Die 10. Volkskammer der DDR – Schule der (repräsentativen) Demokratie?
Bettina Tüffers
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Bildete die letzte Volkskammer der DDR eine neue parlamentarische Kultur aus, zur Nachahmung empfohlen? Waren die Volkskammermitglieder, „eine aus dem Volk herausgegriffene Masse", die eher den Bevölkerungsquerschnitt darstellten als heutige Parlamente? Und wuchs aus ihnen trotz aller Skepsis gegenüber Repräsentanz "ein Elitenpool der neu entstehenden politischen Führungsgruppen im Osten Deutschlands"? Fragen, denen Dr. Bettina Tüffers nachgeht, die Historikerin leitet den Forschungsschwerpunkt "Parlamente in der DDR" bei der Kommission für Geschichte des Parlamentarismus und der politischen Parteien in Berlin.
»Ich finde, in dieser Volkskammer wurde Demokratie so gemacht, wie sie in einem Parlament eigentlich gemacht werden sollte.«
Für eine ehemalige Abgeordnete war das, was die 10. Volkskammer zwischen ihrer Konstituierung am 5. April und dem 2. Oktober 1990, gleichzeitig die letzte von insgesamt 38 Sitzungen, geleistet hatte, noch 25 Jahre danach der Idealzustand. Was meinte sie damit? Oder anders: Was war an der 10. Volkskammer so beispielhaft und nachahmenswert?
Das ist durchaus auch heute noch von Interesse, nicht zuletzt weil zwei Drittel der 400 Volkskammerabgeordneten nach dem 3. Oktober 1990 ihre politische Karriere fortsetzten: 88 von ihnen übernahmen Mandate in den neugebildeten ostdeutschen Landtagen, 74 wurden im Dezember 1990 in den Bundestag gewählt, weiteren 13 gelang dies noch in späteren Legislaturperioden, 24 gingen von 1990 an ins Europaparlament, 29 als Minister oder Ministerinnen in die Exekutiven der fünf neugebildeten Länder.
Aus der 10. Volkskammer sind außerdem sechs Ministerpräsidenten, zehn Bundesminister und -ministerinnen, acht Parlamentarische Staatssekretäre und -sekretärinnen, ein Bundestagspräsident und ein Bundespräsident hervorgegangen. Diese Karrieren begannen nicht alle unmittelbar mit dem 3. Oktober, bei manchen lagen Jahre dazwischen. Sie waren auch nicht alle unbedingt von langer Dauer und blieben meist auf Ostdeutschland begrenzt. Viele ehemalige Abgeordnete schieden außerdem bald wieder aus der Politik aus. Dennoch: auf dem Gebiet der ehemaligen DDR waren sie nach den sechs Monaten die politisch Erfahrenen, auch wenn ihr Informations- und Kompetenzvorsprung nicht groß war und diese Erfahrung quasi im Schnelldurchlauf erworben wurde. Geprägt hat dies ihre weitere politische Arbeit sicherlich. Und möglicherweise beeinflusst diese Prägung die Art und Weise, wie Politik in den fünf östlichen Bundesländern gemacht wird, bis heute.
Wenn wir davon ausgehen, dass die Abgeordneten zu Multiplikatoren bestimmter Vorstellungen von Demokratie und Parlamentarismus wurden – Christopher Hausmann spricht von der 10. Volkskammer als einem „Elitenpool der neu entstehenden politischen Führungsgruppen im Osten Deutschlands“ –, sollten wir uns ansehen, wie diese Vorstellungen eigentlich aussahen. Im Folgenden soll es vor allem um drei Aspekte des Themas gehen:
1. Woran orientierten sich die Abgeordneten? Gab es unabhängig von dem aus Westdeutschland importierten Modell genuin parlamentarische Traditionen in der DDR, an die sie anknüpfen konnten?
2. Wie definierten die Abgeordneten ihre Rolle, obwohl es ein Unbehagen an der Repräsentation gab?
3. Welche Folgen hatte das für die parlamentarische Praxis?
1. Parlamentarische Traditionen (in) der DDR
Vierzehn der am 18. März 1990 gewählten Abgeordneten, das waren nicht einmal vier Prozent, hatten zuvor bereits der Volkskammer angehört, zum Teil sogar für mehrere Wahlperioden. Der Elitenwechsel, der sich mit dem Wahltag vollzogen hatte, war also umfassend. Eine nicht unbeträchtliche Zahl der Neuparlamentarier war aber bereits als Parteifunktionär, Gemeinde- oder Bezirksvertreter politisch aktiv gewesen, bevor sie ihr Mandat antraten. Auch das bisweilen über Jahre hinweg. Nur – was bedeuteten solche Erfahrungen für die Arbeit in der 10. Volkskammer? Welchen Nutzen konnten sie unter den völlig gewandelten politischen Bedingungen seit dem Herbst 1989 überhaupt haben?
