Homosexuelle in DDR-Volksarmee und Staatssicherheit
Die Überwachungsvorgänge „Anus“, „Liebhaber“, „Schwuler“ und „Verräter“ des MfS
Klaus Storkmann
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Eine Auswertung von Stasiakten über die Überwachung homosexuell orientierter Soldaten, Unteroffiziere und Offiziere in der Nationalen Volksarmee NVA und in den eigenen Reihen des DDR-Ministeriums für Staatssicherheit (MfS), das Verdachtsfälle mit großem Aufwand überwachen ließ. Eine Recherche von Klaus Storkmann aus dem Zentrum für Militärgeschichte und Sozialwissenschaften der Bundeswehr in Potsdam.
Kapitel I: Der Umgang der NVA mit Homosexuellen in den eigenen Reihen
Geheimdienste aller Staaten hegten lange Zeit tiefes Misstrauen gegen Homosexuelle. Ihnen wurde ein Hang zu Seilschaften und Verrat bis hin zum Hoch- und Landesverrat unterstellt. Tatsächliche Skandale schienen den Vorwurf zu bestätigen und gaben ihm neue Nahrung. Das homophobe Stereotyp war keine Besonderheit deutscher Geschichte, auch keine nationalsozialistische, kommunistische oder westliche, sondern verlief „quer zu Systemgrenzen, Staaten und Gesellschaftsordnungen“. Auch während des Kalten Krieges vermischten sich erneut Stereotype mit realen Skandalen, beispielsweise im Fall der später als Cambridge Five bekannt gewordenen sowjetischen Agenten im britischen Geheimdienst.
Spionagefälle einzelner Homo- oder Bisexueller wurden von der Presse, von Regierungen und Geheimdiensten als „Spitze eines gewaltigen, aber unsichtbaren Eisberges einer viel größeren homosexuellen Verschwörung“ gedeutet. Ein solcher Vorgang findet sich auch in den überlieferten Unterlagen des Ministeriums für Staatssicherheit. Bei Verdacht auf homo- oder bisexuelle Orientierung eines Offiziers, aber auch bei Unteroffizieren und vereinzelt auch Mannschaften in sicherheitsrelevanten Funktionen in den eigenen Reihen, in der Nationalen Volksarmee und den (de jure davon getrennten) Grenztruppen der DDR, leitete das MfS in der Regel Überwachungsmaßnahmen ein.
„Kein Thema“
Trotz der Abschaffung des alten Paragraphen 175 schon 1968 herrschte unter Homosexuellen DDR-Bürgern eine große Vorsicht – „so, als ob es eben noch ein Vergehen wäre, das justiziabel [sei]“ . Ein damals Betroffener schätzt rückblickend ein, „die Menschen [in der DDR] konnten einfach nicht damit umgehen, weil Homosexualität in der Gesellschaft totgeschwiegen wurde“. Dies galt für die Streitkräfte in noch stärkerem Maße. Ein im letzten Dienstgrad Oberfähnrich in der Volksmarine Gedienter brachte seine Erinnerung in diese Studie ein: Schwul sein sei in der DDR schon im zivilen Leben „ein absolutes No-Go“ gewesen, von der Armee ganz zu schweigen. „Ich hätte selbst im Traum nicht daran gedacht, es je einem zu er-zählen.“ Das Bekanntwerden im Dienst hätte zum Abbruch der Laufbahn geführt.
Die beruflichen, persönlichen und gesellschaftlichen Folgen wären unabsehbar und unkalkulierbar gewesen. Selbst für Grundwehrdienstleistende sei das Bekanntwerden ihrer homosexuellen Orientierung „schlichtweg gefährlich“ gewesen. Fast alle befragten früheren NVA-Offiziere sagten rückblickend, sie könnten sich an keinen Fall von Homosexualität in ihren Dienststellen erinnern. Das ganze Thema sei in der NVA totgeschwiegen worden. Ein als Oberstleutnant der NVA in die Bundeswehr übernommener Offizier äußerte spontan, Homosexualität sei in den von ihm geführten Truppenteilen „kein Thema“ gewesen. Nach längerem Überlegen fiel ihm dann doch eine Begebenheit aus dem Jahr 1978 ein. In einem Pionierbataillon wurde die Beziehung eines Hauptmanns aus dem Bataillonsstab zu einem Wehrpflichtigen beobachtet und bekannt.
Die beiden Männer seien bei einem Kontrollgang im technischen Bereich „erwischt“ worden – ausgerechnet vom in jedem Truppenteil zu findenden Offizier der Staatssicherheit. Der Bataillonskommandeur suchte nach einer einfachen Lösung für das ihm unangenehme Problem – und fand sie: Der Hauptmann wurde verwarnt, der Wehrpflichtige wurde in eine andere Einheit weg versetzt. Der Offizier kam damit sehr glimpflich davon. In der Bundeswehr wäre er für einen vergleichbaren Vorfall hart in einem Disziplinarverfahren bestraft worden. In der NVA wurde der für alle peinliche Vorfall dagegen informell beigelegt. Der Hauptmann konnte seine Karriere ungehindert fortsetzen, in der Bundeswehr zu dieser Zeit undenkbar. „Man mochte das Thema Homosexualität in der NVA nicht; wenn es irgendwie ging, haben sich alle darum gedrückt.
"Hauptsache kein Skandal"
Wenn es Regelungsbedarf gab, wurde erstaunlich großzügig entschieden, kamen die Betroffenen daher oft erstaunlich glimpflich davon: Hauptsache kein Skandal.“ Auch andere berichtete Vorfälle scheinen zu bestätigen, die Vermeidung eines Skandals sei die Prämisse der NVA-Kommandeure vor Ort gewesen. Scham empfanden meist auch die wegen ihrer sexuellen Orientierung Entlassenen – und schwiegen. Wie hätten sie sich auch erwehren können? Verwaltungsgerichte gab es in der DDR nicht; „ein Rechtsschutz in Verwaltungssachen, der diese Bezeichnung verdient hätte, war nicht gegeben“:
Im Strausberger Verteidigungsministerium setzte 1988 ein Umdenken in dieser Frage ein. Bei der Tauglichkeitsfeststellung homosexueller Männer seien in den vergangenen Jahren „wiederholt nicht durch medizinische Sachverhalte zu rechtfertigende Entscheidungen“ getroffen worden, stellte eine für den Minister erstellte Aktennotiz fest. So seien homosexuelle Männer entgegen der Vorschriftenlage nicht zum Wehrdienst „zugelassen“ worden oder hätten selbst erfolgreich auf ihre Ausmusterung hingewirkt. Zur „eindeutigen Abgrenzung“ der bei der medizinischen Begutachtung der Wehrpflichtigen zu beurteilenden Sachverhalte empfahl die Vorlage, in der Begutachterordnung die bisherige Festlegung, Homosexuelle seien „jedoch als Soldaten auf Zeit, Unteroffiziere auf Zeit, Offiziere auf Zeit, Berufsunteroffiziere, Fähnriche und Berufsoffiziere nicht geeignet“, zu streichen. Erstellt und unterschrieben hatte die Vorlage der Stellvertreter des Ministers und Chef der Rückwärtigen Dienste, Generalleutnant Manfred Grätz. Er hatte sich nach eigenen Angaben mit allen anderen Stellvertretern des Ministers, also auch dem Chef des Hauptstabs und den Chefs der Teilstreitkräfte, abgestimmt. Beim genauen Studium fällt auf, dass Inhalt und Begründung der Vorlage auseinanderklafften.
Zeitgleich und thematisch flankierend hatte der Chef der Verwaltung Kader auch „Grundsätze für den Umgang mit homosexuell veranlagten Bewerbern, Berufskadern und NVA-Angehörigen auf Zeit“ erarbeiten lassen und dem Minister vorgelegt. Auch darin hieß es ausdrücklich, Homosexualität sei kein Ausschlussgrund für den Dienst in der NVA: Allen werde „das ihnen zustehende Recht zum Schutz des sozialistischen Vaterlands gewährt“ . Bereits als Zeit- oder Berufssoldaten in der NVA Dienende, deren Homosexualität bekannt werde, sollten ihren aktiven Wehrdienst fortsetzen, „wenn keine Komplikationen“ einträten. Dies gelte auch ausdrücklich für die Dauer der Ausbildung an militärischen Lehreinrichtungen. Als mögliche Komplikationen führte das Papier „materielle oder finanzielle Abhängigkeiten, Störungen des Vorgesetzten-Unterstellten-Verhältnisses [und] Erziehungsprobleme“ auf. Träten diese auf, seien Entlassungen auszusprechen. Jedoch sei in Aussprachen mit den Betroffenen ausdrücklich darauf zu verweisen, „dass nicht die Homosexualität, sondern die daraus entstandene Komplikation der Grund“ für die Entlassung sei.
