Nach dem 30. Jahrestag des Mauerfalls steht 2020 auch das Jubiläum zu 30 Jahren Deutsche Einheit an. Manchmal gerät dabei in Vergessenheit, dass die deutsche Teilung auch viele gesamteuropäische Dimensionen hatte. Während das Bild der Berliner Mauer wie kein zweites die nationale Dimension verkörpert, umfasst das Sprachbild vom Eisernen Vorhang, der Europa von Finnland bis zur Türkei in zwei Lager teilte, die gesamteuropäische Dimension des internationalen Systemkonflikts.
Europaweit bezahlten viele Menschen ihren Wunsch, diese Grenze zu überschreiten, mit dem Leben. Darunter viele Deutsche. Nach dem Bau der Berliner Mauer 1961 versuchten viele DDR-Bürger*innen ihre Flucht nicht nur an der DDR-Grenze, sondern auch über die CSSR, Ungarn oder Bulgarien. Auch hier kamen viele von ihnen zu Tode und es offenbarte sich ein gesamteuropäisches Phänomen. Nichtsdestoweniger wird das Thema der DDR-Fluchten, Todesfälle und der Kooperation der Staatssicherheitsdienste zur Fluchtbekämpfung in Deutschland bis heute zumeist aus einem auf Deutschland bezogenen Fokus betrachtet. Ausschlaggebend dafür war auch, dass in den 1990er Jahren zunächst nur das deutsche Stasi-Archiv geöffnet wurde und die dort verwahrten Akten das Bild und die Untersuchungsmuster prägten. In dieser Zeit tauchte zum ersten Mal das Sprachbild von der „verlängerten Mauer“ auf, das in den vergangenen Jahren hauptsächlich in Bezug auf die bulgarische Grenze und die dortigen Fluchtversuche von DDR-Bürger*innen verwendet wird.
In Bulgarien versuchten besonders viele DDR-Bürger*innen die Flucht in den Westen. Lange Jahre war darüber wenig bekannt, auch, da die Archive der bulgarischen Staatssicherheit erst im Zuge des EU-Beitritts 2007 geöffnet wurden. Dies hat sich mittlerweile grundlegend verändert, sodass ausführliche Forschungen über die bulgarische Grenze, Fluchtversuche und die Kooperation zwischen den beiden Staatssicherheitsdiensten zur Fluchtverhinderung möglich sind.
Im Folgenden gibt dieser Artikel einen kurzen Überblick über die Grenzsituation und die Fluchten von DDR-Bürger*innen in Bulgarien und berücksichtigt dabei insbesondere die Todesfälle mit deutscher Beteiligung. Einleitend wird dazu auch der Stand der Archivöffnung und Aufarbeitung der kommunistischen Diktatur in Bulgarien umrissen. Ausgehend von Archivforschungen fasst das Fazit die wichtigsten Erkenntnisse zur bulgarischen Grenze während des Kommunismus und den DDR-Fluchten zusammen. Dabei plädieren die Autoren dafür das „griffige Sprachbild“ von der „verlängerten Mauer“ kritisch zu überdenken.
Aktenstand und Aufarbeitung in Bulgarien
Vorausgeschickt seien an dieser Stelle einige Anmerkungen zur Archivsituation und zum Stand der Aufarbeitung in Bulgarien, der in Deutschland kaum zur Kenntnis genommen wurde und wird. Anders als in Deutschland ist die Lage in Bulgarien von hoher Kontinuität geprägt: Der bulgarische Sicherheitsapparat und die Staatssicherheit (Dyrzhavna sigurnost DS) wurden in den „Wendejahren“ zwischen 1989 und 1991 personell reduziert, aufgeteilt und umstrukturiert, eine Auflösung, ein genereller Kaderwechsel oder eine „Demokratisierung“ fanden in den 1990er Jahren jedoch ebenso wenig statt wie eine Archivöffnung und Aktenzugang für Opfer des kommunistischen Regimes.
Die zahlreichen Versuche und Initiativen scheiterten selbst dann noch, als nach der erstmaligen Regierungsübernahme durch die demokratische Opposition 1997 eine entsprechende Kommission eingerichtet und ein Gesetz verabschiedet wurden. Teils wurden diese Bemühungen von den nun umbenannten, aber in direkter Kontinuität der alten Staatssicherheit und Kommunistischen Partei ungebrochen verbundenen Geheimdiensten unterlaufen; teils scheiterten die Kommissionen und Öffnungsversuche aber auch an einem hohen Grad von Politisierung und Instrumentalisierung.
