Im Jahr 1996 übertrug der Soziologe Hans Bertram das abschließende Urteil über die ostdeutsche Transformation an künftige Historikerinnen und Historiker: „Daher ist es gegenwärtig noch nicht möglich, zu den Entwicklungen in den einzelnen Teilbereichen ein endgültiges und abschließendes Urteil zu fällen. Dies wird mit Sicherheit eine Aufgabe der Historiker in 40 oder 50 Jahren sein.“
Vielmehr sind es erste Pfade, deren leitende Fragen interessanterweise – d.h. trotz der größeren zeitlichen Distanz zum historischen Ereignis – der sozialwissenschaftlichen Forschung vom Anfang der 1990er Jahre teilweise ähneln. So formulierte etwa der im Jahr 2014 verstorbene Soziologe M. Rainer Lepsius 1991: „Wir haben in den Ländern der ehemaligen DDR eine einzigartige experimentelle Situation, in der das gesamte Institutionen- und Rechtssystem schlagartig ausgetauscht wird, aber die Mentalitäten, die eingeübten Verhaltensweisen und die subjektiven Befindlichkeiten zunächst weiterbestehen.“
Dieser 1991 formulierten sozialwissenschaftlichen Frage ähnelt das Erkenntnisinteresse der Forschungsgruppe „Die lange Geschichte der ,Wende‘“
In die Bewertung des Umbruchs von 1989/90 spielen ostdeutsche Erfahrungen mit und das Wissen aus dem alten System sowie aus der konkreten Umbruchsituation gleichermaßen hinein. Wie bereiteten Ostdeutsche den Systemwechsel vor und gestalteten ihn mit? Wie bewältigten sie ihn in ihrem Alltag? Wie haben sie ihn erfahren und wie erin¬nern sie sich daran? Am besten lassen sich diese Fragen an Alltagsthemen untersuchen, etwa beim Konsum, der Schule oder dem Wohnen; also in diesen, aber auch in anderen alltäglichen Lebensbereichen, die durch den Umbruch von 1989 und der folgenden Übernahme der westdeutschen Institutionenordnung stark beeinflusst wurden und somit potenziell alle Ostdeutschen betrafen. Diese doppelte Ebene von Systemwechsel und Lebenswelt charakterisiert den zeitgenössischen Begriff der „Wende“.
Einerseits scheint der „Wende“-Begriff für viele Ostdeutsche den fundamentalen Wandel des Herbstes 1989 gut einzufangen. Andererseits wird er Egon Krenz und damit den alten politischen Eliten zugeschrieben.
Will man also die Spannungen und Dynamiken ostdeutscher Lebenswelten im Umbruch verstehen, so kann die Analyse nicht erst 1989 einsetzen. Es lohnt sich einen Kernzeitraum von der Mitte der 1970er Jahre bis zum Anfang der 2000er Jahre zu untersuchen, aber je nach Thema auch in beiden zeitlichen Richtungen darüber hinauszugehen. Außerdem bietet sich als Untersuchungsraum für Mikrostudien eine Verbindung von Dörfern, stadtnahen Gemeinden und Städten an, um eine soziale und räumliche Vielfalt zu erreichen. Ostdeutschland bietet einerseits exzellente Ausgangsbedingungen für die empirische Untersuchung einer Gesellschaft im Übergang vom Sozialismus zum Postsozialismus. Im Prinzip ist Ostdeutschland ein Fallbeispiel dafür, wie ein bestimmter Raum sowie seine Bewohner und Bewohnerinnen einen umfassenden Systemwechsel erlebten.
Dieser ließe sich in verschiedensten Ländern und Epochen beobachten und nach Gemeinsamkeiten und Unterschieden befragen. Andererseits handelt es sich um einen Untersuchungsraum, der in den Forschungen zu ostmitteleuropäischen Gesellschaften zu einer Art Außenseiter geworden ist. Er nimmt quasi eine Sandwich-Position ein, weil er – plakativ gesprochen – vom „Westen“ nicht als westlich und vom „Osten“ nicht als östlich anerkannt wird. Besonders an Ostdeutschland ist außerdem, dass es hervorragende Archivquellen für die Zeit der DDR gibt. Auch die 1990er Jahre können gut untersucht werden, denn es existiert eine Vielzahl von Quellen aus der sozialwissenschaftlichen Transformationsforschung, die Ostdeutschland seit 1990 mit großer Neugier in den Blick nahm und eine große Menge an Daten und Wissen produzierte.
Die zeithistorischen Studien zur „langen Geschichte der ,Wende‘“, die hier anhand von drei Themen (Konsum, Schule und Wohnen beziehungsweise Wohneigentum) beispielhaft vorgestellt werden, basieren ebenfalls auf einer Vielfalt von Quellen: Es wurden sowohl qualitativ-narrative Interviews als auch quantitative Erhebungen aus der sozialwissenschaftlichen Forschung der 1990er Jahre erneut ausgewertet. Zusätzlich wurden ausführliche Oral-History-Interviews geführt und eine Vielzahl von Akten aus Archiven herangezogen.