Noch war dies ein Entwurf. Dessen Vergleich mit der dann von Verteidigungsminister im September 1988 bestätigten finalen Fassung zeigt keine Streichungen. Bestätigt wurde also auch, dass als homosexuell erkannte angehende Offiziere und Unteroffiziere in der Ausbildung und im Dienst verbleiben konnten, wenn keine der genannten Komplikationen einträten. Ergänzt wurde die Vorgabe, stets sei bei allen Entscheidungen „sehr sorgfältig, taktvoll und abgewogen“ vorzugehen und jegliche Diskriminierung auszuschließen. Damit zogen die DDR-Streitkräfte 1988 mit der Praxis der Bundeswehr gleich, bestehende Dienstverhältnisse nicht vorzeitig zu beenden, Homosexuelle also nicht aus dem Dienst zu entlassen. Wer bereits Zeit- oder Berufssoldaten war, konnte nun auch in der NVA bis zum regulären Dienstzeitende verbleiben („wenn keine Komplikationen“ eintraten). In einem Punkt zogen die DDR-Streitkräfte mit ihrer neuen Toleranz 1988 gar an der Bundeswehr vorbei: Anders als im Westen durften als homosexuell bekannte Offizier- und Unteroffizieranwärter – zumindest nach der neuen Erlasslage – ihre Ausbildung fortsetzen und damit in Konsequenz auch Offizier oder Unteroffizier werden, auch wenn dies so nicht explizit im Erlass niedergeschrieben war.
Dessen ungeachtet beweisen die in der BStU überlieferten Akten, dass das MfS noch 1989 Überwachungsvorgänge gegen NVA-Angehörige einleitete, die verdächtigt wurden, homosexuell zu sein.
Namenslisten
Die durchschlagende Kraft des Geheimdienstes war DDR-typisch und unterschied den dortigen Umgang mit Homosexuellen gravierend von der Bundesrepublik. Dem Bundesverteidiungsministerium wurde im Zuge der Wörner-Kießling-Affäre 1984 vorgehalten, Listen mit Namen Homosexueller zu führen. Das Ministerium dementierte per Pressemitteilung, ein Staatsekretär stellte im Bundestag klar, es würden keine Listen geführt, es würden keine Überwachungen durchgeführt. Das MfS hatte sie, diese Listen. Unter der Überschrift „Personen mit homosexueller Veranlagung“ bzw. schlicht „Homosexuelle“ sind sie überliefert. Für 1977 bis 1979 waren 23 Personen erfasst: ein Oberst, ein Fregattenkapitän, mehrere Majore, in der Mehrzahl Unteroffiziere und Mannschaften (in der NVA als Soldaten bezeichnet). Hinter dem Namen des Obersts findet sich der Vermerk „Entlassung aus der Funktion“.
Bei den Majoren und anderen Dienstgraden (außer den Wehrpflichtigen und Unteroffizieren) stand jeweils „Versetzung in Reserve“, in Klartext also ebenfalls Entlassung aus dem aktiven Dienst. Für 1982 sind fünf neue Personen vermerkt, für 1983 siebzehn neue Namen, darunter Oberstleutnante und Majore, in der Mehrzahl wiederum Feldwebel, Unteroffiziere und Mannschaftssoldaten. Hinter dem Namen eines Feldwebels findet sich der Vermerk „Suizidversuch“. Für 1984 sind acht Namen verzeichnet, darunter der eines Majors der Grenztruppen mit dem Vermerk „vorzeitige Entlassung“. Hinter dem Namen eines an der Militärakademie studierenden Hauptmanns findet sich der Hinweis „fristlose Entlassung“. 1985 sind neun neue Namen, 1986 zwölf, 1987 elf (darunter der eines Majors als höchsten Dienstgrad), 1988 drei und 1989 sechs Namen (darunter zwei Majore) verzeichnet. Für 1985 und die folgenden Jahre finden sich (unabhängig von den Dienstgraden) aber keine Entlassungsvermerke mehr.
Hinter nahezu jedem dieser Namen stand eine Überwachungsmaßnahme des MfS, eine „operative Personenkontrolle“ (OPK), denen stets mehr oder weniger fantasievolle Decknamen gegeben wurden. Jede OPK war ein tiefgreifender Eingriff in das Privat-, ja Intimleben des Überwachten und seiner Partner. Bei der wissenschaftlichen Auswertung der überlieferten Unterlagen dazu bedarf es besonderer Sorgfalt und einer genauen Abwägung, welche so gewonnenen Informationen des MfS wiedergegeben werden können, ja müssen, und welche unter dem Schutzschirm der Privat- und Intimsphäre zu verbleiben haben. Letztlich darf nicht das Privatleben der Überwachten ein zweites Mal, diesmal unter wissenschaftlichem An-spruch, ans Licht gezogen werden. Von Erkenntnisinteresse ist aber das Agieren der Staatssicherheit und dessen Folgen für die Überwachten.
Operative Personenkontrolle „Liebhaber“ und weitere Überwachungsvorgänge
Die OPK „Liebhaber“ war gegen einen Oberstleutnant und stellvertretenden Regimentskommandeur gerichtet. Er war als künftiger Regimentskommandeur vorgesehen. Daher eröffnete das MfS offenbar routinemäßig einen Überwachungsvorgang. „Durch operative Personenaufklärung wurden Hinweise zur homosexuellen Verhaltensweise bekannt.“ „Bekannt“ wurde die sexuelle Orientierung des Offiziers durch dessen früheren Lehrgangskameraden. Dieser hatte dem MfS gemeldet, er habe an der Militärakademie eine gleichgeschlechtliche Beziehung zu ihm gehabt. Die Staatssicherheit setzte diesen Tippgeber nun als IM gezielt auf die „Zielperson“ an. Nach zwei Monaten IM-Einsatz sowie den „Maßnahmen 26 A“ (Überwachung Tele-fonanschluss) und „26 B“ (akustische Überwachung der Privatwohnung) erstellte das MfS einen Zwischenbericht: Der zu Überprüfende führe ein zurückgezogenes Leben, schaue Westfernsehen und – für das MfS interessant – der IM sei mit Sicherheit der einzige homosexuelle Partner des Oberstleutnants. Die Staatssicherheit informierte die NVA mit dem Ziel, die Verwendung als Regimentskommandeur zu verhindern. Die Kaderabteilung (Kader war die DDR-Bezeichnung für Personal) entschied nicht nur gegen die höhere Verwendung, sondern entließ den Oberstleutnant aus dem aktiven Dienst, in der NVA stets als „Versetzung in die Reserve“ bezeichnet. (Auch der andere Offizier, der als IM die Staatsicherheit über die intime Beziehung informiert hatte, wurde entlassen.)
Der starke direkte Einfluss der Staatssicherheit auf Personalentscheidungen des Militärs unterschied die NVA von der Bundeswehr – bei weitem nicht nur beim Verdacht homosexueller Orientierung, aber eben auch dann. Die Erkenntnisse des MAD über Bundeswehrangehörige konnten durchaus auch zu ungünstigen Personalentscheidungen führen, wie bereits ausführ-lich ausgeführte Beispiele belegen. Doch: In der Bundeswehr wäre der Oberstleutnant nicht entlassen worden. Der MAD hätte eine solch harte Maßnahme wegen erkannter Homosexualität auch nicht empfohlen. Gesetzt den hypothetischen Fall, er hätte es, hätten dem Offizier alle Rechtsmittel offen gestanden, sich gegen seine Entlassung oder vorzeitige Zurruhesetzung vor Verwaltungsgerichten zu wehren.