Erst der EU-Beitritt Bulgariens 2007 sowie der Regierungswechsel 2009 brachten neue Bewegung in die Öffnung der DS-Archive und die 2008 gegründete „Kommission für die Dossiers“ (komisijata po dosietata – KOMDOS). Es dauerte bis etwa 2011 bis KOMDOS nicht nur ein eigenes Gebäude, sondern auch einen Archivneubau bekam, in dem auch die nun übergebenen DS-Archive untergebracht wurden. De jure sind die Archive der bulgarischen Staatssicherheit damit seit 2007 und de facto auch spätestens seit 2011 offen und zugänglich. Dies gilt – wie mehrere Forschungen bereits gezeigt haben – auch für die Zusammenarbeit der DS mit dem Ministerium für Staatssicherheit (MfS) und die Frage der DDR-Fluchten und Todesfälle.
Der Stand ihrer Erschließung, gesetzliche Regelungen, Benutzerordnungen sowie die Recherche- und Servicemöglichkeiten des KOMDOS-Archivs unterscheiden sich allerdings in vielerlei Hinsicht – positiv wie negativ – vom MfS-Archiv in Deutschland: Wohingegen das MfS-Archiv archivalisch bereits wesentlich ausführlicher erschlossen ist, entspricht das KOMDOS-Archiv in Sofia weitgehend der Organisation der alten Archive der Staatssicherheit. Thematische Recherchen gestalten sich dadurch schwieriger, dafür bietet das KOMDOS-Archiv den Vorteil, eigenständig in den Findbüchern der DS-Archive recherchieren zu können und nicht auf die Recherchen Dritter angewiesen zu sein. Zudem ist das bulgarische Stasi-Unterlagengesetz vielfach einfacher gehalten als das deutsche, dabei mitunter liberaler beziehungsweise offener, was den Zugang zu Informationen aus Personenakten angeht.
Im Gegenzug ist es jedoch teilweise restriktiver, was Personenakten bestimmter Gruppen (z. B. Ausländer oder Personen, die laut Gesetz keiner Prüfung unterlagen) anbelangt. Anders hingegen ist die Lage bei der strafrechtlichen Aufarbeitung, Rehabilitation oder der Erinnerungskultur für die Opfer des Kommunismus in Bulgarien. Gerade in Bezug auf Fluchtversuche und Todesfälle an der Grenze gab es hierbei bislang keinerlei Entwicklung. Dies gilt zum Beispiel auch für die Gräber getöteter Flüchtlinge an der Süd- und Westgrenze Bulgariens. Diese Gräber waren und sind, wie auch die Gräber anderer Opfer des kommunistischen Unrechtsregimes, nicht gekennzeichnet, und weder bulgarische noch ausländische Todesopfer sind offiziell als Opfer des totalitären Regimes anerkannt worden.
Die bulgarische Grenze
Die bulgarische Grenze hat eine Gesamtlänge von 2.245 km. Die östliche und die südliche Grenze waren in der Zeit zwischen 1945 und 1990 gleichzeitig die südöstliche Grenze des „Sozialistischen Lagers“. Die bulgarischen Landesgrenzen waren vor 1944 nur mit Grenzsteinen markiert, durch wenige Grenzsoldaten bewacht und mit Grenz- und Zollstationen an den Hauptwegen versehen. Das kommunistische Regime machte sich nach der Machtübernahme am 9. September 1944 daran, die Grenzen zur Türkei, zu Griechenland und Jugoslawien zu schließen und sie in einen Teil des „Eisernen Vorhangs“ zu verwandeln. Die Führung der Bulgarischen Kommunistischen Partei (BKP) stellte dem Oberkommando der Grenztruppe die Aufgabe, „alle Maßnahmen zu ergreifen, die Grenze zu schließen und zu verhindern, dass feindliche und irre geführte Elemente ungestraft die Grenzen des Landes überqueren“.
