragbaren Krankheit verhindern“ bzw. im „Epidemiefall den Rückgang und das Erlöschen der übertragbaren Krankheit“ bewirken sollten. Ein zentraler Aspekt waren die Regelungen zur Meldepflicht. Sowohl im GüK 1965 als auch im GüK 1982 war festgelegt, dass alle Fälle übertragbarer Krankheiten, Verdachtsfälle übertragbarer Krankheiten, Personen, die ansteckend oder vermutlich ansteckend waren, Todesfälle an einer übertragbaren Krankheit, Ansteckungsgefahren und Epidemien meldepflichtig waren.
Zu einer namentlichen Meldung verpflichtet waren alle untersuchenden bzw. behandelnden Ärzte und Leiter von Laboratorien bzw. Einrichtungen mit einer entsprechenden Diagnostik. Zudem mussten Pflegende, Leiter_innen von Gemeinschaftseinrichtungen, Verantwortliche an Bord von öffentlichen Fernverkehrsmitteln und Leiter_innen von Reisegruppen ihrer Meldepflicht nachkommen. Die Meldung hatte unverzüglich zu erfolgen, spätestens jedoch 24 Stunden nach erlangter Kenntnis über einen meldepflichtigen Tatbestand. Die Meldungen gingen an die zuständige Kreis-Hygieneinspektion. Von dort aus wurden die Meldungen an das Zentralinstitut für Hygiene, Mikrobiologie und Epidemiologie der DDR in Berlin übermittelt. Wurde der Meldepflicht nicht nachgekommen, waren ein Verweis oder Ordnungsgeld von bis zu 500 Mark der DDR möglich.
Mit dem GüK von 1982 wurde die Meldepflicht erweitert. Nun mussten Personen, die vermuteten, an einer meldepflichtigen Krankheit zu leiden, sich selbst bei einem Arzt melden. Zudem mussten Personen einen Arzt oder die Staatliche Hygieneinspektion informieren, wenn sie vermuteten, dass ein Haushaltsangehöriger an einer meldepflichtigen Erkrankung litt. Mit der Meldung fiel die Pflicht zu einer Untersuchung zusammen. Bei einem positiven Befund bestand die Pflicht zur medizinischen Betreuung sowie Einweisung in ein Krankenhaus. Die Ärzte wiederum hatten die Pflicht, alle Personen vordringlich zu behandeln, bei denen ein Verdacht auf eine übertragbare Erkrankung vorlag.
Bei Todesfällen im Zusammenhang mit dem Verdacht auf eine meldepflichtige Krankheit war eine Leichenöffnung zwingend. Zur Verhütung von Epidemien wurden des Weiteren spezielle Abwehrmaßnahmen, unter anderem Krankenhauseinweisungen, Absonderungen oder Gesundheitskontrollen möglich. Diese mussten innerhalb von 24 Stunden der Kreis-Hygieneinspektion gemeldet und von dieser bestätigt werden. Absonderungen, beispielsweise Tätigkeits-, Ausbildungs-, Verkehrs- und Verhaltensbeschränkungen, waren immer zeitlich befristet. Neben Fragen der unmittelbaren Intervention wurden in den Gesetzestexten auch Aspekte der Prävention geregelt. Hierzu gehörten Fragen der „Gesundheitserziehung“ und vor allem von Impfungen. Bereits in der SBZ waren Impfungen ein wesentlicher Bestandteil eines prophylaktisch orientierten Gesundheitsschutzes. Für die Organisation und Überwachung von Schutzimpfungen war der Minister für Gesundheitswesen verantwortlich. Er legte fest, ob zur Verhütung und Bekämpfung von Epidemien Schutzimpfungen durchgeführt werden, ob eine Impfung freiwillig oder eine Pflichtimpfung war. Zudem entschied er, welche Zielpersonen eine Impfung erhielten. Die Verweigerung einer Pflichtimpfung war mit einem Verweis oder einer Ordnungsstrafe von bis zu 500 Mark belegt. Freiwillige und Pflichtimpfungen waren unentgeltlich.
