Es gibt keine wirkliche Ostdebatte
Drei Denkanstöße zur Deutschen Einheit (Folge I)
Christian Bangel
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"Der Osten ist ein spät- bis postkapitalistisches Experimentierfeld", definiert der Publizist Christian Bangel, von dort her "könnten Anstöße zu einer Zukunft diesseits oder jenseits des Kapitalismus kommen". Thematisiert werden müsste stärker der "staatliche und gesellschaftliche Kontrollverlust" nach 1989, der bis heute gravierende Folgen habe: "30 Jahre nach der Wende", so Bangel, kämpfe "eine rechtsradikale Minderheit mit nicht so schlechten Aussichten dafür, den Grenzverlauf zwischen Demokratie und Autoritarismus zu verändern".
Ein Zeitsprung zehn Jahre zurück. Im Sommer 2011 – in jenem Deutschland zwischen Guttenberg- und Wulff-Affäre – wohnte ich eher aus Zufall einem Zusammentreffen junger Ostdeutscher an der Berliner Humboldt-Universität bei. Ein Wochenende lang trafen sich damals 130 junge Studierende, JournalistInnen, WissenschaftlerInnen, um sich darüber auszutauschen, was es bedeutet, ein Ossi zu sein.
Es war so etwas wie das Gründungstreffen der sogenannten Dritten Generation Ostdeutschland. Leider wird die Initiative noch heute nur wenigen ein Begriff sein, aber das Wochenende war gut. Es gab dutzende Vorträge, Panels und Podien, in denen die Anwesenden versuchten, eine Sprache für das damals noch Unausgesprochene zu finden: Dass auch wir, die zwischen 1975 und 1985 geborenen Ostdeutschen, viele übergesiedelt in den Westen, uns auf eine merkwürdige Art anders fühlten als westdeutsche Altersgenossen.
Dass es offenkundig nicht stimmte, dass "die Ossis" langsam ausstarben zugunsten einer neuen gesamtdeutschen Generation, sondern dass wir alle, obwohl nicht unbedingt gewollt, spezifisch ostdeutsche Erfahrungen gemacht hatten. Dass wir, seit wir erwachsen waren, einen Rucksack mit uns schleppten und nicht mal wussten, was da genau drin ist. Damals fühlte ich wohl etwas, das der westdeutsche Soziologe Heinz Bude einmal als typisch ostdeutsche Mischung aus Tragik und Stolz bezeichnete.
Ostdeutsche only?
Denkwürdig war das Treffen aber auch, weil die Organisatoren vorab eine ziemlich unerhörte Zugangsbedingung erlassen hatten: Es durften nur Ostdeutsche teilnehmen. Man musste auf der Anmeldekarte bestätigen, dass man aus dem Osten kam. Ich erinnere mich, dass das westdeutsche Kollegen von mir damals furchtbar aufregte. Hätte es das Wort Identitätspolitik schon gegeben, sie hätten es benutzt. Und nicht freundlich.
Ich fand die Beschränkung damals richtig. Es war nämlich zu dieser Zeit nahezu unmöglich, ein Gespräch über den Osten zu führen, ohne dass an irgendeiner Stelle jemand, meist ein Westdeutscher, behauptete, dass es Ostdeutsche doch gar nicht mehr gäbe. Und darum drehte sich praktisch jede Debatte bis zur Erschöpfung. Dabei wurden schon damals die Fragen lauter, was vom Osten übrig geblieben war, was hätte übrig bleiben sollen und welche Formen das tatsächlich Übriggebliebene noch annehmen würde. Doch es gab keine Ostdebatten, die über die schiere Existenzfrage hinausgingen. Dezidierte Oststandpunkte galten als etwas Rückständiges, wenn nicht Revisionistisches. Übrigens auch unter vielen Ostdeutschen. Und die Westdeutschen erwarteten vor allem erst mal Dankbarkeit.
Das ist heute, knapp zehn Jahre später, völlig anders. Allerspätestens seit den drei Landtagswahlen im Osten 2019 und dem Kemmerich-Dammbruch in Erfurt, eigentlich aber schon seit dem Aufkommen von Pegida, ist etwas eingetreten, mit dem man 2011 nicht rechnen konnte: Viele Westdeutsche sind demütiger geworden. Sogar prominente Politiker reisen durch Ostkleinstädte und bedauern öffentlich, dass sie sich nie wirklich für den Osten interessiert haben. Viele wollen scheinbar ernsthaft verstehen, was falsch lief im Osten und welche Schuld der Westen daran trägt.