Im Winter 1947 sandte die Sowjetregierung eine Gruppe hoher Offiziere der sowjetischen Grenztruppen, angeführt von General Jacob Grigorowitsch Kotomin als Ausbilder, zur Reorganisation und Verbesserung der Sicherheit in der Bewachung der bulgarischen Grenze. Am 9. Oktober 1947 genehmigte der Ministerrat eine von sowjetischen Spezialisten vorgeschlagene neue Struktur der Grenztruppen und die Anzahl der Grenzsektoren wurde erhöht. Die bis dahin bestehenden Unterteilungen und Grenzposten wurden abgeschafft und stattdessen neue Grenzposten nach sowjetischem Modell („Zastava“) aufgebaut. Jede in unmittelbarer Nähe der Grenzlinie eingerichtete „Zastava“ war mit Waffen und Munition ausgestattet. Bis Anfang 1948 wurde entlang der gesamten Grenze rund um die Uhr gearbeitet, um Aussichtstürme (Vishka) und Schützengräben zu errichten sowie Netze und Grenzkontrollstreifen anzulegen.
Nach Beratung von Vertretern des sowjetischen KGB und der DS wurden 1953 eine Reihe von Maßnahmen zur Erweiterung der Bewachung der bulgarischen Grenze getroffen:
sorgfältige Auswahl des Personalbestandes der Grenztruppen
öffentliche Prozesse gegen Flüchtlinge
Zwangsumsiedlung von „unzuverlässigen Personen“ aus dem Grenzgebiet
Vorbereitung von Agenten und deren Einschleusung in die Grenzzonen.
Entlang der Grenze wurden Sperrgebiete mit einer Tiefe von zehn, fünfzehn oder mehr Kilometern eingerichtet, zu denen der Zugang nur mit einem besonderen Passierschein erlaubt war, der von der Direktion der Miliz für einen bestimmten Zeitraum ausgestellt wurde. Bei der Festlegung der Grenzzone wurden alle „unzuverlässigen Familien“ ins Landesinnere umgesiedelt, und Bewegungen von fremden Personen mussten sofort gemeldet werden. Dafür wurde unter der lokalen Bevölkerung ein Überwachungs- und Meldesystem eingeführt.
Die bulgarische Grenzsicherung unterschied sich in verschiedener Hinsicht von der Sicherung der innerdeutschen Grenze. Dazu gehörte das breite Sperrgebiet. Ab 1959 wurde unter Ausnutzung und in Anpassung der im jeweiligen Grenzabschnitt vorhandenen Geländestruktur in einer Entfernung von ca. drei bis fünf Kilometern von den Grenzsteinen ein 2,50 Meter hoher Grenzsicherungszaun – Grenzsignalanlage vom Typ „S-100“ genannt – errichtet. Elektronische Signale und automatische Kontrollen sicherten den Hauptzaun. Es gab ein vernetztes System von Signal- und Warneinrichtungen, welche die diensthabende Einheit in Alarm versetzen konnten. Ein zweiter Stacheldrahtzaun zog sich ein bis zwei Kilometer von der eigentlichen Staatsgrenze entfernt den gesamten Grenzverlauf entlang. Am Grenzzaun wurde ein breiter Streifen als Kontrollstreifen zur Spurensuche umgepflügt und in regelmäßigen Abständen von einer Patrouille mit Spürhunden abgesucht. Irreführende Scheingrenzen und Bewegungshindernisse wurden angelegt. Dieser „S-100“-Signalzaun war das hauptsächliche physische Element der bulgarischen Grenzsicherung. Dieses „System“ unterschied sich damit deutlich von der „Mauer“ und der innerdeutschen Grenzanlage.
Von Ende der 1960er bis Ende der 1980er Jahre wurden die Absperrungen und der „Spitzelapparat“ in den Grenzzonen Bulgariens so perfektioniert, dass das illegale Überwinden der Grenzsperren sehr schwer, riskant und gefährlich wurde. Teile der Bevölkerung in der Sperrzone wurden gezwungen, sich am System für die Bespitzelung und das Abfangen von Menschen zu beteiligen, die aus dem Landesinneren kamen. Hierbei errichtete das kommunistische Regime ein System positiver Anreize, z. B. durch Belohnungen, Sach- oder Geldgeschenke, sowie Strafen (Verhaftung, Nicht-Zuteilung von Waren, Gütern oder Leistungen). In den ersten Jahren nach der Schließung der Grenze unterlagen die Anwohner häufigen Provokationen seitens der DS, die sogar Pseudoflüchtlinge schickte, um zu prüfen, ob die Menschen sie melden würden.