2. Grippe-Epidemien in der DDR
Die „Asiatische Grippe“ 1957–1958
Die „Asiatische Grippe“, an der weltweit 1 bis 2 Millionen Menschen starben, hatte ihren Ursprung in China. Im Februar 1957 wurden erste Krankheitsfälle in Yunnan identifiziert. Im Mai 1957 erreichte der Influenzavirus A/Singapore/1/57 (H2N2) auf dem Land- und auf dem Seeweg Europa. Während in der bundesdeutschen Öffentlichkeit im Juli 1957 noch spekuliert wurde, ob und wie die „Asiatische Grippe“ in der Bundesrepublik angekommen sei, wurde im Juni 1957 in Ost-Berlin der erste influenzabedingte Todesfall registriert. Dennoch sorgte diese Grippe in der DDR für wenig Aufsehen. Sie wurde zunächst als ein asiatisches beziehungsweise ein westdeutsches Problem verstanden.
So berichtete im August 1957 das SED-Zentralorgan „Neues Deutschland“, dass US-Soldaten die asiatische Grippe über den Seeweg in die Bundesrepublik „eingeschleppt“ hätten. Über den tatsächlichen Verlauf der Grippe wurde in der DDR-Presse nicht berichtet.Dass sich die „Asiatische Grippe“ in der DDR verbreitete, belegen epidemiologische Berichte. Unter anderem im Kreis Magdeburg lag in der ersten Oktoberwoche 1957 die Morbidität, also die Zahl der Erkrankten, bei 9.711 Erkrankungen auf 100.000 Einwohner. Trotz hoher Morbiditätsraten in der gesamten DDR wurde die Grippe von den Gesundheitsbehörden der DDR als eher harmlos eingeschätzt. Unter anderem ging der öffentliche Gesundheitsdienst des Magistrats von Berlin lediglich von einem leichten Verlauf der Erkrankungen aus.
Lediglich in Ost-Berlin wurden ab September 1957 an verschiedenen Stellen Möglichkeiten zur freiwilligen Impfung zur Verfügung gestellt – unter anderem im „Haus der Gesundheit“. Die allgemeine Knappheit an dem Impfstoff führte aber zu Priorisierungen. Schwerpunkte bei der Versorgung wurden auf Versorgungsbetriebe, Kindergärten und Schulen gelegt. Eine Versorgung mit dem Impfstoff auch außerhalb von Ost-Berlin ist nicht bekannt.
Die „Hongkong-Grippe“ 1968–1970
Auch die „Hongkong-Grippe“ hatte ihren Ursprung in China. Das Influenzavirus A/H3N2 breitete sich von dort über Hongkong weltweit aus. Erste Berichte über diese Grippe sind auf den Sommer 1968 datiert. Ende 1968 hatte die „Hongkong-Grippe“ auch die DDR erreicht. Auf Grundlage des GüK 1965 war der Gesundheitsminister der DDR, Max Sefrin (1913–2000), für die Epidemie zuständig. Seiner Einschätzung nach war die epidemiologische Situation Anfang 1969 weitgehend unkritisch. Zudem hatte die DDR in den Jahren zuvor wesentlichen Vorkehrungen in Erwartung einer neuen Grippe-Epidemie getroffen.
Sefrin hatte bereits im Juli 1964 die Gründung eines Zentrallaboratoriums für respiratorische Viren in Ost-Berlin veranlasst, das „Grippezentrum der DDR“ war. Zudem hatte Sefrin seit Herbst 1968 die Bereitstellung eines wirkungsvollen Impfstoffes für 600.000 Menschen und die Optimierung der Zusammenarbeit auf Bezirksebene vorangetrieben. Darüber hinaus wurde im Februar 1969 eine allgemeine Meldepflicht zur Grippe erlassen und die sorgfältige epidemiologische Analyse der Erkrankungen an respiratorischen Infekten (über die Atmung verbreitet und aufgenommen) gefordert. Auf Grundlage der erhobenen Daten sollten valide Aussagen zum Verlauf der Grippe möglich werden. Im März 1969 wurde in der DDR der Höhepunkt bei den Infektionen mit der Grippe und des Krankenstandes erreicht: Es lagen 87.082 Erkrankungsfälle in der gesamten DDR vor. Mit dem Ende der Grippe-Saison 1968/1969 im Frühjahr 1969 wurden auch die Infektionsraten rückläufig.
