Im Jahr 2019 jährte sich die Friedliche Revolution zum dreißigsten Mal. Was hat dieses ‚Jubiläum‘ gebracht – für die wissenschaftliche Auseinandersetzung? Für die öffentliche Diskussion?
Auch wenn Autorinnen und Autoren sowie Museen von dieser Aufmerksamkeit profitierten, sei das Fach selbst kaum in der Lage, darüber hinaus öffentlich Themen zu setzen und auch auf alternative, ebenso wichtige Zusammenhänge aufmerksam zu machen. Warum nicht des vierzigsten Jahrestags des Störfalls im amerikanischen Atomkraftwerk nahe Harrisburg gedenken, statt vor allem nationalstaatliche Zusammenhänge in den Vordergrund zu stellen, so die Frage Böschs. Zudem – so sein zweites gewichtiges Argument – zementierten die Konzentration auf die Jahrestage nationale Mythen und ließen Veränderungen im Alltagsleben der Menschen außen vor: Die Geschichte von Migration und Rassismus, die Bedeutung der Rentenreform beispielsweise ließe sich auf diese Weise nicht thematisieren.
Das ist ein veritabler Weckruf und Gedankenanstoß – und berücksichtigt dennoch, dass die Friedliche Revolution selbst ein gewichtiges Vergangenheitsmoment ist, an dem sich unsere Gegenwartsgesellschaft abarbeitet und das auch in Zukunft tun wird: In der Demokratiegeschichte Deutschlands war 1989/90 eines der wenigen Highlights. Das Ende der SED-Diktatur und die Wiedervereinigung prägten das Leben vor allem der Ostdeutschen, aber auch ihrer späteren Mitbürgerinnen und Mitbürger im Westen bis heute entscheidend mit. Aber auch fokussiert auf die Friedliche Revolution nimmt sich die Bilanz nicht besser aus. Trotz aufwändiger Inszenierungen vor allem in der Hauptstadt Berlin blieb die Resonanz verhalten. Im dreißigsten Jahr danach sei es nicht gelungen, in der Öffentlichkeit und im gesamtdeutschen Geschichtsbild, ein erinnerungskulturelles Narrativ der Geschehnisse von 1989/90 zu etablieren, das „für die Mehrheit der Deutschen positiv anschlussfähig“ sei, so beobachtete der Soziologe und Theologe Hagen Findeis.
Findeis spielt damit auf die einzige öffentlich wahrnehmbare Kontroverse an, die die Erinnerung an die Friedliche Revolution ausgelöst hat: Ausgetragen wurde sie im Sommer 2019 zwischen dem Soziologen Detlef Pollack und dem Historiker Ilko-Sascha Kowalczuk – beide sind in der DDR aufgewachsen. Zur Debatte stand die Charakterisierung der Friedlichen Revolution und insbesondere die Frage danach, wer die Triebkräfte des Widerstands gegen die SED-Diktatur waren.
Den Auftakt machte der Religionssoziologe Detlef Pollack mit einer wissenschaftlich wenig spektakulären, aber provokanten These, da sie den gängigen öffentlichen Konsens in Frage stellte: Es sei eine „Mär“ und deswegen „höchste Zeit, mit einer Legende aufzuräumen“, so Pollack am 12. Juli 2019 in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung, dass die Oppositionellen in der DDR die Friedliche Revolution angeregt, angeführt und letztlich zu einem erfolgreichen Ende gebracht hätten. Es sei vorrangig die Ausreisebewegung und die damit verbundene massenhafte Abwanderung vor allem von jungen und gut ausgebildeten DDR-Bürgerinnen und -Bürgern gewesen, die das System der DDR (mit) ins Wanken gebracht habe. „Der Umbruch ging weniger von den Alternativen und den Kirchenleuten aus, die mit ihren langen Bärten und Kerzen in der Hand der Mehrheitsbevölkerung eher suspekt erschienen. Vielmehr waren es die Normalos (den Westdeutschen mit merkwürdigen stonewashed Jeans, Dauerwellen und Schnauzern in Erinnerung), die zunächst Gorbatschows neue Freiheit nutzten, um Kritik am eigenen System zu üben, die Sehnsucht nach Konsum und Reisefreiheit hatten, massenweise in den Westen flüchteten und schließlich ohne Führung durch die Opposition auf die Straße gingen und die Staatsmacht, allseits unerwartet, tatsächlich in Bedrängnis brachten.“
Ilko-Sascha Kowalczuk konterte drei Tage später: „Eine Minderheit bahnte den Weg“, so der die These des Artikels beschreibende Titel:
Mit diesem Meinungsaustausch hätte es sein Bewenden haben können:
Oder aber – so die zweite Möglichkeit – der erste Aufschlag hätte sich im besseren Fall zu einer Reihe von Fragen und produktiven Forschungen entwickeln können: Inwieweit unterliegen Revolutionen allgemeinen ‚Gesetzmäßigkeiten‘, und lassen sich diese gar zu einer Theorie verdichten, so wie von Kowalczuk wiederholt argumentiert? Wie formte sich das Geschehen in der DDR, in Leipzig, aber auch anderswo aus? Warum wuchs der Protest in der sächsischen Metropole im Oktober schlagartig auf die 70.000 Beteiligten, die dann den Leipziger Stadtring füllten? Welche zeitlichen Rhythmen und Dynamisierungen waren zu beobachten, in welcher Sprache, in welchen Formen und symbolischen Kommunikationen entwickelte sich der Protest? Und ganz basal: Wie viele DDR-Bürgerinnen und -bürger gingen tatsächlich auf die Straße und ließen sich zum Protest gegen die SED-Diktatur motivieren?