Wachsende Demut im Westen und eine neue Relevanz des Ostens?
Nicht aus verspätetem Mitgefühl für die Ostdeutschen und auch sicher nicht, weil ostdeutsche Intellektuelle so wirkmächtig argumentiert hätten. Nein, es hat sich eher die Erkenntnis durchgesetzt, wie relevant der Osten ist. Aus vielen Gründen – etwa die historische Massenabwanderung und Überalterung, aber auch die Frage, was mit dieser Art entleerten Räumen geschehen könnte – nimmt der Osten Prozesse vorweg, die dem Westen vielleicht noch bevorstehen. Besonders bedeutend aber ist das Politische.
Im Osten kämpfen Nationalautoritäre und liberale Demokraten so verbissen miteinander wie sonst nirgends in Deutschland. Im Osten lebt das autoritäre Element wie in vielen postkommunistischen Gesellschaften fort, er ist Aufmarschgebiet und Kraftzentrum der Neuen Rechten. Aber er beherbergt auch die globalen Hipstermagneten Leipzig und Berlin, und besonders in den Universitätsstädten haben sich urbane, akademische, politisch aktive Milieus gebildet, die wenig mit den Bürgerrechtlerkreisen von damals zu tun haben, die der Soziologe Andreas Reckwitz aber sicher der so wirkmächtigen „neuen Mittelschicht“ zuordnen würde und die sich über alle Parteien mit Ausnahme der AfD verteilen. Auch wenn sie dort nicht immer die Mehrheit sind, haben sie schon wichtige Positionen besetzt. Junge ostdeutsche Politikerinnen und Politiker wie Marco Wanderwitz, René Wilke, Thomas Zenker, Katharina Zacharias, Lilly Blaudszun, aber auch Journalistinnen und Unternehmer und viele andere Akteure sind gerade dabei, den Ton im Osten zu verändern.
Ja, es ist schlecht, dass dieses westdeutsche Verstehenwollen erst geschah, als der Osten von einem Rechtsruck erfasst wurde. Zumal dieses Verständnis mitunter so weit geht, dass der Verweis auf ostdeutsche Befindlichkeiten, Lebensleistungen und Wut zum validen Argument für alles Mögliche bis hin zur rechtsextremen Verschwörungstheorie gemacht wird. Oft genug ist das westdeutsche Verstehenwollen nur ein politisches Verwertungsmodell, vor allem dann, wenn es die von westdeutschen Rechtsradikalen geführte AfD nutzt, um sich mit einem Slogan wie „Vollende die Wende“ als Mehrheitsvertreterin zu inszenieren. Und doch sind heute Räume offen, die es vor Jahren noch nicht waren. Nur, was macht man jetzt mit ihnen?
Der Osten ist schon immer viel zu groß und divers gewesen, um die eine große gesellschaftliche Debatte zu führen, die sich viele BürgerrechtlerInnen gerade wieder wünschen. Dieser Wunsch nach einer „Generalaussprache“ aus dem Lehrbuch des Sechziger-Jahre-Intellektuellen übersieht zudem, dass es für diese Diskussion eine Grundlage geben muss. Dass es aber mittlerweile Kräfte gibt, die Debatten für nichts anderes nutzen wollen, als sie abzuschaffen.
Das fängt schon bei manchen der BürgerrechtlerInnen selbst an. Worüber sollten Leute wie Joachim Gauck, Klaus Wolfram und Vera Lengsfeld miteinander diskutieren? Der eine schwelgt gern in Erinnerungen an den aus seiner Sicht gewonnenen Freiheitskampf, dem anderen ist noch immer die Verachtung anzusehen, mit dem er auf die Ostdeutschen schaut, die die Revolution zugunsten Helmut Kohls wegwählten, und die dritte versucht sich heute als Kämpferin für ein weißes, christliches Deutschland.
Debattendefizite
Es gibt keine wirkliche Ostdebatte, auch wenn sich manche als solche tarnen. In den letzten Monaten wurde von vielen Zeitzeugen der Revolution die Frage debattiert, ob die Bürgerrechtler oder die breite Masse die Wende gemacht haben. Die Frage wird von eigentlich allen ungefähr gleich beantwortet (beide), aber als argumentatives Sprungbrett genutzt, um andere damals Beteiligte anzugreifen, weil sie entweder damals nur „hinter der Gardine“ standen oder sich vom Westmainstream haben korrumpieren lassen oder beides. Was bleibt, ist: Die Relevanz des Ostens und die Qualität seiner Debatten fallen auf groteske Art auseinander.