Die zweite Welle der „Hongkong-Grippe“ trat Anfang 1970 auf. Hierauf wurde von den Behörden regional unterschiedlich reagiert. Dies reichte von Informationskampagnen zur Belehrung der Öffentlichkeit über Hygiene und Seuchengeschehen, über die Sperrung von Krankenhäusern für Angehörige und sonstige Besucher_innen bis hin zur Einschränkung der Bewegungsfreiheit durch das Erlassen von Quarantänemaßnahmen. In Informationsfilmen zur Hygieneerziehung, die in den meisten Kinos der DDR und im Fernsehen eingesetzt wurden und sich heute im Dresdner Hygiene-Museum befinden, wurde unter anderem für die Schutzimpfung geworben. Dieses Vorgehen hatte offenkundig Wirkung. Denn allein im vierten Quartal 1970 wurden nach Angaben des Ministeriums für Gesundheitswesen 889.832 Impfungen bei Erwachsenen und 1.032.145 Impfungen bei Kindern durchgeführt. Hingegen lassen sich kaum Aussagen zum tatsächlichen Verlauf der Grippe machen, da in den Statistiken nicht zwischen der saisonalen und der „Hongkong-Grippe“ unterschieden, sondern generell von respiratorischen Erkrankungsformen der Influenza gesprochen wurde.
3. Ruhr-Epidemien in den 1960er Jahren
Im Frühjahr 1962 breitete sich in der gesamten DDR eine Ruhr-Epidemie aus, die bis heute als ein besonders schweres Ruhrgeschehen in der DDR gilt. Erste fieberhafte Darmerkrankungen traten im März in Ost-Berlin auf. Ende März 1962 wurde von einem explosiven Ausbruch der Epidemie gesprochen. Daraufhin wurde Anfang Mai 1962 die Bildung von zwei Kommissionen beim Ministerium für Gesundheitswesen beschlossen: die „Kommission zur Erforschung der Ursachen der Ruhr-Epidemie“ und die „Zentrale Kommission zur Bekämpfung und Beseitigung der Ruhr- Epidemie“.
Das Ausbruchsgeschehen konzentrierte sich zunächst auf Ost-Berlin. Unter anderem an einer Oberschule in Treptow erkrankten 300 Schüler. Bereits Ende Mai 1962 waren in Ost-Berlin insgesamt 48.296 Erkrankte gemeldet und in der gesamten DDR waren 73.569 Erkrankungen an der Ruhr erfasst. Doch schon in den darauffolgenden Wochen konnte ein Rückgang der Neuerkrankungen in der gesamten DDR registriert werden.
Die rasche Eindämmung dieser Epidemie hatte zwei Gründe: die Ursachenforschung, vorangetrieben von der „Kommission zur Erforschung der Ursachen der Ruhr-Epidemie“ und die Maßnahmen, die zur Eindämmung der Epidemie umgesetzt wurden. Mithilfe epidemiologischer Auswertungen des Geschehens konnte das Nahrungsmittel Butter als Primärquelle für die Infektionen ermittelt werden. Weitere Untersuchungen ergaben, dass die sogenannte Molkereibutter kontaminiert war. Molkereibutter war eine Mischbutter, die durch das Mischen unterschiedlicher Buttersorten hergestellt wurde. Bei der Herstellung, Verarbeitung oder Lagerung der Molkereibutter musste es zu der Kontamination mit dem verantwortlichen Erreger Shigella flexneri Typ 4A gekommen sein, so die „Kommission zur Erforschung der Ursachen der Ruhr-Epidemie“.
Die „Zentrale Kommission zur Bekämpfung und Beseitigung der Ruhr- Epidemie“ erarbeitete und koordinierte unter Leitung von Minister Sefrin alle Maßnahmen zur Bekämpfung der Epidemie. Die ärztliche Versorgung sah folgende Schritte vor: An Durchfall erkrankte Personen wurden zwangshospitalisiert. Nach Sefrins Anweisungen wurde das Antibiotikum Sulfaguanidin in der Therapie angewendet. Nach Ende der Therapie sollten in den folgenden sechs Monaten sechs bakteriologische Stuhluntersuchungen durchgeführt werden, um die Sicherung des Therapieerfolges nachzuweisen. Zudem wurde eine Aufklärungskampagne zu Fragen der Hygiene initiiert. In der Presse erschienen zahlreiche Zeitungsartikel zu folgenden Themenfeldern: Sauberkeit, ABC der Hygiene oder zur Hygiene als erste Bürgerpflicht.
Darüber hinaus wurden Schwimmbäder geschlossen und der innerstaatliche Reiseverkehr eingeschränkt. Schließlich wurden prophylaktische Maßnahmen für gefährdete Personenkreise erlassen: Kinder ab dem sechsten Monat in Kindereinrichtungen und Schulen, Lehrer, Erzieher, Beschäftigte der Lebensmittelbetriebe, des Lebensmittelhandels, der Wäschereien, der Verkehrsbetriebe sowie Friseur_innen und Postzusteller_innen erhielten eine Prophylaxe mit Bakteriophagen. Diese Viren bekämpfen die Vermehrung ihrer Wirtsbakterien.