Während Pollack die breite Beteiligung der „Normalos“ betonte, argumentierte Kowalczuk damit, dass immer nur eine Minderheit der DDR-Bevölkerung auf der Straße war. Schon allein diese Kontroverse ist unlösbar, wenn man sich nicht über die Kriterien der jeweiligen Behauptung austauscht: Was ist eine Minderheit? Wie wirkt eine „Revolution“ auch bei denjenigen, die – so ein immer wieder bemühter Topos – passiv zuschauend „hinter der Gardine“ standen? All diese (und viele weitere) Fragen waren aufgeworfen, ohne dass aber Leserin und Leser in den folgenden Artikeln in Zeitung und Netz darauf Antworten bekommen hätten.
Wissenschaftskommunikation: Corona als Exempel?
Welche Chancen, aber auch welche Herausforderungen und Grenzen im Verhältnis von Wissenschaft und Öffentlichkeit liegen, führt uns dieser Tage die Corona-Pandemie in Extremform vor Augen. Das ist die Folie, auf der dann die Pollack-Kowalczuk-Kontroverse in diesem Beitrag analysiert wird.
Wie vieles andere auch hat die Corona-Pandemie das Verhältnis von Wissenschaft und Öffentlichkeit noch einmal intensiv ausgeleuchtet. Es war die Krise, die ganz grundsätzliche Dispositionen verschärfte und zum Vorschein brachte: Während der Präsident der Vereinigten Staaten seine wissenschaftlichen Berater öffentlich düpierte, stieg in Deutschland die Wissenschaft – oder zumindest doch ein Teil von ihr – temporär zum neuen Leitstern auf. Wie in wenigen anderen Staaten sind Politik und öffentliche Meinung in Deutschland eine Allianz mit der Wissenschaft eingegangen. Dafür steht kein anderer stärker als der Berliner Virologe Christian Drosten, der insbesondere in den ersten Wochen der Diskussion zum „Erzähler der Krise“ aufrückte
Diese für eine pluralistische offene Gesellschaft wie die deutsche ungewöhnliche „Heldenverehrung“ eines Wissenschaftlers versuchte der Protagonist selbst immer wieder zu durchbrechen, wenn er auf die Grenzen seiner Expertise hinwies, sich selbst als Lernenden innerhalb der Krise charakterisierte und durchaus offen und offensiv während der darauf folgenden Zeit seine Standpunkte in wichtigen Fragen und Entscheidungsfällen anpasste und revidierte: die Wirksamkeit eines Mundnasenschutz, die von Kindern ausgehende Infektionsgefahr – in einer Reihe von Punkten veränderten sich Drostens Einschätzungen mit dem sich wandelnden Forschungsstand.
All das wurde zu Recht von der Leiterin des Zentrums für Wissenschaftskommunikation, Exzellenz Cluster „Religion und Politik“ der Westfälischen Wilhelms-Universität Münster, Viola van Melis, als „Sternstunde“ von Wissenschaftskommunikation charakterisiert, gerade weil Wissenschaft sich als selbstreflexiver und lernender Zusammenhang präsentierte.