Und das eigentlich schon seit der Wiedervereinigung. Was im vereinten Deutschland an Ostimpulsen ankam und zu Diskussionen führte, waren keine Beiträge von Intellektuellen und Bürgerrechtlerinnen. Es war eher die harte politische und gesellschaftliche Realität des Ostens: Die furchteinflößenden rechten Randale, die Terrorzellen, Wahlergebnisse und die rassistische Mobilisierung bis weit in die sogenannte Mitte hinein, aber auch die Abwanderung und Massenarbeitslosigkeit, wenn auch mit bemitleidendem oder gar genervtem Schulterzucken.
Warum aber drangen die Ostdeutschen mit ihren Anstößen kaum einmal durch? Man kann das auf die westdeutsch dominierte Medienlandschaft schieben, wie es Klaus Wolfram tut. Man kann auch sagen, dass viele im Westen einfach kein Interesse daran hatten, auf Wolfgang Thierses Mahnen oder Frank Castorfs Wüten weiter einzugehen. Es spricht aber auch einiges dafür, dass viele Anstöße aus dem Osten, nun, einfach nicht funktionierten. Weil ihnen in den Ohren der westdeutschen Empfänger die Relevanz fehlte und es die ostdeutschen Sender auch nie schafften, dieses Gefühl von Relevanz zu erzeugen.
Der alte ostdeutsche Arbeiterstolz, den etwa Klaus Wolfram beweint: Ja, er ist versunken. Die Arbeiter sind nicht mehr die heimlichen Herren der Betriebe. Die gemeinsame Verfassung, zu der es laut Grundgesetz hätte kommen müssen: sie kam nicht. Stattdessen wurde der DDR ein politisches System übergestülpt und das Volkseigentum unter teilweise zwielichtigen Umständen verscherbelt. Und das mit immensen sozialen, politischen und ökonomischen Folgekosten, die teils bis heute wirken.
Das ist ein Teil der Wahrheit, zu der aber auch gehört, dass die Ostdeutschen selbst diese Prozesse in Wahlen in Gang setzten und legitimierten. Nach 30 Jahren sollten wir vielleicht einmal feststellen: Wir werden den Westen nicht mit noch so emotionalen Appellen dazu bringen, uns Entschädigung für die Wiedervereinigung zu zahlen.
Vielleicht sollten wir Ostdeutsche stattdessen versuchen, stärker von außen auf den Osten zu schauen. Denn neben der Tragik, die die Wiedervereinigung im Leben vieler Ostdeutscher bedeutete, wären da auch noch zwei weitere Faktoren zu beachten. Erstens streben viele Ostdeutsche den Wahlergebnissen und Umfragen nach gar nicht nach einem grundsätzlich anderen Land, sondern sind insbesondere persönlich und materiell recht zufrieden. Ein guter Teil der Ostdeutschen mag sich nicht einmal mehr selbst als Ostdeutsche bezeichnen lassen.
Der Reiz des Autoritären
Zweitens ist der Osten heute weniger in ökonomischer, denn in akuter politischer Gefahr. 30 Jahre nach der Wende kämpft eine rechtsradikale Minderheit mit nicht so schlechten Aussichten dafür, den Grenzverlauf zwischen Demokratie und Autoritarismus zu verändern. Sie möchte die Demokratie als Mehrheitsdiktatur und nicht als Minderheitenschutz. Sie möchte einen Osten, der dem Ungarn Viktor Orbáns ähnelt und von dort aus ganz Deutschland verändern. Sie hat nicht nur unter den Ostdeutschen viele Anhänger, sondern auch im deutschen und überall im globalen Westen Verbündete.
Ich bekomme es inzwischen manchmal mit der Angst zu tun, wenn manche ostdeutsche Intellektuelle andeuten, dass sie Demokratie in einem nicht westdeutschen, sondern eher ursprünglichen Sinne verstünden. Für manche dieser Demokratieavantgardisten ist die rechte Revolte im Osten bis heute nichts als eine Nebenwirkung des Kahlschlags nach der Wende. Manchen scheint die Angst, die der Rechtsruck dem Westen vor den Ostdeutschen eingejagt hat, klammheimliche Freude zu bereiten, beweist sie doch die politische Potenz des Ostens. Und einige, deren Kompass gar nicht mehr funktioniert, stehen der Neuen Rechten mit unverhohlener Sympathie gegenüber.