Bis zum 18. März 1990 war die Volkskammer der DDR ein klassisches Beispiel für eine sozialistische Vertretungskörperschaft. Diese Volksvertretungen „neuen Typs“ waren 1949 ganz bewusst in Abgrenzung zu „bürgerlichen“ Parlamenten, das heißt zur repräsentativen Demokratie westlicher Prägung installiert worden. Laut Verfassung war die Volkskammer das höchste Machtorgan der DDR. Als de facto reines Akklamationsorgan, diente sie dem SED-Regime vor allem als parlamentarische Fassade.
Die Unterschiede zu den Parlamenten westlicher Demokratien waren eklatant: Die Abgeordneten in der DDR waren nicht frei gewählt – auch wenn die Verfassung das Gegenteil behauptete –, sie versahen ihr Mandat ehrenamtlich, bei höchstens zwei bis drei Sitzungen im Jahr. Sie blieben „Werktätige“, was angeblich einen engen Kontakt zur arbeitenden Bevölkerung und ein Verständnis für deren Sorgen und Wünsche garantierte. Pluralismus der Parteien existierte nur auf dem Papier, die zehn in der Nationalen Front zusammengefassten Blockparteien und Massenorganisationen fungierten lediglich als Transmissionsriemen der SED-Politik.
Insbesondere mit den 1946 gewählten Länderparlamenten hatten viele die Hoffnung einer demokratischen Erneuerung in Ostdeutschland, dem Gebiet der späteren DDR verbunden. Doch auch hier gilt, dass sie zwar „anfangs weithin dem Charakter herkömmlicher Parlamente [entsprachen], jedoch rasch zu bloßen Repräsentativ- und Akklamationsorganen ohne weitreichende Gesetzgebungsbefugnisse ab[sanken]“, bis sie schließlich im Zuge der Auflösung der Länder 1952 ganz abgeschafft wurden. Überdies waren auch sie größtenteils von Parlamentsneulingen besetzt, die in der Weimarer Zeit noch kein Mandat innehatten.
Eine parlamentarische Kontinuität, die die Mitglieder der 10. Volkskammer hätten wiederaufnehmen können, gab es also weder personell noch institutionell. Ihre Kenntnisse über die Arbeit demokratischer Parlamente hatten sie, wenn überhaupt, aus zweiter Hand, vielfach vermittelt durch das West-Fernsehen. Auch wenn sich die einzelnen Fraktionen auf die kommenden Aufgaben gewissenhaft vorzubereiten versuchten – zum Teil sogar schon vor dem 18. März –, und mal mehr mal weniger von ihren bundesdeutschen Schwesterparteien, sofern solche existierten, unterstützt wurden: Mit parlamentarischen Verfahren vertraut waren lediglich diejenigen, die, wie zum Beispiel der stellvertretende Präsident der Volkskammer Reinhard Höppner (SPD) oder auch Lothar de Maizière (CDU), in den Synoden der Evangelischen Kirche der DDR aktiv waren. Anwälte wie de Maizière oder Gregor Gysi (PDS) kannten sich zudem mit juristischer Argumentation und Terminologie aus. Der parlamentarische Alltag sollte sich allerdings sehr schnell als viel komplexer und komplizierter erweisen, als es sich die meisten hätten träumen lassen.
Die 10. Volkskammer war in der Tat ein absoluter parlamentarischer Neubeginn. Sie hatte jedoch mit dem Deutschen Bundestag ein Vorbild. Nicht allein aus praktischen Gründen war es für sie naheliegend, sich an ihm zu orientieren: Verfahren, Regeln, Strukturen, Zuschnitt von Ausschüssen und so weiter – all das wurde quasi eins zu eins kopiert, was einige der ostdeutschen Akteurinnen und Akteure durchaus kritisch sahen. Den Abgeordneten blieb allerdings kaum eine andere Wahl, denn sie standen von der ersten Minute an unter immensem Zeitdruck. Es war von Anfang an klar, dass sie lediglich ein Übergangsparlament bildeten, mit der alleinigen Aufgabe, die Verhältnisse in der DDR so schnell wie möglich – denn das bedeutete der Wahlsieg der konservativen Allianz für Deutschland – den westdeutschen anzugleichen.