Diese Chance hatte der Oberstleutnant in der DDR nicht. Dies zeigt einmal mehr den gravierenden Unterschied zwischen einem Rechtsstaat und dem Fehlen eines solchen in der DDR. Im Westen hatten Verwaltungsrichter das letzte Wort (und am Ende hätten beinahe auch die Verfassungsrichter gesprochen), im Osten herrschte auch in dieser sehr speziellen Frage Willkür. Doch eine Parallele gab es: Auch in der Bundeswehr wäre er nach entsprechender Meldung des MAD höchstwahrscheinlich nicht mehr Regimentskommandeur geworden. Nicht als Hypothese, sondern auf der Basis zahlreicher tatsächlicher Gerichtsentscheidungen lässt sich sagen, dass eine Klage dagegen auch in der Bundesrepublik bis zur Jahrtausendwende keine Erfolgsaussichten gehabt hätte.
Nicht wehren konnten sich die Betroffenen gegen die Überwachungsmaßnahmen des MfS, wie auch in diesem Fall aus den späten 1980er Jahren. Über einen Offizier im Vorzimmer eines Generals im Verteidigungsministerium erhielt die Staatssicherheit durch einen IM den Hinweis, dass der Betroffene „mit hoher Wahrscheinlichkeit homosexuell veranlagt“ sei und eine feste Partnerbeziehung habe. Das MfS leitete 1989 eine OPK ein und setzte mehrere IM auf die Zielperson an. Auch das große technische Überwachungsbesteck kam zum Einsatz: Überwachung des Telefonanschlusses im Büro und in der Privatwohnung der Zielperson und der Wohnung des Partners, akustische Überwachung der Privatwohnungen beider Männer, Öffnung der Post der Zielperson, ihres Partners und dessen Verwandtschaft, Aufklärung und Überwachung der Familie des Partners.
Als Ziel wurde ausgegeben, zu klären, „ob auf der Grundlage der homosexuellen Veranlagung und bestehender Kontakte der Familie seines Partners in das NSA [Nichtsozialistische Ausland] die Zielperson Ansatzpunkte gegenüber gegnerischen Stellen bietet, auch wenn er sich selbst dessen gar nicht bewusst sei“. Nach sechs Monaten wurde ein Zwischenbericht erstellt und entschieden, die 26-A und 26-B-Maßnahmen fortzuführen und nochmals weitere neue IM anzusetzen. Der Zusammenbruch der SED-Herrschaft und des MfS beendeten im Herbst 1989 auch die Überwachungsmaßnahmen in diesem sehr konkreten Fall. Die große Geschichte spiegelt sich manchmal im kleinen großen Glück.
Ein Stabsobermeister der Volksmarine (in der Bundesmarine: Stabsbootsmann) hatte nicht dieses Glück. Er war ein Jahr zu früh auf dem Radar der Staatssicherheit erschienen. Auslöser der Überwachungsmaßnahme war wohl der Brief der Eltern eines Maates, die dem Kommandeur mitteilten, ihr Sohn habe in der heimatlichen Gartenlaube Sex mit seinem Vorgesetzten, dem in Rede stehenden Stabsobermeister, gehabt. Nicht wegen dieses Vorfalls, sondern wegen einer Kontoüberziehung wurde der Mann zum Obermeister degradiert. Das MfS leitete davon unabhängig im Mai 1988 einen Überwachungsvorgang ein.
Im Zuge der Kontrolle seiner Post wurden Kontakte zu (ebenfalls homosexuellen) Bürgern der Bundesrepublik festgestellt. Die Männer planten, sich während des Urlaubs in Ungarn zu treffen. (Ungarn war vor 1989 ein beliebtes und fast das einzige Land, wo sich Deutsche aus beiden deutschen Staaten relativ unauffällig begegnen konnten.) Das MfS analysierte die „operativ zu beachtenden“ Lebensumstände und legte dabei objektiv richtig den Finger in die Wunde der Zwänge, unter denen schwule NVA-Angehörige dienen und leben mussten: „Er muss seit Jahren seine homosexuellen Neigungen gegenüber seiner Umwelt ,verbergen‘, d.h. er kann sie als NVA-Angehöriger nicht offen zeigen bzw. nachgehen.“ Der zu Überprüfende gelte im Dienst als verschlossen und sondere sich ab. Seine Ehefrau habe drei Jahre nach der Heirat die Scheidung eingereicht. Zu den eingeleiteten Maßnahmen gehörte der Einsatz von drei IM und die Fortsetzung der Postkontrolle. Bezeichnend für die Arbeit des MfS und seiner Informanten in der NVA war, dass die Akte zahlreiche persönliche, ja intime Briefe in Kopie enthält, teils sogar zerrissene oder zusammengeknüllte Originale. Vermutlich hat ein Informant des MfS diese Briefe aus dem Papierkorb geholt.
Die OPK endete im Dezember 1988 mit der Entlassung des Obermeisters aus der Volksmarine. Mit der Zielsetzung, die Einwilligung des Überwachten zu seiner „Herauslösung aus dem aktiven Dienst“ zu erreichen, wirkten Mitarbeiter des MfS im Oktober 1988 in einem „operativen Klärungsgespräch“ auf diesen ein. Mit Erfolg: Der Obermeister willigte ein, ein Entlassungsgesuch zu stellen. Im Gegenzug bot das MfS „Hilfe und Unterstützung bei der problemlosen Herauslösung aus dem Dienst“ an. Er erhielt eine neue zivile Arbeitsstelle zugewiesen.
Aus der NVA entlassen (oder wie es de jure hieß, in die Reserve versetzt) wurde in den 1980er Jahren auch ein Stabsoffizier und Dozent an einer hohen Lehreinrichtung der NVA. Nachdem das MfS Hinweise auf dessen Homosexualität erhalten hatte, wurde dessen gesamter militärischer Werdegang mitsamt früheren Kameraden (bzw. im DDR-Sprachgebrauch „Genossen“) durchleuchtet. Im Ergebnis der OPK schätzte das MfS den Überwachten als „stark homosexuell veranlagt“ ein. Er sei ein „Unsicherheitsfaktor im Rahmen des Geheimnisschutzes“. Die Staatssicherheit empfahl der NVA dessen Versetzung in die Reserve. Diese wurde vollzogen, nachdem der omnipräsente Staatsapparat für ihn eine adäquate Stelle als Abteilungsleiter in einem zivilen Betrieb gefunden hatte.
Nicht jede Überwachungsmaßnahme endete mit der Entlassung der Betroffenen. Im Fall eines Majors entschied das MfS 1988, nur dessen Verbleiben im derzeitigen Regiment sei aus „sicherheitspolitischer Sicht“ nicht möglich. Eine Versetzung in eine andere Dienststelle wurde veranlasst. Ausschlaggebend für das Verbleiben des Majors im aktiven Dienst (und Dienstgrad) war dessen unzweifelhafte politische Zuverlässigkeit. Aufgrund seiner „ideologischen Überzeugung und seines gefestigten Charakters“ sei der Major „in Bezug auf seine homosexuelle Veranlagung nicht kompromittierbar“. Zu dieser Einschätzung kam das MfS nach fünfzehn Monaten Überwachung. Im September 1987 verdichteten sich nach Bewertung des MfS die früheren Hinweise („überwiegend Vermutungen und Gerüchte“) aufgrund „aktueller Informationen“ zu einer „realen Basis“ . Zum „Maßnahmenplan“ gehörte der Einsatz von drei IM und die übliche Postöffnung. Im Sommer 1988 lud ein offizieller Mitarbeiter des MfS den Major zu einem „operativen Gespräch“ und konfrontierte ihn mit den Erkenntnissen über sein Privat- und Intimleben. Der Major habe sich „ohne Zögern zu seiner homosexuellen Veranlagung“ bekannt und „war zu allen Fragen ohne Einschränkungen umfassend auskunftsbereit“. Die OPK wurde im Dezember 1988, wie bereits ausgeführt, beendet. Bis zur Realisierung der Versetzung in eine neue Dienststelle sollte weiterhin ein IM den Major im Auge behalten.