Ich kenne gleichzeitig kaum einen ostdeutschen Großdenker, der in den 1990er Jahren, zu jener Zeit, die ich Baseballschlägerjahre nenne, nicht „hinter den Gardinen“ stand. Damals, als Nazischläger die Straßen dominierten und die intelligenteren unter ihnen am Konzept der National Befreiten Zone arbeiteten. Viel zu selten einmal hat sich einer dieser Operndirektoren oder Schriftsteller gemeldet, als People of Color, alternativ aussehende Jugendliche meines Alters, Obdachlose und viele andere in der ostdeutschen Provinz den Bordstein fressen mussten.
Der Osten als rechtes Aufmarschgebiet ?
Die gewalttätigen Nazis haben seit diesen Jahren keine größeren Geländeverluste im Osten erlitten. Im Gegenteil, in seinen ländlichen Räumen kann man Anfänge jener Wehrdörfer sehen, von denen Björn Höcke träumt. Oh nein, der Osten trägt nicht allein die Schuld. Es ist bekannt, wie viele westdeutsche Rechtsradikale sich nach 1990 in den Osten aufmachten, um neues Gebiet zu erobern. Aber das ändert nichts daran, dass unsere Heimat ein Aufmarschgebiet der Rechten ist.
In dem von Wilhelm Heitmeyer jüngst beschriebenen rechten Eskalationskontinuum spielen die Neonazis, Prepper und rechten Intellektuellen des Ostens eine feste Rolle. Es gibt im Westen nur wenige Orte, in denen die Rechtsextremen die Macht besitzen, linke Veranstaltungen zu verhindern. In denen Bürgermeister sich vor ihnen zurückziehen oder Neurechte Kulturamtsleiter werden. Diese Orte liegen alle im Osten.
Vielleicht brauchen die Ostdebatten also einen neuen Fluchtpunkt, um neue Relevanz und Erkenntnisse zu erzeugen. Vielleicht müsste begonnen werden, nicht nur die angeblich gestohlene Revolution von 1989/90 als ihren Ausgangspunkt zu sehen, sondern auch jenen staatlichen und gesellschaftlichen Kontrollverlust, der danach einsetzte. Ja, der ökonomische Umbruch der Nachwendezeit, das Außerkraftsetzen gewachsener sozialer Zusammenhänge, ist ein Teil der Erklärung dafür. Aber wer sich heute die Gewalt-, Hass- und Rassismus-Exzesse besonders der Neunziger anschaut, der kann nicht guten Gewissens die Erklärung „Perspektivlosigkeit“ akzeptieren.
Es gibt eine Generation damaliger rechter Jugendlicher – sie sind heute um die 40 bis 50 und machen die Kernwählerschaft der AfD aus –, deren erste und wichtigste Erfahrung mit dem demokratischen Deutschland lautete: Wenn wir nur brutal und entschlossen auftreten, gibt der Staat nach. Vieles spricht dafür, dass sie so bis heute denken und handeln.
Diese Männer und Frauen schrien damals: "Die Ausländer werden uns die Wohnungen und die Jobs nehmen". Stattdessen war es bald darauf so leer in ihren Regionen, dass halbe Städte zurückgebaut wurden, kulturelle und soziale Infrastruktur verschwand. Weil niemand mehr in diesen Osten wollte. Nicht nur die Treuhand, sondern auch Hass, Gewalt, Rassismus und das Wegschauen der Mehrheitsgesellschaft haben dem Osten massiv geschadet. Auch das ist ein Wirkzusammenhang der Nachwendezeit. Der aber längst nicht so populär ist wie das Reden von der gestohlenen Revolution.
Die Hunderten Toten und Tausenden Verletzten und Traumatisierten, die der Rechtsextremismus forderte, sollten einen zu der Frage veranlassen: Was steckt hinter der ostdeutschen Gewalt- und Hassgeschichte? Wie können wir verhindern, dass sich so etwas je wiederholt? Denn eines ist ja ebenso offenkundig: Der Rechtsradikalismus ist nicht nur dort stark, wo es wirtschaftlich bergab geht. Er boomt auch in den Musterländern. Die Antwort auf die Frage, wo das genau herkommt, kann sich jedenfalls nicht auf ewig in dem Verweis auf die Wendeerfahrung erschöpfen.