Lehren aus dem Pollack-Kowalczuk-Konflikt
Die Kontroverse Pollack-Kowalczuk knüpft nur wenig an dieses Idealbild einer selbstreflexiven Wissenschaft an und erweist sich allenfalls in der Schlussepisode als gelungene Wissenschaftskommunikation. Schon die erste Entgegnung auf den Artikel Pollacks geriet zum geschichtspolitischen Fanal – und gab in vielerlei Hinsicht den Ton für die folgende Debatte vor: Die These Pollacks wurde von Beginn an in eine Auseinandersetzung um die Festveranstaltung zum dreißigsten Jahrestag der Friedlichen Revolution in Leipzig eingeordnet: Ausgerechnet Gregor Gysi, den Parteichef der SED-PDS ab Dezember 1989, hatten die Veranstalter als Festredner zum 9. Oktober eingeladen. Für die Aktiven der Bürgerrechts- und Oppositionsbewegung war das eine Provokation sondergleichen. Schon zu Beginn seiner Entgegnung ordnete Kowalczuk Pollacks Artikel diesem Vorgang zu und wertete ihn als einen weiteren Schritt des Bemühens darum, „die Geschichte der Revolution umzuschreiben“.
Kowalczuks Hauptargument von der Bedeutung der Bürgerrechtsbewegung für die Friedliche Revolution gerann danach zur Behauptung, als mit einem Konsens in der Forschung argumentiert wurde: Ja, ohne Zweifel war die Bürgerbewegung von „entscheidender Bedeutung“ für die Friedliche Revolution, das konzedierte auch Pollack im Folgeartikel.
Laut Kowalczuk waren es Protagonistinnen und Protagonisten der DDR-Opposition, die bewirkten, dass die zuvor vor allem in den Kirchenräumen stattfindenden Leipziger Friedensgebete in die Öffentlichkeit getragen wurden. Ihr jahrelanges und auch mit vielen persönlichen Einschränkungen und Repressionen verbundenes Engagement gilt es zu würdigen – und dennoch blieb ihre Öffentlichkeitswirkung in der DDR begrenzt: zum einen, weil sie – so das später von Pollack angeführte Argument – unterhalb der Schwelle einer möglichen Kriminalisierung durch die Stasi arbeiten mussten und wollten, zum anderen, weil ihre Breitenwirkung in die Bevölkerung insgesamt begrenzt war.
Die zahlenmäßig kleine Gruppe der Oppositionellen und die große Mehrheit der „Normalbürger“ verband wenig – weder in den politischen Ansichten noch mit Blick auf die Lebenswelt und die Alltagsverbringung. Es war hingegen die massive Ausreisewelle, die auch für den Normalbürger- und die -bürgerin klar machte, dass eben nicht alle „in einem Boot saßen“, sondern die Übersiedlung in den Westen eine reelle Alternative zum Leben in der DDR darstellte. Die westdeutschen Fernsehbilder aus den bundesdeutschen Botschaften in Osteuropa transportierten diese Erfahrung in (fast) die ganze DDR und enttäuschten auf diese Weise die Bevölkerung.
Dies ist meine These zur Erklärung der Dynamik der friedlichen Revolution Ende September, Anfang Oktober in Leipzig und anderswo, die nah an der Analyse von Pollack liegt. Damit ist meines Erachtens der Anlass der Demonstrationsbewegung angemessen beschrieben.
Zugleich aber ist es in dieser Frage sinnvoll, nicht in einer Entweder-oder-Logik zu verbleiben und den Blick zu weiten. Wer nicht nur nach den situationsgebundenen Faktoren für die Entwicklung der Demonstrationsbewegung fragt, sondern die Verdichtung der Protestbewegung auch mittel- und längerfristig in den Blick nimmt und auf ihre Ursachen befragt, der wird die Bedeutung der Oppositionsbewegung kaum negieren können: Die Aufdeckung der Fälschungen bei der Kommunalwahl in der DDR Anfang Mai 1989, die sich daran anschließenden Mahnwachen und andere, meist kleine Proteste schufen eine Öffentlichkeit, die nicht mehr von der Diktatur kontrollierbar war.
Und auch wenn aus diesen Zusammenhängen nur wenige direkte Linien zur Demonstrationsbewegung des Herbstes führten, so wurde hier doch sprachlich, symbolisch und in den verschiedenen Aktionsformen ein Weg zur Friedlichen Revolution gebahnt. Max Weber als der Altmeister der Reflexion zur wissenschaftlichen Objektivität hat eindringlich vor der „mittleren Linie“ gewarnt, „die um kein Haarbreit mehr wissenschaftliche Wahrheit (sei), als die extremsten Parteiideale von rechts oder links.“
Ob ich mit meiner Interpretation richtig liege? Darüber kann und sollte man offen streiten. In der Kontroverse wurde das nicht getan. Stattdessen schwenkte die Debatte ins Persönliche, wenn Pollack vorgehalten wurde, von der Situation in Leipzig deswegen nichts wissen zu können, da er zu diesem Zeitpunkt einen Forschungsaufenthalt in der Schweiz verbracht hatte.