Ähnlich endete auch die Überwachung eines in einer besonders sicherheitsrelevanten Fernmeldezentrale dienenden Feldwebels im Jahr 1988. Er sollte eine neue, sicherheitsempfindliche Funktion erhalten. Daher leitete das MfS im April des Vorjahres routinemäßig eine OPK ein. Durch seine Abteilung Äußere Abwehr erhielt die für die NVA zuständige Hauptabteilung I Hinweise auf die Homosexualität des Feldwebels. Er suche Kontakte zu Frauen, doch lägen keine Hinweise auf intime Beziehungen zu ihnen vor. Vielmehr schätzte das MfS ein, der Feldwebel wolle von seiner homosexuellen „Veranlagung“ ablenken. Auch verkehre dieser in Weinstuben und Restaurants gehobenen Niveaus in Berlin und verfüge über Devisen, mit denen er in Intershops einkaufe. Das MfS setzte vier IM auf den Feldwebel an. Einer davon war dessen unmittelbarer Vorgesetzter, auch ein anderer Informant war Mitarbeiter der Fernmeldezentrale. Ein dritter Informant war ein Homosexueller, der mit der Zielperson in der Vergangenheit ein intimes Verhältnis hatte. Der vierte IM wohnte im selben Haus wie der zu Überwachende. Zusätzlich zu diesem dichten Informantennetz leitete das MfS die üblichen „M-Maßnahmen“ bei der Zielperson, aber auch bei dessen Mutter ein, also Postöffnungen.
In einem Zwischenbericht vom November 1987 hielt das MfS fest, die „negativen Persönlichkeitsmerkmale“ des zu Überprüfenden seien „nachgewiesen“ worden. Durch den auf diesen angesetzten selbst homosexuellen IM sei die „homosexuelle Neigung des [X.] nachgewiesen“ worden. Die Überwachung wurde fortgesetzt, zusätzlich ein Unteroffizier zu einem „Abschöpfungsgespräch“ zur Aufklärung des Umgangskreises der Zielperson angesetzt. Zudem achtete der als IM verpflichtete Vorgesetzte des Feldwebels darauf, dass jener keinen Zugang zu Verschluss- und Geheimsachen erhalte. Im Juni 1988 wurde die Überwachung des Feldwebels beendet. Dessen „Persönlichkeitsbild“ sei „umfassend“ aufgeklärt worden. Als sicherheitsrelevant wurden neben der sexuellen Orientierung auch die Kontakte ins NSA (Nichtsozialistisches Ausland) und dessen labile Persönlichkeit eingestuft. Das MfS empfahl dem zuständigen Kommandeur, den Feldwebel nicht auf der neuen sicherheitsempfindlichen Position einzusetzen. In den überlieferten Unterlagen des MfS findet sich aber auch kein Hinweis, dass der Feldwebel aus der Fernmeldezentrale wegversetzt oder gar aus der NVA entlassen werden wollte. Zur Einordnung wichtig ist der Hinweis, dass in allen Streitkräften in Vergangenheit und Gegenwart vor der Verwendung auf sicherheitsempfindlichen Dienstposten in der Regel Überprüfungen durch Nachrichtendienste angesetzt werden, in der Bundeswehr heißen sie Sicherheitsüberprüfungen, in den US-Streitkräften clearance.
Unteroffiziere oder Mannschaftssoldaten wurden in der NVA in der Regel ebenfalls von sicherheitsrelevanten Dienstposten abgelöst und versetzt – aber nicht entlassen. So war es auch im Fall einer 1983 begonnenen Überwachungsmaßnahme eines in der Logistik für dieselbe Fernmeldezentrale grundwehrdienstleistenden Mannschaftssoldaten. Dessen homosexuelle Orientierung wurde durch einen Informanten bekannt. Die Staatssicherheit gab dem Überwachungsvorgang den Decknamen „Anus“. Wiederum finden sich in der Akte teils sehr intime Berichte und Einschätzungen von Informanten. Nach nur einem Monat schloss das MfS den Überwachungsvorgang ab. Der Verdacht hatte sich bestätigt, strafrechtlich relevante Handlungen wurden aber nicht festgestellt. Der Soldat wurde wegen häufiger Partnerwechsel, auch mit Männern aus West-Berlin, aber als Sicherheitsrisiko eingestuft und versetzt. Auch hier ist zur Einordnung nochmals der kurze Hinweis auf Sicherheitsüberprüfungen in anderen Streitkräften unabdingbar.
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Kapitel II: Der Umgang des MfS mit Homosexuellen in den eigenen Reihen
Wurde die homosexuelle Orientierung von hauptamtlichen Mitarbeitern der Staatsicherheit bekannt, antwortete das MfS in der Regel mit deren Entlassung. Dies entsprach der bereits mehrfach in dieser Studie analysierten früheren Einschätzung nahezu aller Geheimdienste, Homosexuelle seien erpressbar und damit ein Sicherheitsrisiko. Wenige Beispiele sollten dies exemplarisch zeigen:
In den späten 1980er Jahren geriet ein junger Offizier, der an einer (nicht zum MfS zugehörigen) Universität studiert hatte und am Anfang seiner Karriere beim MfS stand, ins Netz seiner eigenen Dienststelle.
Das MfS machte unter anderem zahlreiche Sexualpartner des Mannes der letzten Jahre ausfindig und listete sie namentlich auf. Einem Vermerk zufolge, zeigte sich der junge Offizier „uneinsichtig“. „Mehrfach drückte er sein Unverständnis über die Nichtanerkennung Homosexueller durch das MfS aus und stellte die Entscheidung des Organs [seine Entlassung] als Berufsverbot dar. Er sei der Auffassung, dass in einigen Jahren auch Homosexuelle gleichberechtigte Partner im Organ [MfS] sein werden.“ Auch nach der Entlassung ließ die Staatssicherheit ihren ehemaligen Offizier nicht aus den Augen und leitete umfassende Überwachungsmaßnahmen, unter anderem die akustische Wohnraumüberwachung ein.
Auch in einem anderen überlieferten Fall leitete das MfS nach der Entlassung des angehenden Offiziers Überwachungsmaßnahmen ein, platzierte informelle Mitarbeiter und öffnete seine Post. In der Akte findet sich unter anderem die Kopie eines sehr privaten Briefes an einen Mann, den er liebte. Der in einer MfS-Bezirksverwaltung beschäftigte Unterleutnant wurde 1986 wegen „dauernder Dienstuntauglichkeit auf Grund einer nicht korrigierbaren primär homosexuellen Veranlagung“ entlassen. Das MfS beschaffte ihm, wie stets so gehandhabt, eine neue zivile Arbeitsstelle. Auch von dort berichteten Informanten noch 1989 (und ohne von der MfS-Vergangenheit des Kollegen zu wissen) über Gerüchte um dessen Homosexualität.
Entlassen wurden aber auch homosexuell orientierte Unteroffiziere und Wehrdienstleistende im MfS-eigenen Wachregiment „Feliks Dzierzynski“, so beispielsweise 1986 ein dortiger Unteroffizier. Dessen überlieferte Stasi-Akte beginnt mit dem Brief eines seiner Bekannten aus seiner Heimatstadt, der zu diesem Zeitpunkt selbst Wehrpflichtiger in der NVA war. Der Denunziationsbrief endet mit der Bitte, die Info vertraulich zu behandeln. Das MfS legte einen Überwachungsvorgang an und stieß durch Datenabfrage auf eine andere Meldung, dass die Adresse des Unteroffiziers bei einem homosexuellen Mann in einem anderen Bezirk der DDR gefunden worden war. Der Unteroffizier wurde zur Begutachtung in den Med. Punkt des Wachregiments befohlen. Die Ärzte bekräftigten den Verdacht der Homosexualität, der Unteroffizier wurde wegen dauernder Dienstunfähigkeit entlassen.