2. Demokratie: repräsentativ oder doch lieber direkt?
Reinhard Höppner erzählte 1995 nicht ohne Stolz: „Dieses Parlament war, wie kaum ein anderes, mit den Bewegungen auf der Straße verbunden.“ Es „spielte [...] Stellvertretung“ im wahrsten Sinne des Wortes. Das war die sehr freundliche Beschreibung eines alles andere als konfliktfreien Verhältnisses zwischen Repräsentanten und Repräsentierten, die aber einiges aussagt über die Selbstwahrnehmung der Abgeordneten. Denn unabhängig davon, ob Höppner damit im Nachhinein etwas schönredete, auf ihre Bürgernähe hielt sich die Volkskammer viel zugute. Auf keinen Fall wollte sie den Eindruck entstehen lassen, ihre Mitglieder seien so abgehoben, elitär und abgeschottet, wie es die Kaste der DDR-Politfunktionäre – oder aber westdeutsche Berufspolitiker gewesen waren.
Auf ihre Weise bestätigten Abgeordnete wie Rainer Ortleb (Liberale) oder Gerd Gies (CDU/DA) die Äußerung Höppners, wenn sie behaupteten, dass die Volkskammermitglieder, „wirklich eine aus dem Volk herausgegriffene Masse“ gewesen seien und „eher den Bevölkerungsquerschnitt“ dargestellt hätten als heutige Parlamente. Was heißen sollte, dass sie die besseren Repräsentanten gewesen seien. Doch auch das entsprach nicht der Realität. Dass die 10. Volkskammer, was die Sozialstruktur ihrer Mitglieder betraf, alles andere als der gern zitierte „Spiegel der Gesellschaft“ war, sondern sich im Gegenteil „fundamental“ von ihr unterschied, hat bereits Christopher Hausmann gezeigt. Diese mangelnde Spiegelbildlichkeit ist allerdings generell ein Charakteristikum auch anderer Parlamente westlicher Demokratien. Bezeichnenderweise waren es gerade die sozialistischen Volksvertretungen, die diese Eigenschaft ideologiebedingt für sich reklamierten – ungeachtet dessen, dass auch dort Praxis und Theorie weit auseinander lagen.
Diese von den Abgeordneten gehegte Idealvorstellung der „wahren“ Repräsentation war beispielsweise auch einer der Gründe, warum sie sich so schwer taten mit der Regelung der Diätenfrage. Weil sie ihr Mandat hauptamtlich ausübten, also nun von der Politik lebten, mussten sie auch bezahlt werden, um ihren Lebensunterhalt bestreiten zu können. Und das war ein wesentlicher Unterschied zur alten Volkskammer. Doch ihre Diäten in der vorgesehenen Höhe selbst festzulegen, empfanden sie als ausgesprochen problematisch, denn die Summen, die zur Diskussion standen, waren deutlich höher als das, was die Menschen in der DDR im Durchschnitt verdienten. Auch hier war Bonn der Maßstab: Angepasst an die schlechteren Einkommensverhältnisse in der DDR erhielten die Abgeordneten circa ein Drittel dessen, was Bundestagsabgeordneten gezahlt wurde.
Es gab weitere Formen der Entfremdung. Gerade ein Grundprinzip der repräsentativen Demokratie schien die Nähe zu den Bürgern besonders zu behindern: Die strikte, auch räumliche, Trennung von Akteuren und Zuschauern im Parlament – im Plenarsaal sprechen dürfen nur Abgeordnete, die Besucher auf der Tribüne sind zur Passivität verdammt, jegliche Meinungsäußerung ist ihnen verboten. Das führte 1990 zu Irritationen auf beiden Seiten, wodurch die Abgeordneten gezwungen waren, ihre eigene Rolle zu reflektieren: Hatten Nicht-Parlamentarier ein Mitspracherecht? Wie weit musste man auf von außen herangetragene Forderungen eingehen? Wie sollte man sich verhalten angesichts der Proteste vor der Volkskammer, die es fast täglich gab? Konnte man sich mit den Protestierenden solidarisch erklären, mit ihnen sprechen, sie im Parlament sprechen lassen? Oder ihre Forderungen im Parlament nur verlesen? Und wie sollte man auf Proteste im Plenarsaal reagieren, wenn Besucher auf der Tribüne Transparente entfalteten oder Flugblätter in den Saal warfen? War das Ausdruck von Meinungsfreiheit und demokratischer Partizipation oder eher eine unzulässige Behinderung der Arbeit des Parlaments? Das waren nicht bloß theoretische, sondern sehr praktische Probleme, denn alle diese Erscheinungen hatten sich in der Volkskammer ereignet und auf sie musste sehr schnell adäquat reagiert werden.