Dieser polemische Bogen ging weit über die Suggestion hinaus, dass persönliche Zeitzeugenschaft Voraussetzung für historisches Arbeiten sei. „Vorsichtig formuliert: Wer das Privileg genoss, Reisekader zu sein, gehörte nicht gerade zu den entschiedensten Gegnern des SED-Staates.“
Nicht allein diese Beiträge zeigten, dass die Debatte „weniger mit historischem Detailwissen zu tun (hatte) als mit erinnerungskulturellen Setzungen und Verteidigung der Deutungshoheit“, so rückblickend das Urteil des Historikers Ralf Jessen.
Was aber an Potenzial in dieser Debatte vorhanden war und verschenkt wurde, zeigte im Nachgang eine Sendung des Deutschlandfunks. „Hat die DDR-Opposition die friedliche Revolution herbeigeführt? Oder war es doch (...) die Abstimmung mit den Füßen auf den Straßen der DDR?“, fragte die Journalistin Karin Fischer am 7. September 2019 die beiden Kontrahenten. Nach der Eingangsbeteuerung von Kowalczuk, dass die Differenzen in den Eingangsstatements auf einen fachlichen Disput hinwiesen und „gar nicht so konturiert sind“,
Was ist Wissenschaft?
Wiederholt beschwerte sich Kowalczuk gegenüber dem FAZ-Herausgeber darüber, dass er als wissenschaftlicher Mitarbeiter gegenüber dem Professor aus Statusgründen benachteiligt werde: „das muster ist ganz typisch: der herr professor darf das letzte wort behalten“.
Dazu gehört zunächst, dass wissenschaftliche Expertise in sich begrenzt und vorläufig ist. Diese an und für sich triviale Feststellung schließt mit ein, dass die disziplinäre Nachbarin oder der Fachkollege mit ihren jeweiligen Wissensbeständen und Kompetenzen wertgeschätzt und ernstgenommen werden. Viel grundsätzlicher aber ist: Wissenschaftliche Expertise ist prinzipiell auf Vorläufigkeit und Falsifizierbarkeit angelegt. Wer Ergebnisse nicht als Fakten präsentiert, sondern transparent Auskunft gibt über methodische Verfahren, empirische Grundlagen und eigene Perspektiven, die die Interpretation mit beeinflussen, ist nahezu automatisch vor Dogmatismus gefeit.
Für die Historikerinnen und Historiker lässt sich der Prüfstein für die Wissenschaftlichkeit noch einmal konkretisieren: Wie wenig andere Wissenschaftsdisziplinen lebt die Geschichtswissenschaft davon, dass sie permanent und im Wechselspiel zwei Perspektiven einnimmt. „Während das eine Auge in der Zeit- und Standortgebundenheit des Wissenschaftlers haften bleibt, richtet sich das andere auf die historische Tiefe.“
Nur mittels der Reflexion der eigenen Standortgebundenheit, aber auch mit dem Blick auf das Orientierungsbedürfnis der jeweiligen Gegenwart lässt sich der Blick in die Vergangenheit tatsächlich als methodisch kontrollierte und reflektierte Wissenschaft betreiben. Diese Prämisse historischen Arbeitens war in der Vergangenheit mal mehr, mal weniger stark präsent. In den vergangenen Jahrzehnten hat sich die Einsicht in diesen Zusammenhang nicht nur als Subdisziplin einer „Geschichte zweiten Grades“ etabliert, sondern ist mindestens all denjenigen, die kulturwissenschaftlich inspiriert die Vergangenheit zu Geschichte formen (wollen), zu einer Selbstverständlichkeit geworden.
Davon abgeleitet sollte sich nicht nur die Wissenschaft allgemein, sondern auch die Disziplinen, die aus Vergangenheit Geschichte machen, vor allem als organisierte Skepsis präsentieren, selbst auf die interne Pluralität reflektieren und auf die „Vorbehaltlichkeit“ ihrer Ergebnisse verweisen.
Zitierweise: Thomas Großbölting, "Wem gehört die Friedliche Revolution? Die Pollack-Kowalczuk-Kontroverse von 2019 als Lehrstück von Wissenschaftskommunikation", in: Deutschland Archiv, 14.07.2020, Link: www.bpb.de/312786.