Im Jahr 1947 wurden aus der Grenzbevölkerung „Mitarbeitergruppen“ gebildet, die im Jahr 1960 in „Freiwillige Gruppen der Werktätigen” umgebildet wurden. Das Politbüro des Zentralkomitees (ZK) der BKP verpflichtete die Bezirks- und Kreiskomitees, in Zusammenarbeit mit den Politabteilungen der Grenztruppe „die Bevölkerung des Grenzgebietes zur Ergebenheit gegenüber der Volksmacht und zum Hass gegen die Feinde“ zu erziehen.
Flüchtlinge, denen es gelang, die Grenze illegal zu überwinden, wurden von dem totalitären Regime bis 1989 als „Landesverräter“ behandelt, konnten deswegen nicht mehr in ihre Heimat einreisen und waren zur Fahndung ausgeschrieben. Bis 1975 wurden Fluchtversuche mit 15 Jahren Gefängnis bestraft. Den Familien der Grenzverletzer wurden höhere Bildung und Berufsentwicklung versagt. Dazu hieß es: „Gemäß Art. 155 und Art. 156 des Strafrechts werden mit strenger Haft von einem bis 15 Jahren, einer Geldstrafe von bis zu 500 000 Leva und teilweiser oder vollständiger Beschlagnahme des Besitzes, die Personen bestraft, die ohne Erlaubnis der Behörden über die Grenze die Republik verlassen, sowie diejenigen, die ein illegales Verlassen vorbereiten oder versuchen und Personen, die die Täter solcher Verbrechen unterstützen, es ihnen erleichtern oder sie verstecken; die Personen, die feindliche Gerüchte im Ausland verbreiten, die den Interessen der Republik schaden und die Autorität der Volksmacht untergraben, entweder verbal, mit gedruckten Werken, per Funk oder auf andere Weise äußern oder den Verrat gegen unsere Republik oder den Ungehorsam in den Volksstreitkräften und der Volksmiliz loben.”
Neben den physischen und militärischen Einrichtungen zur Grenzsicherung setzten die bulgarischen Sicherheitsorgane ab den 1970er Jahren und mit dem Aufkommen des Massentourismus auch auf digitale Technologien wie z. B. das „automatische System zur Kontrolle und Registrierung von Ausländern (SKRETSCH)“, ein Teilsystem zur Spionageabwehr (ISKRA). Hauptbestandteil des Systems SKRETSCH war die computergestützte Überwachung von Ausländern ab dem Grenzübergang bis zur Ausreise, inklusive der Grenzfahndung. Dies stellte eine Reaktion auf neue Fluchtmethoden mit Hilfe gefälschter Pässe, Fluchthelfern und präparierten Touristenfahrzeugen dar, die vor allem in den 1970er Jahren aufkamen.
Es kann also zusammengefasst werden, dass die bulgarische Grenze und die systematischen Planungen und Konzeptionen zur Verhinderung von Fluchten bereits in den 1950er Jahren fertiggestellt waren und fortan nur punktuell nachgebessert wurden. Alle Vorkehrungen richteten sich zuallererst an die bulgarische Bevölkerung. Weder bei der Grenzsicherung noch bei taktischen Überlegungen ließ sich irgendein Einfluss der DDR-Regierung, des MfS oder der früheren Fluchten von DDR-Bürgern feststellen. Dies galt auch nach dem Bau der Berliner Mauer 1961, in dessen Folge es zu keinerlei Veränderungen oder Absprachen mit der DDR bezüglich der bulgarischen Grenze kam. Allesamt abgestimmt wurden diese Maßnahmen einzig zwischen der bulgarischen Staats- und Parteiführung, der DS, den Grenztruppen und mit dem sowjetischen KGB. In ihrer Gesamtkonzeption wurde die bulgarische Grenze und ihre „Sicherung“ also in keinerlei Hinsicht durch die Fluchtbewegungen von DDR-Bürger*innen beeinflusst, sondern vor allem auf bulgarische Bürger zugeschnitten. Der in Deutschland mitunter gebrauchte Ausdruck einer „verlängerten Mauer“ in Bulgarien scheint daher unpassend (und ist in Bulgarien, wie im Rest Europas, nicht gebräuchlich).