Einzelnen Demonstranten, die sich ihr Recht auf freie Meinungsäußerung und politische Mitsprache gerade erst auf der Straße erkämpft hatten und dadurch auch hatten feststellen können, welche Möglichkeiten der Druck der Straße eröffnete, der ein ganzes Regime zu Fall gebracht hatte, musste es erscheinen, als würden sie schon wieder zu Zuschauern degradiert und würde erneut Politik über ihre Köpfe hinweg gemacht. Das waren sie nicht bereit hinzunehmen und betrachteten es weiterhin als ihr Recht, sich mit den bewährten Mitteln in die politische Diskussion einzumischen. Zumindest anfangs konnten sie auch auf die Sympathien eines Teils der Abgeordneten zählen. Gerd Poppe (Bündnis 90/Grüne) beispielsweise nahm die Protestierenden mit dem Hinweis in Schutz, dass „dieses Parlament“ durch die gewaltfreien Demonstrationen „ja erst zustande gekommen“ sei.
Eine kurze Szene während der Tagung am 13. September ist symptomatisch. Der Anlass war durchaus gravierend, denn er tangierte ein elementares Recht der parlamentarischen Öffentlichkeit: ihre Anwesenheit bei Plenarsitzungen. Die DSU hatte den Antrag gestellt, das Publikum für den Tagesordnungspunkt, der die Abwahl Innenminister Diestels behandeln sollte, von der Verhandlung auszuschließen. In dem daraufhin entstehenden Tumult auf der Zuschauertribüne rief einer der Besucher in den Saal: „Wir sind das Volk!“ Und bekam von unten aus dem Plenum prompt die Antwort: „Wir auch!“
Eine nachrevolutionäre Situation wie diejenige im Frühjahr 1990, als sich der Übergang vom Straßenprotest zur institutionalisierten parlamentarischen Demokratie vollzog, ist prädestiniert dafür, solche Abgrenzungsprobleme hervorzurufen. In der Volkskammer förderte unter anderem der Umgang mit Störern im Parlament allmählich das Entstehen einer Gruppenidentität und eines Selbstverständnisses als gewählte Repräsentanten. Die Entscheidung, wie viel Abgrenzung nötig und angemessen ist, fiel nicht immer leicht. Symbol für diese Trennung von Repräsentanten und Repräsentierten ist die Bannmeile. Auch wenn viele der Abgeordneten rückblickend betonten, dass sie nie existiert habe: Schon die 9. Volkskammer hatte im Herbst 1989 eine Bannmeilenregelung verabschiedet, die von der 10. Volkskammer übernommen wurde und bis Oktober 1990 in Kraft blieb. Ihre Umsetzung wurde zwar nicht konsequent betrieben, dennoch tagte die Volkskammer regelmäßig hinter Absperrungen und unter Polizeischutz, um einen reibungslosen und von äußeren Einflüssen und Druck ungefährdeten parlamentarischen Betrieb zu gewährleisten. Bei den Kritikern dieser Maßnahmen rief das Erinnerungen an überwunden geglaubte Zeiten wach. Das starke Polizeiaufgebot vor jeder Sitzung zeige, „daß die Regierung nicht das verwirkliche, was das Volk wolle, sonst müsse sie sich nicht vor ihm schützen“.
Unabhängig davon fremdelten einige der Abgeordneten generell mit dem Prinzip der Repräsentation. Wobei es je nach Fraktion starke Unterschiede gab. Vor allem bei Bündnis 90/Grüne, einem Zusammenschluss von Bürgerrechtsgruppen, aber auch bei der PDS waren diejenigen zu finden, die diesem Konzept skeptisch gegenüberstanden. Wolfgang Ullmann (Bündnis 90/Grüne) zum Beispiel sah im Februar 1990 in der SPD „ein Musterbeispiel für die Begrenzung einer Partei als politisches Willensbildungsinstrument.“ Stattdessen forderte er: „Bürger müssen das Recht auf basisdemokratische Vertretung haben. Parteien versagen an dieser Stelle. Das Parlament ist gut zur Lösung von Langzeitproblemen und für die Gesetzgebung. Bürgerkomitees können schneller reagieren, sind außerdem eine zusätzliche Informationsmöglichkeit für die Regierung.“ Seiner Ansicht nach durfte das politische Engagement der Menschen nicht mit der Wahl des neuen Parlaments bereits wieder enden.