In den überlieferten Unterlagen fand sich auch ein besonders tragisch geendeter Fall. In einem auf den 16. März 1966 datierten Vermerk berichtete die Kaderabteilung des MfS über die am Vortrag geführte Aussprache mit einem Feldwebel einer MfS-Bezirksverwaltung. Diesem wurden frühere homosexuelle Handlungen mit einem Angehörigen des MfS-Wachregiments in Berlin-Adlershof vorgehalten. Die Befragung des Feldwebels sei in einer „ruhigen und sachlichen Atmosphäre“ verlaufen. „Die Ursachen seiner abartigen geschlechtlichen Handlungen konnten nicht restlos geklärt werden.“ Dessen weiteres Verbleiben im MfS sei aber nicht möglich. Der Vorgesetzte informierte auch den Vater, einen Volkspolizisten, „mit dem Ziel einer weiteren positiven Einflussnahme auf die Entwicklung seines Sohnes“ . Für den Dienstbeginn des 16. März war ein weiteres Gespräch des Vorgesetzten mit dem Feldwebel anberaumt, zu dem dieser eine schriftliche Stellungnahme vorzulegen hatte. Auch ein persönliches Gespräch mit dem Vater, in Anwesenheit des Sohnes, war für diesen Tag geplant. Dazu kam es nicht mehr.
Um 7.45 Uhr gab der Feldwebel die geforderte Stellungnahme ab. Dabei eröffnete ihm sein Vorgesetzter, dass ein Gespräch mit den Eltern anberaumt sei. Das weitere Geschehen in den Worten des MfS: Der Feldwebel „machte den Eindruck, dass ihm eine Aussprache mit seinen Eltern nicht angenehm ist. Er wurde belehrt, dass das Leben deshalb weitergeht und er sich von den unnormalen sexuellen Dingen lösen muss, indem er sich ein Mädchen sucht. Daraufhin erkundigte sich Gen. [X.], ob mit einer Entlassung zu rechnen ist. […] Ihm wurde mitgeteilt, dass er, wenn es zu einer Entlassung käme, in Ehren aus dem Organ [dem MfS] ausscheidet […]. Ihm wurde empfohlen, die notwendigen persönlichen Dinge, wie Rasierzeug usw. mit nach Hause zu nehmen.“ Gegen 8.45 Uhr wurde der Feldwebel in seiner Unterkunftsstube in einer Blutlache liegend mit lebensgefährlichen Kopfschussverletzungen aufgefunden. Diese hatte er sich gegen 8 Uhr mit seiner Dienstpistole selbst zugefügt. Am selben Tag gegen 16 Uhr verstarb der Feldwebel. Er wurde 22 Jahre alt.
Als das DDR-Verteidigungsministerium 1988 seine Haltung gegenüber homosexuell orientier-ten Offizieren und Unteroffizieren grundsätzlich änderte, blieb das MfS explizit bei seiner ablehnenden Haltung. „Im MfS ist für solche Leute kein Platz. Sie können in einem Aufklärungsorgan nicht arbeiten, da das Sicherheitsrisiko zu groß ist. Mit solchen Genossen ist vernünftig zu sprechen, keine Konfrontation zuzulassen, sie werden aus gesundheitlichen Gründen entlassen. Auf jeden Fall ist zu sichern, dass ihnen keine Schäden zugefügt werden.“ In einer Auflistung der im Sommer 1989 in der Bezirksverwaltung Dresden entschiedenen Personalmaßnahmen findet sich auch der Vermerk einer Kreisdienststelle „Nichteignung/homosexuell“ .
Operative Personenkontrolle „Verräter“. Die ungewöhnliche Fahnenflucht eines homosexuellen Offiziers der DDR-Grenztruppen.
Ein Fall stach aus der Masse der Namen auf den MfS-Karteikarten besonders heraus, der eines Unterleutnants der Grenztruppen. Der angehende Offizier war homosexuell. Einem seiner Bekannten hatte der junge Offizier schon Ende 1978 seine Absicht, nach West-Berlin zu fliehen, offenbart. Der vorgebliche Freund war Informant des MfS. Der Geheimdienst setzte weitere Spitzel gezielt an und begann mit Überwachungsmaßnahmen. Die OPK des Unterleutnants bekam den bezeichnenden Decknamen „Verräter“. Die MfS-Unterlagen enthüllen eine komplexe, durchaus verwirrende Geschichte im Dunkelfeld von Grenze, Geheimdiensten, Liebe und Eifersucht.
Als Sofortmaßnahme wurde Unterleutnant Schulze (Name geändert) Dezember 1978 aus dem Dienst unmittelbar an der Grenze herausgelöst und in den Regimentsstab versetzt. Dort umgab ihn ein dichtes Netz von Zuträgern der Staatssicherheit. Deren Offiziere glaubten den Unterleutnant unter Kontrolle und nahmen an, ihm die Möglichkeiten zur Flucht genommen zu haben. Sie irrten. Am Nachmittag des 31. Mai 1979, einem Donnerstag, gelang über die ihm bestens bekannten Sicherungsanlagen die Flucht nach Berlin-Wannsee.
Auf der West-Berliner Seite der Grenze traf er aber nicht auf die erwarteten amerikanischen Geheimdienstmitarbeiter. Er war zu früh. So meldete sich Schulze bei der nächsten Polizeidienststelle und verlangte, zu einer Dienststelle des US-amerikanischen Geheimdienstes in West-Berlin gefahren zu werden. Dort wurde der fahnenflüchtige junge Offizier vier Wochen über den Dienst in den DDR-Grenztruppen ausgefragt, anschließend auch von den britischen und französischen Geheimdiensten. Nächste Station war – wie für alle aus der DDR Geflüchteten – das Notaufnahmelager Berlin-Marienfelde. Dann durfte er endlich zu seinem Freund nach Moabit, den im Alter von neun Jahren mit seinen Eltern aus seiner Heimat Rumänien in die Bundesrepublik geflüchteten Andre Nicolescu [Name ebenfalls geändert]: Diesen hatte er wenige Wochen zuvor in der Wohnung eines Freundes im Ost-Berliner Stadtbezirk Prenzlauer Berg kennengelernt. Der nun in West-Berlin lebende Rumäne hatte, wie das MfS später aufklärte, seit Mai 1979 Verbindungen zum amerikanischen Geheimdienst. Auch in West-Berlin war Unterleutnant Lutz Schulze nicht vor der Staatssicherheit sicher. Deren langer Arm reichte weit, wie mehrere Fälle von Entführungen aus West-Berlin zeigten. Schon die Überführung des Geflüchteten von der West-Berliner Polizei zur US-Geheimdienststelle wurde dem MfS durch einen IM aus dem „Operationsgebiet“ gemeldet.
Was das MfS erst bei späteren Vernehmungen des Zurückgekehrten erfuhr: Auf Verlangen des in West-Berlin lebenden Rumänen sammelte Schulze in den Tagen vor der Flucht alle für ihn greifbaren Dokumente und Papiere der Grenztruppen, unter anderem den Plan der Verteidigung des Regiments, dessen Telefonverzeichnis und eine Namensliste, sowie Muster für Berechtigungskarten zum Betreten des Objekts. Diese Unterlagen deponierte er am 25. Mai in einer Tasche im Gepäckschließfach im Ostbahnhof. Den Schlüssel dazu übergab er einen Tag später an Nicolescu, der demnach wieder in die DDR eingereist war. Laut späteren Ermittlungen des MfS hatte Nicolescu die Tasche „unter Täuschung der Grenzkontrolle“ am 27. oder 28. Mai nach West-Berlin gebracht und unmittelbar dem amerikanischen Geheimdienst übergeben.
Einige Tage vor der Fahnenflucht des Unterleutnants hatte der West-Berliner sogar die Chuzpe, beim Diensthabenden in dessen Grenzkompanie anzurufen und diesen sprechen zu wollen. Der Unterleutnant war nicht vor Ort. Nicht weniger erstaunlich: Knapp zwei Wochen nach seiner Flucht rief der Unterleutnant von West-Berlin aus beim Diensthabenden seiner alten Kompanie an und verlangte, einen Unteroffizier zu sprechen. Dem überraschten Dienst-habenden entfuhr laut MfS ein spontanes „Spinnst Du?!“. Das MfS vernahm den Unteroffizier, dieser verneinte jede private Verbindung zum Geflohenen. Dennoch findet sich sein Na-me auf den späteren Listen mit der Homosexualität Verdächtigen. Die für die Überwachung von NVA und Grenztruppen zuständige MfS-Hauptabteilung I hielt später fest, „als Motiv der Fahnenflucht [des Unterleutnants] wurde […] zweifelsfrei neben seinen politisch-ideologischen Motiven seine homosexuelle Veranlagung erarbeitet“ . Auch der Vater gab nach einem Gespräch mit seinem Sohn in West-Berlin im September 1979 gegenüber dem MfS zu Protokoll, „einzigstes Motiv“ [sic] seines Sohnes seien dessen „Homosexualität und seine Vorstellungen vom Leben“ gewesen.