In den darauffolgenden Jahren kam es immer wieder zu lokalen und regionalen Ausbrüchen der Ruhr. Im September 1967 beispielsweise brach eine Ruhr-Epidemie in der Berliner Strafanstalt Rummelsburg aus. Ein Großteil der rund 2.400 Häftlinge erkrankte. Erst Ende November 1967 war die lokal begrenzte Epidemie abgeklungen. Ende 1968 und Anfang 1969 kam es zu regionalen Ereignissen in der DDR. 1968 waren mehrere Hundert und 1969 mehr als tausend Ruhr-Erkrankungen in der DDR gemeldet worden. Die „Zentrale Kommission zur Bekämpfung epidemischer Erkrankungen“ ließ die Lebensmittelproduktion und den Lebensmittelhandel umfangreich prüfen, um den Erreger der Ruhr-Epidemie zu identifizieren und reagierte mit den erprobten Maßnahmen vom Anfang der 1960er Jahre.
4. HIV/AIDS: „Es handelt sich um eine internationale Epidemie!“
Das Eingeständnis, bei HIV/AIDS handele es sich um eine „internationale Epidemie“, deren Erforschung und Bekämpfung auch von der DDR unterstützt und vorangetrieben werden müsse, wurde im September 1987 vom Generalsekretär des ZK der SED und Vorsitzenden des Staatsrats der DDR Erich Honecker (1912–1994) verlautbart. Zuvor galt HIV/AIDS offiziell als eine „West-Krankheit“ beziehungsweise ein soziales Problem des Westens, vor dem die DDR durch den Antifaschistischen Schutzwall geschützt sei.
Dieser Lesart bediente sich die Partei- und Staatsführung entgegen den Empfehlungen ärztlicher Expert_innen. Stellvertretend für diese Haltung steht der Minister für Gesundheitswesen der DDR, Ludwig Mecklinger (1919–1994). Dieser entschied noch Anfang 1984, die Öffentlichkeit nicht über HIV/AIDS zu informieren. Diese offizielle Haltung stand im Gegensatz zum intern gewählten Vorgehen von Mecklinger. Bereits 1983 hatte das Ministerium für Gesundheitswesen eine Berater_innengruppe eingerichtet, die internationale wissenschaftliche Erkenntnisse zu HIV/AIDS analysieren und daraus Empfehlungen ableiten sollte.
Die Bezirksärzt_innen und Leiter_innen der Medizinischen Dienste wurden über HIV/AIDS informiert, deren Auftreten auch in der DDR nicht ausgeschlossen werden konnte. Zudem wurde ein diagnostisches System implementiert, eine Abstimmung mit der Blutspendekartei in Berlin vorgenommen und veranlasst, dass im Staatlichen Kontrollinstitut für Seren und Impfstoffe eine AIDS-Bibliographie geführt wurde. Darüber hinaus wurden alle ausländischen Bürger_innen zu einem HIV-Test verpflichtet, die sich länger als drei Monate in der DDR aufhielten. Schließlich sollte die als Risikogruppe ausgemachte Berliner „Homosexuellenszene“ durch sogenannte „Mund-zu-Mund-Propaganda“ informiert werden.