Drei Fallstudien
Hier könen Sie den Beitrag von Kerstin Brückweh zum ersten Fallbeispiel
Und hier können Sie den Beitrag von Kathrin Zöller zum zweiten Fallbeispiel
Den Beitrag von Clemens Villinger zum dritten Fallbeispiel
Allgemeine Tendenzen: Einige Ergebnisse der Forschungsgruppe zum Ausblick
Die alltagsgeschichtliche Erforschung der langen Geschichte der „Wende“ hat am Beispiel der Themen Konsum, Schule und Wohnen beziehungsweise Wohneigentum vier Hauptergebnisse hervorgebracht, die als Zusammenhang betrachtet werden müssen:
1. Vielfach ist im alltäglichen Handeln ein Fortwirken von Ideen, Tugenden und Mentalitäten zu beobachten, die teilweise bis ins 19. Jahrhundert zurückverfolgt werden können. So unterscheiden sich Ost- und Westdeutsche bei Vorstellungen von Eigentum, Leistung oder Sparsamkeit nur wenig. Es sind einerseits die verschiedenen politischen Systeme des 20. Jahrhunderts, aber auch allgemeine Prozesse (Deindustrialisierung, Verstädterung usw.), die Fakten geschaffen und Anpassungen der Mentalitäten an die äußeren Rahmenbedingungen notwendig gemacht haben. Daraus sind ebenso Spannungsverhältnisse entstanden wie aus den
2. Die Wucht und Geschwindigkeit der Ereignisse in der Kernzeit des Umbruchs, in der das alte System abgelöst und durch ein neues ersetzt wurde – also von der Friedlichen Revolution im Herbst 1989 bis zum formalen Beitritt zur Bundesrepublik nach Artikel 23 des Grundgesetzes am 3. Oktober 1990 – , lässt sich als Gleichzeitigkeit der Unsicherheiten charakterisieren: Es änderten sich alle lebensweltlichen Bereiche gleichzeitig, das verlangte große Flexibilität und ist gravierender als Veränderungen in nur einem Bereich, etwa der Arbeitswelt. Diese Gleichzeitigkeit der Unsicherheiten begleitete Ostdeutsche noch weit in die 1990er-Jahre hinein. Zu berücksichtigen ist zudem, dass je nach Alter diese Veränderungen zusätzlich zu allgemeinen Veränderungen des Menschen, wie z.B. der Adoleszenz beim Thema Schule, verarbeitet werden mussten. Das scheint manchmal banal, aber starke Emotionen prägten diese Zeit: von Euphorie und Hoffnung bis zu Angst und Erschöpfung. Dieses Ergebnis ist nicht neu, aber gerät manchmal in Vergessenheit – und zwar von den Betroffenen selbst, wenn sie sich an diese Zeit und das, was sie selbst in Zeit geleistet haben, erinnern, und auch von anderen, die zur Relativierung den Strukturwandel im Ruhrgebiet anführen, dabei aber vergessen, dass es hier nicht gleichzeitig auch eine komplette Veränderung des politischen, rechtlichen und wirtschaftlichen Systems gab. Diese Gleichzeitigkeit der Unsicherheiten anzuerkennen, ist wichtig für die Bewertung der Transformationszeit aus der Perspektive der Betroffenen; manchmal sogar wichtiger als das materielle Ergebnis der Entscheidungen.
3. Ostdeutsche entwickelten in den 1990er Jahren ein spezifisches Umbruchwissen, das an andere Bezeichnungen anschließt. So wurde Ostdeutschen eine „Umbruchkompetenz“
4. Erfolge und positive Geschichten werden in den von der Forschungsgruppe gehobenen und ausgewerteten Quellen zur langen Geschichte der „Wende“ heute selten erinnert und sie werden selten beim öffentlichen Sprechen artikuliert, dafür aber in den eher privaten Gesprächssituationen erwähnt. Es gibt verschiedene Rahmen, in denen teilweise ein- und dieselbe Person eine Begebenheit unterschiedlich erzählt. Außerdem gibt es ein Auseinanderfallen von Erwartungen vor 1989 und in der Kernzeit des Umbruchs von 1989/90 mit den Erfahrungen der 1990er und den Erinnerungen von heute. In gewisser Weise sind die verschiedenen Erzählungen und auch die Veränderungen der Erinnerungen immer anzutreffen, aber bei diesem Thema zeigt sich eine besonders große Differenz. Dies zeigt sich etwa im Unterschied zwischen der Erfahrung der Schulzeit im Umbruch und der späteren Erinnerung daran. So wurde die Schule der DDR im Jahr 1990 von den damaligen Schülerinnen und Schülern als besonders schlecht bewertet und erfuhr im Verlauf der Zeit eine deutliche Aufwertung.
Von einem abschließenden Urteil zur Transformationsgeschichte sind Zeithistorikerinnen und -historiker derzeit noch weit entfernt. Der Soziologe Hans Bertram erwartet ein solches – wie eingangs erwähnt – auch erst in eineinhalb Jahrzehnten von uns. Die differenzierte Betrachtung der Alltags- und Gesellschaftsgeschichte bringt aber schon jetzt ein vielfältiges Geflecht von Erwartungen, Erfahrungen und Erinnerungen mit vielen generationellen und räumlichen Unterschieden ebenso hervor wie übergreifende Tendenzen. Als Arbeitsmaxime lässt sich festhalten, dass der Blick jenseits der lauten Stimmen hilfreich ist, um ein möglichst umfassendes Bild der (ost)deutschen Gesellschaft zu erhalten.
Zitierweise: Kerstin Brückweh, "Die lange Geschichte der „Wende“ - Lebenswelt und Systemwechsel in Ostdeutschland vor, während und nach 1989", in: Deutschland Archiv, 08.09.2020, Link: www.bpb.de/314982
Zu diesem Forschungspojekt ist ein Buch im Ch.Links-Verlag erschienen: Externer Link: Kerstin Brückweh, Clems Villinger, Kathrin Zöller (Hg.), Die lange Geschichte der "Wende". Geschichtswissenschaft im Dialog, Berlin August 2020