DDR-Fluchten über Bulgarien und die Operativgruppe des MfS
Es gehört gleichfalls ins Reich der Mythen, dass die Frage der DDR-Touristen in Bulgarien als Arbeitsgebiet der Staatssicherheitsdienste erst nach dem Mauerbau 1961 aufkam. Tatsächlich wandte sich der bulgarische Innenminister bereits 1958 an den Minister für Staatssicherheit Erich Mielke und schlug die Entsendung operativer Mitarbeiter des MfS nach Bulgarien vor. Als Begründung wurde das Aufeinandertreffen west- und ostdeutscher Touristen in Bulgarien angegeben, wobei die bulgarische Staatssicherheit intern ein großes Interesse an den Erfahrungen des MfS zur Spionageabwehr gegen bundesdeutsche Geheimdienste hatte, deren Agenten man unter den Touristen wähnte.
Diese Vorschläge der bulgarischen Staatssicherheit wurden allerdings erst im Jahr nach dem Mauerbau erhört, als Minister Mielke fast monatlich Meldungen über Fluchtversuche in Bulgarien erreichten. Im Sommer 1962 wurde allerdings gerade mal ein einziger MfS-Mitarbeiter ohne Orts- und Sprachkenntnisse entsandt, der sich mit der bulgarischen Staatssicherheit koordinieren sollte. Erst in den 1970er Jahren entwickelte sich das System der Zusammenarbeit und der MfS-Präsenz zu dem, wie es 1989 bestand. Dies gestaltete sich folgendermaßen: Es gab eine ganzjährige Präsenz von MfS-Mitarbeitern zur Fluchtverhinderung in der DDR-Botschaft in Sofia, und während der Sommersaison wurden Mitarbeiter in die Küstenstädte Varna und Burgas entsandt. Dort kamen auch verdeckte MfS-Mitarbeiter sowie inoffizielle Mitarbeiter zum Einsatz, die teilweise über das Reisebüro der DDR geschickt und unter anderem als normale Touristen auftraten, im Geheimen jedoch durch die Operativgruppe „betreut“ wurden. Für verhaftete DDR-Flüchtlinge wurden eigens Mitarbeiter der MfS-Untersuchungsabteilung zu Befragungen sowie ein Transportflugzeug des MfS nach Bulgarien entsandt. Diese Zusammenarbeit mit dem bulgarischen Sicherheitsapparat war dabei über ein Rechtshilfeabkommen sowie über mehrere, zwischen MfS und DS schriftlich abgeschlossene Vereinbarungen fixiert.
Die genaue Anzahl aller Fluchtversuche von DDR-Bürger*innen in Bulgarien ist nur schwer zu ermitteln. Die Operativgruppe des MfS in Bulgarien dokumentierte bis 1989 rund 2 000 Fluchtversuche (ca. 500 erfolgreich, 1.500 erfolglos), ohne dass damit Anspruch auf Vollständigkeit erhoben werden konnte, da aus den frühen Jahren nur unvollständige Aufzeichnungen vorhanden sind und geglückte Fluchten oftmals unterschlagen wurden. Die meisten erfolgreichen Fluchten (bis zu 60 pro Jahr) fielen dabei in die Zeit bis zum Ende der 1960er Jahre. Danach glückten nur noch weniger als zehn Fluchtversuche mit DDR-Beteiligung pro Jahr. Die Gesamtzahl aller Fluchtversuche an der bulgarischen Grenze ist gleichfalls nicht genau zu ermitteln, die Mindestangaben gehen jedoch von 16.000 Fluchtversuchen aus.