Der Wandel im Umgang mit HIV/AIDS innerhalb der Partei- und Staatsführung ist durch mehrere Meilensteine gekennzeichnet. Vor allem die Arbeit der AIDS-Berater_innengruppe, die vom Direktor der Hautklinik an der Berliner Charité, Niels Sönnichsen (*1930), geleitet wurde, trug hierzu wesentlich bei. Innerhalb dieser Arbeitsgruppe wurde schnell klar, dass sich die DDR nicht dauerhaft gegen die Gefahren einer Epidemie abschotten konnte. Der erste HIV-Patient in der DDR war ein Messebesucher aus Frankfurt am Main, der im Dezember 1983 im Leipziger Diakonissenkrankenhaus mit hohem Fieber eingeliefert worden war und nach einer Behandlung wieder ausreisen konnte. 1986 registrierte das Ministerium für Gesundheitswesen den ersten HIV-positiven DDR-Bürger. Ein Tänzer aus Leipzig hatte sich bei ausländischen Gästen infiziert. Im August 1986 wurde dann die erste Radiosendung produziert, in der Sönnichsen Fragen von Journalisten zum Thema HIV/AIDS beantwortete. In diesem Rahmen wurde nicht mehr von einer West-Krankheit gesprochen, sondern den Zuhörern Wissen zum Schutz vor der Immunschwächekrankheit vermittelt. Zudem setzten sich die Mitglieder der AIDS-Berater_innengruppe für eine verstärkte Aufklärung der Bevölkerung mithilfe eines „Maßnahmenplan(s) zur Verwirklichung des komplexen Programms zur Verhütung und Bekämpfung von AIDS in der DDR“ ein. Dieser Plan beinhaltete Sonderforschungsvorhaben, eine verstärkte Zusammenarbeit mit internationalen Wissenschaftler_innen und bessere Laborausstattungen. Es waren Fortbildungsveranstaltungen für Ärzt_innen und Pflegende sowie eine Aufklärungskampagne durch das Deutsche Hygiene-Museum in Dresden vorgesehen. Schließlich war eine Steigerung der Kondomproduktion geplant, die aber auf Grund des desolaten Zustands der DDR-Wirtschaft bis zur Wende 1989/90 nicht umgesetzt werden konnte. Zudem arbeiteten seit 1987 Wissenschaftler_innen und Gesundheitspolitiker_innen aus der Bundesrepublik und der DDR in Forschungs- und Präventionsfragen zusammen.
Resümee
Die Unterschiede in den SARS-CoV-2-Statistiken zwischen den alten und den neuen Bundesländern verschwanden in den folgenden Monaten ebenso schnell wie die verschiedenen Erklärungsansätze in den Medien. Weder der demografische Wandel noch die Diktaturerfahrung der Ostdeutschen oder die BCG-Impfungen konnten die temporär aufgetretenen statistischen Unterschiede erklären. Dennoch belegen diese Medienberichte, dass die SARS-CoV-2-Pandemie mit Beginn ihres Auftretens national wie international politisiert wurde. Bis heute wird das zentral gesteuerte Gesundheitssystem der DDR mit Impfzwang und effektiven Maßnahmen der Krankheitsprävention in Zusammenhang gebracht. Die großangelegten Impfprogramme der DDR hatten tatsächlich eine enorme Wirkung. Hierfür steht unter anderem das Beispiel der zentral verwalteten Einführung der Polio-Impfung Ende der 1950er Jahre. Während in der Bundesrepublik Polio-Epidemien ausbrachen, waren die Bürger_innen der DDR weitgehend immunisiert. Solche Erfolge setzten jedoch einen Impfstoff voraus. Anhand der Beispiele der Asiatischen und der Hongkong-Grippe, der Ruhr-Epidemie und von HIV/AIDS wurde deutlich, dass ein Impfstoff nicht immer im ausreichenden Maß zur Verfügung stand, um prophylaktisch zu handeln.
Vor diesem Hintergrund wird umso deutlicher, dass die rechtlichen Rahmenbedingungen wesentliche Instrumente zur Verhütung und Bekämpfung von Epidemien in der DDR waren, die nicht außer Acht gelassen werden können. In den „Gesetz[en] zur Verhütung und Bekämpfung übertragbarer Krankheiten beim Menschen“ von 1965 und 1982 waren die Schutzmaßnahmen so gestaltet, dass eine reibungslose Überwachung von übertragbaren Krankheiten und Epidemien durch umfangreiche Meldepflichten sichergestellt war. Diese Pflichten wurden ergänzt mit einer Behandlungspflicht und zahlreichen Abwehrmaßnahmen, unter anderem Krankenhauseinweisungen, Absonderungen oder Gesundheitskontrollen. Zudem konnten zeitlich begrenzte Tätigkeits-, Ausbildungs-, Verkehrs- und Verhaltensbeschränkungen auferlegt werden. Die Melde- und Behandlungspflichten, ergänzt um die Abwehrmaßnahmen, bildeten in der Praxis die Grundlage bei der Bekämpfung von Epidemien, wie unter anderem das Beispiel der „Hongkong-Grippe“ Ende der 1960er Jahre zeigt.
Zitierweise: Maximilian Schochow/Florian Steger, "Epidemien in der DDR - Eine medizinhistorische Perspektive", in: Deutschland Archiv, 10.11.2020, Link: www.bpb.de/318550
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