Die späteren Untersuchungen des MfS legten eine ganze Reihe von Verstößen gegen Vorschriften und Befehle sowie „prinzipielle Mängel in der Führungs- und Leitungstätigkeit“ in seinem Grenzregiment offen, die die Flucht begünstigt hatten. Im Regimentsstab habe „grobe Unordnung“ bei der Lagerung und Ausgabe der Dienstauftragsvordrucke geherrscht. Die Parole für den Grenzdienst wurde bei der Vergatterung der Wachhabenden stets so laut über den Hof des Regimentsstabs gerufen, dass selbst die Bewohner der Umgebung diese mithören konnten. Die telefonische Ankündigung wäre für das Passieren des Kontrollpunkts gar nicht mehr nötig gewesen. Der Fluchtwillige hatte sich alle Berechtigungen beschafft. Intern bemängelte das MfS, der für die Überwachungsmaßnahmen gegen den Unterleutnant zuständige Mitarbeiter sei seit Anfang Mai abwesend gewesen, habe aber den Vorgang nicht an sei-nen Vertreter übergeben. Handschriftlich ergänzte ein höherer Offizier des MfS an dieser Stelle des Berichts: „Diese Zeit hätte der U[Unter]/Abteilungsleiter selbst den Vorgang führen müssen.“
Auch bemängelte die für die Überwachung der NVA und Grenztruppen zuständige MfS-Hauptabteilung I in ihrem Abschlussbericht zur Fahnenflucht, dass trotz der drei auf den Unterleutnant angesetzten IM in dessen Regiment und einem weiteren im Ledigenwohnheim nur „periphärer“ IM-Einsatz gelungen sei. Es sei nicht gelungen, „[Schulze] lückenlos unter operativer Kontrolle zu halten“. Insbesondere sei es nicht gelungen, „eine wirkungsvolle Bearbeitungslinie im Freizeitbereich des [Schulze] auszubauen“. Auch die Versuche, „diesen Mangel durch die Einführung eines IM der Kreisdienststelle Potsdam, Abteilung VII (letzterer ist als Homosexueller bekannt) auszugleichen, schlugen fehl“:
Auch in West-Berlin unter den Augen der Staatssicherheit
Schnell fand er Arbeit als Maurer auf dem Bau – stets unter der Beobachtung der Agenten des MfS. Die OPK „Verräter“ lief weiter. Das MfS klärte auch den bereits in West-Berlin lebenden Freund auf,: „[Schulze] und [Nicolescu] standen vor der Fahnenflucht in intimem Kontakt, der sich auch nach der Fahnenflucht fortsetzte. [Schulze] selbst gibt seinen Freund‘ [Nicolescu] als Hauptmotiv seiner Fahnenflucht gegenüber seinen Eltern an und beschuldigt ihn in einem Brief an seinen Vater, die Fahnenflucht mit vorbereitet und ihn beim US-Geheimdienst avisiert zu haben.“
Die Staatssicherheit identifizierte später weitere Mannschaftssoldaten, Unteroffiziere und junge Offiziere in NVA und Grenztruppen, mit denen der West-Berliner Kontakt hatte: „Unter Nutzung seiner homosexuellen Veranlagung unterhielt er intime Kontakte […]. In der Hauptstadt der DDR und in Halle ist [Nicolescu] in homosexuellen Kreisen bekannt. In Halle wurde […] festgestellt, dass [Nicolescu] in homosexuellen Kreisen zielgerichtet Abwerbung betreibt und Schleusungsangebote unterbreitet. N. soll Verbindungen zum US-Geheimdienst unterhalten. […] Regelmäßig reiste N. in die Hauptstadt der DDR ein. Er […] besitzt einen westdeutschen Reisepass und ist rumänischer Staatsbürger.“ Das MfS war alarmiert. Dessen Argwohn gegen homosexuelle Offiziere in der NVA und den eigenen Reihen schien sich hier voll bestätigt zu haben. Auch der Rumäne nannte in den Verhören bei der Staatssicherheit weitere Namen von ihm bekannten homosexuellen Soldaten der NVA: Mannschaften, Unteroffiziere und Offiziere.
Die Karteikarten mit Namen homosexueller Soldaten wurden 1979 deutlich länger. Im Ergeb-nis dieser Verhöre legte im Oktober 1979 der Chef der für die Überwachung der NVA und der Grenztruppen verantwortlichen MfS-Hauptabteilung I (unter dem gegenüber der NVA verwendeten Pseudonym „Verwaltung 2000“) dem Chef des Hauptstabs der NVA namentliche detaillierte „Informationen über die Sicherheit der Streitkräfte gefährdende Verbindungen von Offizieren“ vor: Einen Oberleutnant der Luftstreitkräfte hatte der West-Berliner Rumäne in einer Ost-Berliner Gaststätte kennengelernt und – laut MfS – „dem USA-Agenten in Kenntnis dessen West-Berliner Wohnsitzes seine Zugehörigkeit zur NVA und [seinen] Dienstort Cottbus offenbart“ . Nach Verlassen der Gaststätte fuhren beide an einen Grenzübergang. Der Rumäne fuhr weiter nach West-Berlin und kehrte wenig später zurück in die DDR, während der Oberleutnant in einem Taxi wartete. Dann fuhren beide nach Cottbus in das dortige NVA-Wohnheim, in das der Offizier seinen Bekannten am Posten vorbei durch die Hintertür einschleuste. Nach einer Nacht fuhr letztgenannter zurück nach West-Berlin. Als Motiv des Offiziers protokollierte das MfS dessen „starke homosexuelle Neigungen“ . Zu einem weiteren Leutnant der Grenztruppen, zu denen der West-Berliner Rumäne ebenfalls Kontakt hatte, meldete das MfS dem Chef des Hauptstabes dessen „homosexuelle Beziehungen zu Zivil- und Militärpersonen in häufiger Folge“, oftmals Kontaktaufnahmen in Parks, auch in Uniform. Der Leutnant stellte in der Bewertung des MfS eine „erhebliche Gefährdung für die Sicherheit der Streitkräfte“ dar und sollte „kurzfristig“ entlassen werden. Auch zu einem Matrosen der Volksmarine in Stralsund soll der Rumäne Kontakt gehabt haben.
Von West-Berlin aus stand Schulze in Briefkontakt zu seinen Eltern in der DDR. Das MfS las immer mit und erfuhr so, dass seit Anfang August 1979 „das Verhältnis zu [Nicolescu] offensichtlich lockerer“ wurde, „es muss zu Meinungsverschiedenheiten gekommen sein“. Den Grund für das Zerwürfnis der beiden Männer erfuhr das MfS später: Da der Rumäne auch weiterhin in die DDR reiste und dort neue Männer, vorzugsweise Soldaten, kennenlernte, wuchs bei seinem Partner die Eifersucht. Am 31. August 1979 rief dieser von West-Berlin aus bei der Volkspolizei im Osten an und beschuldigte Nicolescu, Mitarbeiter des US-Geheimdienstes zu sein und an der Fahnenflucht mitgewirkt zu haben. Schulze bat die Volkspolizisten, das MfS einzuschalten und gab Ort und Zeit der nächsten Einreise seines Partners in die DDR sowie eine genaue Personenbeschreibung an. Die Staatssicherheit war zur Stelle, als der Rumäne einreiste, beobachtete ihn – und ließ ihn wieder ausreisen. Noch. Parallel aktivierte das MfS den Vater des Geflüchteten und verpflichtete ihn als IM mit dem einzigen Auftrag, den Sohn zurückzuholen.