Doch warum wählten mindestens 2 000 DDR-Bürger Bulgarien als Fluchtort? Hier kamen verschiedene Faktoren zusammen. Zum einen kursierten offenbar gerade Anfang der 1960er Jahre (falsche) Gerüchte darüber, dass die bulgarische Grenze nach Griechenland und zur Türkei leichter zu überwinden sei als die innerdeutsche Grenze. Ähnliche Gerüchte übertrugen fälschlicherweise den entspannten Umgang bulgarischer Urlaubseinrichtungen und Bürger*innen mit den DDR-Touristen auf eine vermeintlich liberale und nachlässige Einstellung der bulgarischen Staatssicherheit und Grenztruppen. Beides waren gefährliche Irrtümer, wie die oben beschriebenen Mechanismen und Konzeptionen zur Fluchtverhinderung und Grenzsicherung zeigen. Gleichfalls wiederholen gefangene DDR-Flüchtlinge in Befragungen des Öfteren, dass unter DDR-Touristen die Meinung kursiere, bulgarische (Sicherheits-)Behörden würden sich nicht (oder zumindest weniger als ihre DDR-Kollegen) für deutsch-deutsche Kontakte in Bulgarien oder für Fluchtversuche von DDR-Bürger*innen interessieren.
Sowohl die dichte und brutale Vorgehensweise und Konzeption zur Fluchtverhinderung an der bulgarischen Grenze als auch die Kooperationsmechanismen und „Hilfe“, die bulgarische Behörden für das „sozialistische Bruderland DDR“ leisteten, wurden weder beachtet noch für möglich gehalten. Der andere wichtige Faktor für die zahlreichen Fluchtversuche war der (deutsche) Massentourismus in Bulgarien. Dieser begann bereits in den 1950er Jahren, wobei schon zu dieser Zeit westdeutsche Touristen die größte Gruppe westlicher Ausländer ausmachten. Dies begünstige einerseits Zusammenkünfte, Absprachen und Kontakte, wie zum Beispiel mit Fluchthelfern. Andererseits war in Bulgarien ein Strand- oder Wanderurlaub in unmittelbarer Nachbarschaft zum westlichen Ausland möglich, was viele Fluchtwillige offenbar zusätzlich motivierte.
Bei den Fluchtversuchen wurden verschiedene Methoden und Wege angewandt, um vor allem in die Türkei, nach Griechenland und seltener nach Jugoslawien zu flüchten. Dazu gehörten: verschiedene Methoden der Schleusung, z. B. im KFZ-Versteck (Pkw, Lkw, Omnibus), auf dem Schiffsweg, im Zug, im Flugverkehr, ferner Fluchtversuche über das Schwarze Meer mit Hilfe eines Fischer-, Ruder-, Falt-, Kunststoff- oder Schlauchbootes, mit oder ohne Außenbordmotor, zu Fuß über die „grüne Grenze“, durch Schwimmen an der Schwarzmeerküste oder über die Grenzflüsse sowie in Kooperation mit Fluchthelfern.
Der überwiegende Teil der Flüchtlinge versuchte, die Grenzabsperrungen und Grenzsicherungsanlagen der VR Bulgarien zur Türkei, zur Sozialistischen Föderativen Republik Jugoslawien (SFRJ) oder nach Griechenland illegal zu überwinden. Dabei ist charakteristisch, dass die Bürger*innen der DDR – in der überwiegenden Mehrzahl Jugendliche – keine Kenntnisse über das Grenzregime der VR Bulgarien zu dessen Anliegerstaaten besaßen. Stattdessen ließen sie sich oft von Annahmen leiten, dass die Staatsgrenzen der VR Bulgarien nicht so stark gesichert seien wie die Grenzen der DDR zur Bundesrepublik oder zu West-Berlin. Sie reisten in die VR Bulgarien meistens als Individualreisende, ohne Leistungen der Reisebüros. Nur in Einzelfällen hielten sich die Fluchtwilligen in den bekannten touristischen Ballungszentren an der bulgarischen Schwarzmeerküste auf. Weiterhin war typisch, dass die Bürger*innen der DDR anhand von Atlanten und Reiseführern, die sie zum Teil nach der Einreise in die VR Bulgarien kauften, zunächst in grenznahe Orte (z. B. Kulata, Smoljan, Michurin, Kalotina) reisten beziehungsweise reisen wollten, die sie verkehrsgünstig erreichen konnten.