Zumal der autoritäre Nationalismus, auf den das alles hinausläuft, ja auch in den östlichen Nachbarländern trendet. Es muss etwas geben, das den Osten Europas vom Westen trennt, und angesichts dieser Wahrnehmung sollten nicht nur Historiker wie Interner Link: Philipp Ther eine stärkere Stimme bekommen, sondern auch jene Menschen, die in den bisher stattfindenden, vornehmlich weißen Ost-Debatten so gut wie nicht gehört werden: Menschen mit Migrationshintergrund. People of color, die vor oder nach 1989 in den Osten kamen oder in der DDR aufwuchsen. Von ihnen müssten die weißen Ostdeutschen erfahren, wie es war und ist, unter ihnen zu leben. Doch für ihr Schicksal interessiert sich kaum einer jener Ostintellektuellen, die immer so sehr fürs Ohrenaufsperren plädieren, wenn es um Pegida oder ähnliches geht.
Das Sprechen über den Osten, das wir Ostdeutschen seit Jahrzehnten wünschen und zu dem es jetzt langsam zu kommen scheint, muss weitergehen. Doch auch wenn es zunehmend wichtiger wird, was im Osten geschieht: Die ostdeutschen Akteure, die jetzt sprechen, müssen aufpassen, weiterhin oder überhaupt wahrgenommen zu werden. Denn das Publikum, an das sich sämtliche Debatten richten, bleibt ein gesamtdeutsches. Dessen Relevanzkriterien müssen erfüllt werden, nicht die einer seit langem verbündeten oder verfeindeten Szene von Wendeakteuren.
Dort, in der gesamtdeutschen Öffentlichkeit, wird beispielsweise gerade die Frage verhandelt, wie weit der Rassismus die Gesellschaft prägt, und woran es liegt, dass Menschen, die von der weißen, westdeutschen, männlichen Norm abweichen, so wenig repräsentiert sind. Es wird darüber gesprochen, welche Zukunft der Kapitalismus noch hat in Anbetracht der Tatsache, dass er in seiner übersteuerten Form ganze Gesellschaften polarisiert hat in Gewinner und Verlierer. Wie (und ob!) der Kapitalismus den Klimawandel aufhalten kann.
All das sind Fragen, zu denen Ostdeutsche jede Menge beisteuern könnten. Der Osten ist ein spät- bis postkapitalistisches Experimentierfeld, in seiner gesellschaftlichen Mitte fehlt die Fixierung auf Marktwirtschaft und Gewinn, die den Westen prägt. Von hier könnten Anstöße zu einer Zukunft diesseits oder jenseits des Kapitalismus kommen. Und natürlich bleibt weiter die große Aufgabe, den Skandal ostdeutscher Unterrepräsentation in den gesamtdeutschen Institutionen und Machtstrukturen anzuprangern.
Dazu müssten die Sprecherinnen und Sprecher des Ostens allerdings beginnen, sich für den Rest der Gesellschaft zu öffnen und mit ihm zu reden. Vorbehaltlos und langsam auch wieder mit etwas dickerem Fell. Was vor zehn Jahren noch nötig war, nämlich die diskursive Absonderung von den Westdeutschen, ist heute nicht mehr die entscheidende Voraussetzung, um als Ostdeutsche hörbar zu werden. Wenn Ostdebatten sich aber weiterhin darin erschöpfen, über historische Ungerechtigkeiten zu räsonieren, dann droht dem Gespräch über den Osten irgendwann ein biologisches Ende.
Zitierweise: Christian Bangel, „Es gibt keine wirkliche Ostdebatte", in: Deutschland Archiv, 25.09.2020, Link: www.bpb.de/315904. Der Text ist dem Band entnommen „(Ost)Deutschlands Weg. 80 Studien & Essays zur Lage des Landes", herausgegeben von Ilko-Sascha Kowalczuk, Frank Ebert und Holger Kulick in der Schriftenreihe der Bundeszentrale für politische Bildung, der seit 1. Juli 2021 im Interner Link: bpb-shop erhältlich ist. Hier mehr über das Buch "Interner Link: (Ost)Deutschlands Weg", produziert von der Redaktion Deutschland Archiv der bpb.
Ergänzend zum Thema:
- Interner Link: "Die. Wir. Ossi.Wessi". Von Antonie Rietzschel, sie ist Leipzig-Korrespondentin der Süddeutschen Zeitung, Deutschland Archiv 2.10.2020.
- Interner Link: "Wie man zum Ossi wird". Von Johannes Nichelmann. Der Journalist ist Autor des Buches "Nachwendekinder", Deutschland Archiv 2.10.2020..
Christian Bangel, geboren 1979 in Frankfurt (Oder), Journalist bei Zeit Online und Buchautor, lebt und arbeitet in Berlin
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