Es waren aber nicht nur die Akteurinnen und Akteure aus der DDR-Oppositionsbewegung, die sich aufgrund eigener Erfahrungen für Elemente direkter Demokratie und stärkere politische Partizipation der Bürgerinnen und Bürger jenseits von Wahlen stark machten. Nicht wenige hatten Vorbehalte gegenüber politischen Parteien, ihren rigiden Strukturen und Hierarchien, zumal für sie der Begriff „Partei“ stark diskreditiert war, schließlich war er untrennbar mit der Einheitspartei SED und dem Blockparteien-System verknüpft.
Abgeordnete wie Ullmann hegten denn auch große Sympathien für die Arbeitsweise des Zentralen Runden Tisches, um den sich von Oktober 1989 bis Februar 1990 Vertreter des Regimes mit Bürgerrechtlern und Mitgliedern der Oppositionsgruppen, darunter auch er selbst, versammelt hatten, um über die Zukunft des Landes zu verhanden. Die dort praktizierte Art des Aushandelns politischer Fragen zwischen gleichberechtigten Partnern, nicht zwischen Parteien, moderiert von unparteiischen Vertretern der Kirche, begründete seinen Nimbus. Für manche blieb er das Ideal demokratischer Diskussion und Entscheidungsfindung, auch als er sich schon längst überlebt hatte. Die von Ullmann kritisierte SPD hingegen hielt von solchen Vorstellungen überhaupt nichts. Sie hatte sich ganz bewusst als Partei für ein zukünftiges repräsentatives parlamentarisches System konstituiert, nicht als „unverbindlicher Diskutierklub“.
3. Folgen für die parlamentarischen Praxis: „Fraktionszwang“ und „Parteiengezänk“
Auch in der 10. Volkskammer waren die Abgeordneten, bis auf den einzelnen Vertreter des Aktionsbündnisses Vereinigte Linke, in sieben Fraktionen organisiert. Allerdings legten viele von ihnen großen Wert auf die Feststellung, dass es keinen „Fraktionszwang“ gegeben habe. Die CDU/DA-Fraktion hatte sogar einen dementsprechenden Passus in ihre Geschäftsordnung aufgenommen. Eine freie Stimmabgabe, ohne Rücksicht auf die Richtungsentscheidungen der Gesamtfraktion, wurde nicht als unsolidarisch oder gar problematisch betrachtet, nicht als Verstoß gegen eine zwar lästige, aber unumgängliche Fraktionsdisziplin, ohne die eine verlässliche, nachvollziehbare Politik nicht möglich ist, sondern sie galt als per se positiv und genuin demokratisch. So meinte Jens Reich (Bündnis 90/Grüne) denn auch, man könne das uneinheitliche Abstimmungsverhalten seiner Fraktion als Politikunfähigkeit kritisieren, aber auch „als tapferen Beitrag dazu loben, daß Abgeordnete nach unseren Vorstellungen einer bürgernahen Demokratie zwar in Fraktionen arbeiten, aber fraktionsfrei abstimmen sollten“.
In der 10. Volkskammer erforderten die für alle neue Situation sowie der Umfang und die Komplexität der Aufgaben sicher ein hohes Maß an Kooperation und Hilfsbereitschaft über die Fraktionsgrenzen hinweg, und verglichen beispielsweise mit dem Bundestag war diese Kooperation auch stärker ausgeprägt. Aber auch hier war, entgegen der Wertschätzung, die die „freie“ Abstimmung genoss, Fraktionsdisziplin ein hohes Gut, insbesondere nachdem im Sommer die große Koalition mit ihrer, aus Sicht der Regierung, so beruhigenden Mehrheit von mehr als zwei Dritteln der Abgeordneten auseinandergebrochen war. Bis zu diesem Zeitpunkt war ein Ausscheren einzelner gut zu verkraften. Aber als es dann immer stärker darauf ankam, Mehrheiten zu organisieren, gab es auch in der Volkskammer vor wichtigen Entscheidungen Probeabstimmungen, wurden Abgeordnete herbeitelefoniert und mussten diejenigen, die von der Fraktionslinie abwichen, mit Sanktionen rechnen.
So entstand ein sehr klischeehaftes Gegensatzpaar: Den von Fraktionszwang und Parteivorgaben gegängelten Parlamentariern standen die lediglich an Sachfragen interessierten, „bürgernahen“ Abgeordneten gegenüber, die, ohne sich in „Parteiengezänk“ oder „Parteienegoismus“ zu verzetteln oder auf den nächsten Wahlkampf zu schielen, mit großer Konsensbereitschaft zum Wohl der Allgemeinheit arbeiteten.