Danach erfolgten von dort aus die unmittelbare Erkundung des Grenzregimes und die Bestimmung der Grenzübertrittsstelle. Bei der Festlegung der Richtung anhand von Kartenmaterial orientierten sich die Fluchtwilligen an solchen Grenzabschnitten, die in bergigem und bewaldetem Gelände lagen. Sie waren der Annahme, dort günstigere Möglichkeiten für das Eindringen in den grenznahen Raum vorzufinden. Manche Fluchtwilligen unterhielten durch Vermittlung ihrer in der Bundesrepublik lebenden Verwandten und Bekannten zum Zwecke des illegalen Verlassens der DDR Verbindung zu einer Schleusungsorganisation. Durch verschiedene Kuriere, bei denen es sich um Verwandte und Bekannte dieser DDR-Bürger*innen handelte, erhielten sie detaillierte Schleusungsinstruktionen. Nachdem sie Passbilder und Unterschriftsproben über diese Kuriere an die Schleusungsorganisation übermittelt hatten, erhielten sie die Schleusungstermine.
Flüchtlinge, die die DDR über Bulgarien zu verlassen versuchten, fanden manchmal auch Fluchthilfe bei bulgarischen Staatsbürgern. Im Abschlussbericht der Abteilung XX/5/IV vom 20. November 1969 über den Einsatz der Operativgruppe in Bulgarien desselben Jahres gab es zum Beispiel „einen offiziellen Beweis für die Mitwirkung bulgarischer Bürger beim Versuch des illegalen Verlassens der DDR über die VR Bulgarien“. Bulgarien war daran interessiert, möglichst viele Touristen aus beiden Teilen Deutschlands an die Schwarzmeerküste zu locken. Die Reise nach Bulgarien war für viele Familienangehörige im geteilten Deutschland nach 1961 eine der letzten Möglichkeiten zur Begegnung mit Westverwandten und -bekannten. Deswegen war das MfS nicht immer zufrieden mit den Methoden des bulgarischen Bruderorgans. Dies betraf besonders die „symbolischen” Strafen für die in der VR Bulgarien festgenommenen und als Schleuser und Fluchthelfer beschuldigten Bürger*innen der Bundesrepublik und der anderen Westländer.
Die wohl häufigste Fluchtart von DDR-Bürger*innen in Bulgarien war die Flucht auf dem Landweg, entweder durch die Rhodopen nach Griechenland oder durch das Grenzgebiet in die Türkei. Beide waren aus den Touristenregionen relativ leicht zu erreichen, allerdings waren Fluchten dieser Art nur bis Ende der 1960er Jahre relativ erfolgreich, aber auch brandgefährlich: Fast alle deutschen Todesopfer in Bulgarien wurden bei Fluchten auf dem Landweg im unwegsamen Grenzgelände erschossen. In den 1970er Jahren, als nicht nur der DDR-Tourismus, sondern auch der westdeutsche Massentourismus in Bulgarien Höhepunkte erreichten, wurden immer mehr Fluchten unter Mitwirkung von Fluchthelfern wie z. B. Wolfgang Welsch durchgeführt. Diese arbeiteten immer öfter mit gefälschten Pässen und oder präparierten Fahrzeugen. Um diese Methoden aufzudecken, organisierten das MfS und die bulgarische Staatssicherheit jährliche Treffen und regelmäßigen Austausch, sodass auch hier kein Erfolg garantiert war. Immerhin endete diese Art der Fluchtversuche nie mit einem Todesfall.
Deutsche Todesopfer in Bulgarien
Die genaue Anzahl der Todesopfer an der bulgarischen Grenze ist bis auf den heutigen Tag nicht restlos aufzuklären. Als Antwort auf eine parlamentarische Anfrage nannten der bulgarische Innenminister Jordan Sokolov und Verteidigungsminister Dimityr Ludzhev am 21.2.1992 die Zahl von 339 Menschen. Alleine 270 davon sollen in der Frühzeit zwischen 1947 und 1953 zu Tode gekommen sein. Da verschiedene Jahre in dieser Aufzählung fehlten sowie offensichtlich statistische Fehler unterliefen, handelt es sich dabei wohl um eine Mindestanzahl. Unter diesen mindestens 339 Toten nannten die Minister, die bislang die verlässlichsten Zahlen lieferten, die Summe von mindestens 36 ausländischen Todesopfern. Darunter bildeten Deutsche die bei Weitem größte ausländische Opfergruppe. Die genaue Anzahl deutscher Todesopfer ist allerdings auch heute noch schwer zu ermitteln: In den deutschen und bulgarischen Archiven nachweisbar sind mindestens 21 Personen. Mitunter wurde die Anzahl der deutschen Todesopfer in Bulgarien deutschen Presseberichten auf bis zu 90 erhöht. Obwohl dabei von „gesicherten Tatsachen“ für die Existenz dieser Todesopfer gesprochen wurde, wurden bislang keine wissenschaftlich nachweisbaren Beweise und Quellen für höhere Opferzahlen veröffentlicht.