Der „Plan zur Entsendung des IMS [X.] in das Operationsgebiet Westberlin“ sah konkret vor: „Am 13.9.1979, um 4.30 Uhr wird der IMS über die GÜST Friedrichstraße nach Westberlin geschleust. […] Die Schleusung macht sich deshalb erforderlich, da der Sohn keine gültigen Einreisepapiere besitzt und zu erwarten ist, dass er nur in Begleitung des Vaters bereit ist, die GÜST zu passieren. […] Der IMS fährt selbstständig mit der S-Bahn vom Bahnhof Friedrichstraße zwei Stationen bis S-Bahnhof Bellevue. Von dort läuft er bis [Y.] und wird gegen 5.30 Uhr am Wohnhaus des Sohnes ankommen. […] Der Sohn wird zwischen 6 Uhr und 6.45 Uhr das Haus verlassen. […] Auf dem Weg zur Arbeit hat der IMS Kontakt zum Sohn unter Ausschluss anderer Personen aufzunehmen. Sind andere Personen in Begleitung hat er nicht die Verbindung zum Sohn herzustellen. Dem IMS ist es grundsätzlich untersagt, in die Wohnung des Fahnenflüchtigen zu gehen, um ihn dort anzusprechen. […] Falls der Fahnenflüchtige nicht bereit ist, in die DDR einzureisen, hat der IMS umfassend Informationen abzuschöpfen über: Weg des Fahnenflüchtigen nach der Fahnenflucht; Kontakt zum Geheimdienst; Rolle des [Nicolescu]. Die Hauptaufgabe besteht jedoch darin, den Fahnenflüchtigen zu veranlassen, selbst die Aussagen zu machen und ihn zu einem Gespräch mit dem MfS zuzuführen. Der IMS sicher dem [X.] die Rückkehr nach Westberlin unabhängig vom Ausgang des Gespräches zu. Mit seiner ganzen Autorität als Vater hat er diese glaubwürdig zu vertreten.“
Dem Vater gelang es am 13. September, seinen Sohn auf offener Straße anzusprechen, er kehrte aber ohne diesen nach Ost-Berlin zurück. In seinem Bericht an das MfS gab der Vater an, eine Rückkehr in die DDR komme für seinen Sohn „zur Zeit nicht in Frage; sein Sohn wolle in West-Berlin bleiben, „weil er der Meinung [sei], entsprechend seiner Veranlagung sich dort besser entfalten zu können.“ Doch sei sein Sohn bereit, dem MfS alles zu berichten, was er über seinen Freund und dessen Verbindungen zu US-Geheimdienst wisse. Im Übrigen habe sein Sohn die engen Beziehungen zu dem Rumänen bereits „abgebrochen“, als dieser ihm mitgeteilt hatte, vom US-Geheimdienst angeworben worden zu sein. Damit wolle sein Sohn „grundsätzlich nichts zu tun haben“ . Eine Woche später sollte er es erneut versuchen. Zuvor hatte der Vater auch Forderungen an das MfS: Sein Sohn solle bei Rückkehr straffrei bleiben. Das MfS sagte dies zu. Die Entscheidung hatte kein geringerer als der Minister für Staatssicherheit, Erich Mielke, getroffen.
„Die Genossen haben nur ein paar Fragen“
Am 21. September 1979 um 8.15 Uhr trafen Vater und Sohn Schulze mit der S-Bahn im Bahnhof Friedrichstraße ein und wurden in die DDR „geschleust“. „Vorkommnisse bei der Entsendung [des Vaters und IM] gab es nicht, Beobachtungen durch den Gegner bzw. Verstöße gegen die Konspiration sind nicht festgestellt worden. Das gestellte Ziel der Entsendung wurde durch die vorbildliche Auftragserfüllung des IM voll erreicht.“ Den Berichten des Vaters zufolge war sein Sohn durchaus freiwillig mit in die DDR gekommen, allerdings nur gegen das Versprechen, noch am selben Tag wieder ungehindert nach West-Berlin zurückkehren zu dürfen. Die „Genossen hätten nur ein paar Fragen“ wegen seines Anrufs vom 31. August, versicherte der Vater. In seiner späteren Vernehmung 1981 gab Schulze rückblickend an: „Am 21.9.1979, dem Tag meiner Rückkehr, hatte ich Suizidgedanken, das heißt Selbstmordgedanken, weil ich enttäuscht wurde. Ich nahm ursprünglich an, noch am gleichen Tag nach Berlin (West) zurückkehren zu können.“
Das war nicht mehr möglich – und sicherlich vom MfS auch nie so vorgesehen. Denn: Am Nachmittag desselben Tages wurde dank der Angaben Schulzes dessen Freund bei der Einreise nach Ost-Berlin festgenommen. Der Haftbefehl lautete auf Spionage und Beihilfe zur Fahnenflucht. Der Rumäne fand sich in der Untersuchungshaftanstalt des MfS in Berlin-Hohenschönhausen wieder. Das ein Geheimdienst eigene Untersuchungsgefängnisse unterhielt – in der Bundesrepublik Deutschland undenkbar –, war und ist typisch für autoritäre Regime (aber nicht nur für diese). Am 16. Juli 1980 begann sein Prozess vor dem Militärobergericht Berlin. Dass der Rumäne, der selbstredend nie in der NVA gedient hatte, vor einem Militärgericht stand, lag daran, dass er einem Soldaten zur Fahnenflucht verholfen hatte. Am 17. Juli sprachen die Militärrichter ihr Urteil: sieben Jahre Freiheitsstrafe wegen Spionage in Tateinheit mit Beihilfe zur Fahnenflucht im schweren Fall.
Seine Akte bei der Militäroberstaatsanwaltschaft enthält den Beschluss des Gerichts vom September 1984, nach Verbüßen von mehr als der Hälfte der Haftstrafe die verbleibenden Jahre zur Bewährung auszusetzen. Zuvor hatte sich der bekannte Rechtsanwalt Wolfgang Vogel eingeschaltet. Vogel genoss das Vertrauen von Erich Honecker und Helmut Schmidt sowie von dessen Nachfolger Helmut Kohl, der Staatssicherheit wie der westdeutschen Dienste, und war auf schwierige deutsch-deutsche Fälle sowie auf Agentenaustausch spezialisiert. Vogels Spuren in den Akten deuten auf eine Art Austausch hin. Am 17. Oktober 1984 wurde Nicolescu nach West-Berlin entlassen. Der entsprechende Vermerk wurde aber erst Ende 1987 in seine Akte bei der Mili-täroberstaatsanwaltschaft aufgenommen, ein weiteres Indiz für einen besonderen Vorgang.
Der Unterleutnant ging, wie vom MfS dem Vater zugesagt, straffrei aus, wobei auch dies ein bezeichnendes Licht auf die Realitäten der DDR warf, wo ein Geheimdienst darüber entscheiden konnte, ob jemand bestraft wurde oder nicht. Die Justiz folgte den Anweisungen des MfS. In diesem konkreten Fall stellte die Militärstaatsanwaltschaft das seit 31. Mai laufende Ermittlungsverfahren wegen Fahnenflucht ein. Der Haftbefehl wurde aufgehoben, oder wie es im Vermerk des Militäroberstaatsanwalts vom 14. November 1979 hieß: Der „zuständige U[Unter]-Abteilungsleiter des MfS [habe] telefonisch mitgeteilt, dass das gegen den ehemaligen Unterleutnant der Grenztruppen [X] vorliegende, z.Zt. vorläufig eingestellte Ermittlungsverfahren, e n d g ü l t i g abzuschließen ist. Der Beschuldigte [X.] soll am 15.11.1979 durch das operative Organ des MfS in das gesellschaftliche Leben in [Y.] eingegliedert werden. […] Es wurde lediglich mündlich mitgeteilt, dass in Folge bestimmter Aktivitäten des Beschuldigten [X.], der in einem gesonderten Verfahren bearbeitete Beschuldigte [N.] wegen seiner Zusammenarbeit mit dem amerikanischen Geheimdienst von den Sicherheitsorganen der DDR festgenommen werden konnte.“
In den Wochen nach seiner Rückkehr in die DDR wurde der Unterleutnant intensiv durch die Staatssicherheit befragt. Neben den Umständen der Flucht interessierte das MfS vor allem, was die Amerikaner und Briten in ihren Befragungen hatten wissen wollen – und was der Unterleutnant aus dem Dienst in den Grenztruppen preisgegeben hatte. Schulze informierte auch über seinen Bekanntenkreis, darunter andere homosexuelle Offiziere der Grenztruppen. Kaum ihren Ohren trauten die Vernehmer der Stasi, als sie von einem damaligen Kreis homosexueller Offiziersschüler an der Offiziershochschule der Grenztruppen in Plauen erfuhren, die sich in der Wohnung eines Gemüsehändlers zusammenfanden. Nachdem alle Fragen beantwortet waren, entließ die Staatssicherheit Schulze ins Zivilleben. Sie organisierte ihm eine Arbeit als Kellner in einem Interhotel und eine Wohnung – und legte einen neuen Überwachungsvorgang an: den Operativvorgang „Schwuler“. In der Akte finden sich eine genaue Aufstellung der Möbel und deren Rechnung: rund 8 000 Mark der DDR.