Große Skepsis gegenüber einer konfrontativen Auseinandersetzung entlang von Parteilinien, dem Widerstreit von Interessen, dem institutionalisierten Austragen von Meinungsverschiedenheiten und dem Kampf um politische Mehrheiten war unter den Abgeordneten der Volkskammer weit verbreitet. So wünschte sich am 5. April nicht nur die frischgewählte Volkskammerpräsidentin, Sabine Bergmann-Pohl: „Über jeglichen Parteienegoismus hinweg muß es uns gelingen, durch eine kluge, von vielen getragene Politik wieder die Hoffnung in das Leben der Menschen zu geben.“ Auch Jürgen Schwarz (DSU) würdigte am 2. Oktober 1990 die Arbeit der vergangenen sechs Monate unter anderem so: „Hier [die Ausschüsse der Volkskammer, d. Verf.] wurde Parteienstreit und Parteiengezänk zurückgestellt, Schwätzer und Hohlreden hatten hier kaum Chancen.“
Schon 43 Jahre zuvor hatte sich der Alterspräsident des Brandenburger Landtags, Georg Schöpflin, ganz ähnlich angehört: „Sachliche Aussprache, sachlicher Kampf um Weltanschauung, um politische und wirtschaftliche Probleme. Aber, meine Damen und Herren: Nie wieder elendes Parteiengezänk in den Parlamenten.“ Und auch der Präsident der Provisorischen Volkskammer, Johannes Dieckmann, hatte im September 1950 genau diesen Punkt in seiner Bilanz hervorgehoben: „Wir sind und waren kein Parlament, das Phrasen drischt, zum Fenster hinaus redet und die Staatsbürger mit Parteiengezänk verwirrt.“ Die auffällige Einstimmigkeit bei Abstimmungen in der Provisorischen Volkskammer erklärte er mit der Pflicht, ein „vielfach noch verwirrtes Volk nicht erneut und weiter zu verwirren, sondern ihm ein Beispiel und Vorbild für die neue Gemeinschaft zu geben [...] Wo uns Meinungsunterschiede trennten, da haben wir sie in ehrlichem demokratischem Ringen miteinander im Block oder in Ausschusssitzungen des Parlaments ausgetragen, und am Ende solchen Ringens stand immer und in jedem Falle wieder die Einheit, die Gemeinschaft“.
Sachlichkeit, Einheit und Gemeinschaft, dafür stand diesen Aussagen zufolge die DDR, „Parteiengezänk“ verortete man in der Bundesrepublik – bereits Wilhelm Pieck hatte verkündet: „Diese Einmütigkeit der Parteien und Organisationen in der Ostzone hebt sich würdig ab von dem traurigen Bild, das der westdeutsche Bundestag und die westdeutsche Bundesregierung in dem häßlichen Widerstreit des Parteiegoismus der bürgerlichen Parteien und der Sozialdemokratie bieten.“
Anders als die Zitate vermuten lassen, war das kein Spezifikum der DDR, die Kritik am Parteienstreit gehört zum Traditionsbestand der Parlamentarismuskritik.
Fazit: Eine neue parlamentarische Kultur, zur Nachahmung empfohlen?
Viele Abgeordnete haben die 10. Volkskammer als einen Ort in Erinnerung behalten, an dem über Fraktionsgrenzen hinweg im Konsens und nur an Sachfragen orientiert Entscheidungen getroffen wurden, ohne Geschäftsordnung, Bannmeile und „Fraktionszwang“, an dem alle in freier Rede und so lange, wie sie wollten, ihre Argumente vorbrachten. Im Gedächtnis waren die Plätze im Plenarsaal immer besetzt und die Sitzungen dauerten regelmäßig bis tief in die Nacht. Das Ideal des Parlaments als Ort der Deliberation.
In einem kaum mehr aufzulösenden Konglomerat aus persönlichen Erfahrungen (vor allem der ersten Tage und Wochen, als noch alles sehr chaotisch verlief), kulturellen und historischen Prägungen, Wunsch- wie Idealvorstellungen hat sich auf diese Weise ein Narrativ über dieses Parlament gebildet, das in vielen Punkten nicht mit der Realität übereinstimmt, weil es einzelnen Phänomenen und Ereignissen im Gesamtzusammenhang zu viel Bedeutung beimisst, sie missinterpretiert oder falsch gewichtet, andere Dinge hingegen völlig vergisst, sodass in der Summe ein verzerrtes Bild entsteht. Dieses Narrativ erzählt von einem vermeintlich anderen und vor allem „besseren“ Parlament, das dem kalten, unnahbaren, professionellen Bonner, dem heutigen Berliner Betrieb eine frischere, spontanere, „kulturvollere“ und „menschlichere“ Variante entgegensetzte. Dieses Parlament hat es so nie gegeben.
Solche Vorstellungen wurden natürlich nicht von allen Abgeordneten und nicht immer in allen Punkten geteilt. Matthias Platzeck (Bündnis 90/Grüne) hat die Desillusionierung beschrieben, die manche befiel, als ihre Ideale mit der Realität kollidierten: „Wir treffen uns, diskutieren so lange, bis alle einig sind, und beschließen dann gemeinsam‘ – mit diesem Gestus hatten wir angefangen, doch damit war es jetzt vorbei. Plötzlich wurden Gesetzgebungsverfahren mühsam und bürokratisch in den Parlamentsausschüssen eingeleitet – das kannten wir so nicht.“
Dennoch sind diese Vorstellungen, zeitgenössisch wie retrospektiv, in den verblüffend übereinstimmenden Aussagen erstaunlich vieler damaliger Akteure zu finden. Und sie sind es, die bislang unser Bild von diesem Parlament bestimmt haben. Warum das so ist, dafür gibt es ein ganzes Bündel von Erklärungen.
Reinhard Höppner hatte recht mit seiner Behauptung, die 10. Volkskammer sei eine „Schule der Demokratie“ gewesen. Doch indem sie den Bundestag als Modell wählte, sahen sich ihre Abgeordneten mit einem bereits bestehenden System konfrontiert, mit dessen Funktionsweise sie sich erst vertraut machen mussten. Nichts war selbstverständlich, tatsächlich alles musste mehr oder weniger mühsam, in rasendem Tempo und unter denkbar ungünstigen Arbeitsbedingungen erlernt werden. Es ist zum Beispiel kein Zufall, dass es ausgerechnet der PDS größte Schwierigkeiten bereitete, mit der eigenen Oppositionsrolle klarzukommen. Nicht nur, weil sie als Nachfolgepartei der SED an ihrem radikalen Bedeutungsverlust schwer zu kauen hatte – sie verfügte nur über 66 Sitze –, sondern weil ihr die Bedeutung der Opposition als notwendiger institutionalisierter Bestandteil des parlamentarischen Systems und ihre Funktion in einer Demokratie, ihre Beschränkungen wie ihre Chancen, völlig fremd war.
Diese Lernsituation führte bisweilen zu einer eigenwilligen Auslegung der übernommenen Regeln und Verfahren, Eigenheiten schlichen sich ein und es wurden handwerkliche Fehler gemacht. Den Akteurinnen und Akteuren waren ihre Defizite durchaus bewusst, vor allem, weil die Öffentlichkeit durch die Liveberichterstattung im Fernsehen permanent daran teilnahm und zunehmend kritischer auf das Geschehen reagierte.
Das schlechte Image der 10. Volkskammer wurde im Laufe der sechs Monate zu einem echten Problem, weil es das Vorhaben zu konterkarieren drohte, als Vorreiterin für die Demokratisierung des Landes, wie die Volkskammerpräsidentin betont hatte, „Meinungsunterschiede [zu verdeutlichen] und Entscheidungsabläufe transparent [zu machen]“. Sie war zu diesem frühen Zeitpunkt noch sehr zuversichtlich gewesen, dass „aus unserem Parlament heraus gute Beispiele für die Demokratisierung unseres gesellschaftlichen Lebens insgesamt gegeben werden“. Stattdessen stand es bald in dem Ruf, eine Truppe von Laienschauspielern zu sein, die ihrer Aufgabe nicht wirklich gewachsen war. Direkt im Anschluss an die Auflösung der Volkskammer gingen die Abgeordneten dementsprechend scharf mit sich und der geleisteten Arbeit ins Gericht. Die großen Hoffnungen des Anfangs hatten einem Gefühl der Ohnmacht, ja des Getriebenseins Platz gemacht. Die Unzufriedenheit darüber, auf die Ereignisse immer nur reagiert, sie nie kontrolliert und selbst bestimmt, sondern lediglich das ausgeführt zu haben, was andernorts entschieden wurde, war unter ihnen weit verbreitet.