Ein weiterer Fluchtversuch – acht Jahre im Gefängnis
Schulze war trotz Straffreiheit, Wohnung und Arbeit zunehmend unzufrieden mit seinem neuen alten Leben in der DDR. Die Arbeitsstelle in einem Interhotel gehörte zum Plan des MfS. Die dort in hoher Dichte versammelten Informanten des MfS im Kollegenkreis hatten Schulze stets im Blick. Im Oktober 1980 versuchte er erneut nach West-Berlin zu fliehen, diesmal aber nicht mit einer Strickleiter über den Grenzzaun, sondern mittels eines Tricks. Seine Absicht war, sich in der Ständigen Vertretung der Bundesrepublik Deutschland in der DDR als West-Berliner auszugeben, der seine Papiere verloren hatte. Als Beleg wollte er seine ihm verbliebene Monatskarte der West-Berliner Verkehrsgesellschaft (BVG) vorzeigen. Diese war längst abgelaufen, weshalb er die Geltungsdauer fälschte. So „gerüstet“ machte er sich am 16. Oktober 1980 auf den Weg. Er kam nicht weit. Vor dem Eingang der Ständigen Vetretung wurde er von Volkspolizisten angehalten und mit aufs Revier genommen. – „zur Klärung eines Sachverhalts“, wie es stets in der DDR hieß. Noch am selben Tag wurde Haftbefehl wegen Verdachts des versuchten ungesetzlichen Grenzübertritts erlassen.
Auch das alte Ermittlungsverfahren wegen Fahnenflucht wurde wiederaufgenommen – unter Protest des Vaters, der sich auf die von Mielke persönlich gegebene Zusage der Straffreiheit berief. Später wurden die Anklagepunkte um Spionage und „Terror“ erweitert. Der Terrorvorwurf fußte auf dem Umstand, dass Schulze bei seiner Fahnenflucht seine Dienstpistole am Mann hatte und der Annahme, dass er diese gegebenenfalls gegen Grenzsicherungskräfte eingesetzt hätte. Am 10. September 1981 sprachen die Richter am Militärobergericht Berlin ihr Urteil (oder wohl eher das Urteil, das die Staatssicherheit vorher festgelegt hatte): „Der Angeklagte wird wegen Verbrechens der Spionage – § 97 Abs. 1 StGB –, Fahnenflucht im schweren Fall – § 254 Abs. 1 und 2 StGB, vorbereitetem ungesetzlichen Grenzübertritts im schweren Fall – § 213 Abs. 1 und 3 StGB – und unbefugten Waffenbesitz – § 206 Abs. 1 StGB – zu einer Freiheitsstrafe von acht Jahren verurteilt.“ Der „Terror“-Vorwurf wurde fallengelassen.
Sobald er von dem Urteil erfahren hatte, richtete der Vater ein Gnadengesuch an Erich Honecker als Staatsratsvorsitzenden. Darin verurteilte er nochmals Fahnenflucht und Geheimnisverrat seines Sohnes, verwies aber auch darauf, dass mit dessen Hilfe ein amerikanischer Agent verhaftet werden konnte. Auch verwies er auf die seinerzeit zugesicherte Straffreiheit. Der Militäroberstaatsanwalt verwies in seiner Stellungnahme an den Staatsrat auf der Schwere der Taten. Nochmals erschwerend käme hinzu, dass der Verurteilte seine nach Rück-kehr in die DDR „freiwillig übernommene Verpflichtung, zukünftig die Gesetzte der DDR einzuhalten“, gebrochen habe und mit „großer Intensität“ den erneuten illegalen Grenzübertritt vorbereitet habe. Der Staatsrat lehnte das Gnadenersuch ab.
Der Vater gab nicht auf, offenbar getrieben vom zunehmenden Bewusstsein, durch die Rückholung in die DDR im September 1979 den Sohn ins Unglück gestürzt zu haben. Eindringlich richtete er im Januar 1982 einen Appell an den Militärstaatsanwalt: „Es ist für mich unter dem Gesichtspunkt meiner Mitwirkung bei der Aussagebereitschaft vor den Sicherheitsorganen der DDR durch meinen Sohn, und den Umständen seiner Rückkehr, äußerst belastend, weil mein Sohn damit in Konflikte geraten ist, die er nur lösen kann [sic, gemeint: konnte], indem er durch den Versuch der Republikflucht straffällig wird [sic, wurde]. Wir als Eltern leben in ständiger Angst, dass wieder etwas passiert‘! […] Deshalb halte ich es für gerechtfertigt, dass dem Ersuchen meines Sohnes zur Übersiedlung in die BRD baldmöglichst stattgegeben wird.“
Die mehrfachen entsprechenden Ersuchen von Sohn und Vater wurden stets abgelehnt. Lutz Schulze musste seine Freiheitsstrafe bis zum letzten Tag in Bautzen II absitzen. Die Unterlagen des MfS zeigen die Versuche des Inhaftierten, größtmöglichen Unwillen, ja Widerstand gegen die Forderungen der Haft zu leisten. In den überlieferten Unterlagen des MfS finden sich Kopien zahlreicher Protestschreiben und -zettel, die er an seiner Zellentür befestigte, unter anderem ein „Protest gegen die unmenschlichen Haftzustände. Erkennt Euer Unrecht, Agenten des Systems“. Ein weiteres undatiertes Protestschreiben: „Ich habe es satt, im zehnten Monat unter dieser menschenunwürdigen Isolationsfolter weiter vegetieren zu müssen. Ich will endlich wieder mit Menschen zusammenkommen!“
Der Leiter der berüchtigten Strafvollzugseinrichtung attestierte ihm 1983 eine „äußerst negative und abweisende“ politische Grundhaltung. Schulze habe „nicht die richtigen Schlussfolgerungen aus seiner Straftat gezogen“ und sei „nach wie vor bemüht, sein Ziel, wieder nach Westberlin überzusiedeln, zu erreichen.“ Schulze wurde am 13. Oktober 1988 aus der Haft entlassen. Ein Jahr später war die Herrschaft der SED und ihres omnipräsenten Geheimdienstes am Ende.
Zitierweise: Klaus Storkmann "Homosexuelle in DDR-Volksarmee und Staatssicherheit. Die Überwachungsvorgänge „Anus“, „Liebhaber“, „Schwuler“ und „Verräter“.“ in: Deutschland Archiv, 26.08.2020, Link: www.bpb.de/314394.
Der Text ist zeitgleich in einer gedruckten Fassung erschienen in: Zeitschrift des Forschungsverbundes SED-Staat der Freien Universität Berlin, Ausgabe 45/2020 und ist Teilaspekt einer noch Externer Link: ausführlicheren Studie Klaus Storkmanns über den Umgang mit Homosexualität in der Bundeswehr, die am Externer Link: 17.9.2020 im Bundesverteidigungsministerium vorgestellt wurde.
Mehr zum Thema:
- Christian Könne, Schwule und Lesben in der DDR und der Umgang des SED-Staates mit Homosexualität, DA vom 28.2.2018
Dr. Klaus Storkmann ist seit 2015 Wissenschaftlicher Mitarbeiter im Forschungsbereich Deut-sche Militärgeschichte nach 1945 des Zentrums für Militärgeschichte und Sozialwissenschaften der Bundeswehr (ZMSBW). Er ist außerdem Mitglied der Redaktion "Militärgeschichte. Zeitschrift für die historische Bildung". Derzeit erforscht er die Situation Homosexueller in Nationaler Volksarmee und Bundeswehr, eine Externer Link: ausführliche Studie dazu wurde am 17. September 2020 im Bundesverteidigungsministerium vorgestellt.
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