Die Schwierigkeit lag darin, dass die 10. Volkskammer sich gleich nach zwei Seiten hin hatte behaupten müssen: Zum einen in klarer Abgrenzung gegen die Art und Weise, wie jahrzehntelang in der DDR Politik betrieben wurde, als Ein-Parteien-Show der SED, manipulativ, im Verborgenen. Deshalb hatte sie einen so großen Wert auf Offenheit und Transparenz gelegt. Zum anderen aber auch, zumindest partiell – und das mag auf den ersten Blick irritieren – in Konkurrenz zum Deutschen Bundestag. Und zwar nicht, obwohl man sich an ihm orientierte, sondern vermutlich gerade weil man das tat.
Es war schlicht der Versuch, ein eigenes Profil zu entwickeln, trotz der offensichtlichen Defizite und Schwierigkeiten als das genuine Parlament der DDR-Bürgerinnen und -Bürger wahrgenommen zu werden und nicht einfach nur als eine dilettantisch ausgeführte Kopie des Bundestags mit begrenzter Haltbarkeit. Bei diesem Versuch wurde manches Negative unbewusst einfach uminterpretiert und mit zunehmendem Abstand immer wohlwollender betrachtet: So wurde aus Chaos Improvisationstalent, aus der Scheu vor offen ausgetragenen Konflikten eine Vorliebe für sachliche Diskussionskultur und Konsensbereitschaft, während irritierte Beobachter aus dem Westen vor allem die Unzulänglichkeiten wahrnahmen.
Die auffällige Konsensbereitschaft der 10. Volkskammer wurde dadurch zweifelsohne erleichtert, dass es noch keine klare Ausdifferenzierung der politischen Parteien gab, die allerorten erst im Aufbau steckten und dass eine fest umrissene Wählerschaft fehlte. Mancher Entschluss für eine bestimmte Partei zu kandidieren, war dem Zufall zu verdanken, trotz aller Unterschiede im Detail hatten die Abgeordneten ein gemeinsames Ziel. Die Bereitschaft zum Einvernehmen war aber auch Ergebnis der fehlenden Übung und Unsicherheit im Umgang miteinander.
Allerdings war das, was auf einmal als positive Abweichung von der Praxis des Bonner Modells gewertet wurde, gleichzeitig auch immer der Nachhall bestimmter kultureller und politischer Traditionen der DDR. Auch wenn die Abgeordneten fest davon überzeugt waren, mit dem alten Regime gebrochen zu haben, waren sie doch zutiefst geprägt von der politischen Kultur der DDR, viel stärker, als ihnen das wohl selbst bewusst war und als sie es vermutlich wahrhaben wollten.
Diese Unterschiede im politischen Verständnis verschwanden mit dem 3. Oktober nicht einfach. Sie waren das, was einem aus Westdeutschland stammenden Politiker wie Kurt Biedenkopf, von 1990 bis 2002 Ministerpräsident Sachsens, sofort auffiel: „Den [in der Landtagswahl am 14.10.1990, d. Verf.] neu gewählten Parlamentariern fällt es schwer, sich an Mehrheitsentscheidungen zu gewöhnen, auch in den Reihen der Mehrheit selbst. Bisher musste man sich um Konsens bemühen, denn für Mehrheiten am Runden Tisch gab es keine institutionellen Vorkehrungen. So beschwört man diese Praxis auch jetzt und lässt die Auffassung erkennen, dass Mehrheiten, die ohne Konsens entscheiden, im Grunde undemokratisch handeln und an die überwundene Vorherrschaft einer Partei erinnern.“ Die Frage ist, wie lange sich diese Unterschiede gehalten haben oder ob sie jemals ganz verschwunden sind.
Zitierweise: Bettina Tüffers, „Die 10. Volkskammer der DDR – Schule der (repräsentativen) Demokratie?", in: Deutschland Archiv, 25.09.2020, Link: www.bpb.de/315905.
Der Text ist ein Vorabdruck aus dem Band „Umbruch, Abbruch, Aufbruch“ - (Ost)Deutschlands Weg in die Zukunft seit 1989. 70 Studien und Essays zur Lage des Landes, herausgegeben von Ilko-Sascha Kowalczuk, der Robert-Havemann-Gesellschaft und dem Deutschland Archiv in der Schriftenreihe der Bundeszentrale für politische Bildung, der voraussichtlich zum Jahreswechsel 2020/21 erscheint.
Die Historikern Dr. Bettina Tüffers leitet den Forschungsschwerpunkt "Parlamente in der DDR" bei der Kommission für Geschichte des Parlamentarismus und der politischen Parteien in Berlin. Zum Thema schrieb sie: "Die 10. Volkskammer der DDR. Ein Parlament im Umbruch. Selbstwahrnehmung, Selbstparlamentarisierung, Selbstauflösung", Düsseldorf 2016.
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