Ähnlich unseriös waren Meldungen über angebliche „Kopfprämien“ von 1000 D-Mark, die die DDR angeblich für erschossene Flüchtlinge an bulgarische Grenzer bezahlt habe. Für diese offenbar auf Hörensagen beruhenden Gerüchte, die es bis in deutsche Tagesmedien schafften, konnte in den Archiven kein Hinweis gefunden werden. Stattdessen wehrte sich die bulgarische Staatssicherheit z. B. gegen Versuche des MfS, Offiziere und Mitarbeiter mit Orden auszuzeichnen. Dass wehrdienstleistende Grenzsoldaten von einer ausländischen Geheimpolizei mit Geldprämien, die die Höhe eines Ministergehaltes überstiegen, ausgezeichnet worden sein sollen, erscheint daher ausgeschlossen. Ferner erscheint es absolut unschlüssig, warum das MfS in Bulgarien horrende „Kopfprämien“ hätte zahlen sollen, in der DDR (und den anderen sozialistischen Staaten) aber darauf verzichtete.
Ebenso zeigten Archivforschungen, dass bulgarische Grenzsoldaten, bei denen es sich oftmals um Wehrdienstleistende handelte, durch ein System von positiven (Belohnungen wie fünf Tage Sonderurlaub oder kleine Sachgeschenke) und negativen (Strafdienste, körperliche Arbeit, Urlaubssperren) Anreizen „motiviert“ wurden. Die ideologisch gedrillten und oft blutjungen Grenzsoldaten waren dabei – im Gegensatz etwa zu rumänischen Grenzsoldaten – angehalten, nach einem Warnruf sofort scharf und tödlich zu schießen. Dieser „Schießbefehl“ an der bulgarischen Grenze wurde offiziell mit der Verordnung über den Einsatz von Schusswaffen für die Grenztruppen im Erlass des Präsidiums der Volksversammlung vom 28. August 1952 geregelt. Der Erlass galt wie alle Maßnahmen zur Grenzsicherung ohne Unterschied für Flüchtlinge aller Nationalitäten. So ist auch in keinem einzigen deutschen Todesfall aus den Akten ersichtlich, dass die Grenzsoldaten vor der Identifizierung von der Nationalität der Opfer Kenntnis hatten.
1986 fasste der damalige bulgarische Innenminister Dimiter Stojanov während einer Sitzung mit seinen Stellvertretern und Abteilungsleitern die Regelung zum Gebrauch der Schusswaffe an der Grenze kurz und brutal zusammen: „Es gibt ein System der Bewachung der Staatsgrenze der VRB, dieses System müssen Sie in die Tat umsetzen. Wer flüchtet, wird festgenommen, wer sich nicht ergibt, wird erschossen.“ Offiziell waren bulgarische Grenzsoldaten also zu Warnrufen und Warnschüssen angehalten, die Flüchtende zum Aufgeben bewegen sollten. In der Praxis gab es jedoch seitens überlebender Flüchtlinge immer wieder Aussagen, dass die Soldaten ohne jegliche Vorwarnung scharf geschossen hätten. Auffällig war im Sinne des oben beschriebenen Systems der Grenzsicherung und der Kooperation von MfS und DS auch, dass es in keinem einzigen aktenkundigen Todesfall zu vorherigen gemeinsamen Konsultationen, Absprachen oder Maßnahmen zwischen der Operativgruppe des MfS in Bulgarien, der MfS-Zentrale in Berlin und der bulgarischen Staatssicherheit oder den Grenztruppen kam. Die Arbeit der Operativgruppe im Allgemeinen und ihre Kooperation mit der bulgarischen DS im Speziellen waren – trotz der Bedeutung der systematischen Zusammenarbeit von DS und MfS – im Vorfeld der Todesfälle und für deren unmittelbaren Hergang also nur von geringer Bedeutung.
Eine besonders perfide Absprache zwischen MfS und dem bulgarischen Innenministerium gab es allerdings in Bezug auf deutsche Todesopfer: So galt zwischen 1962 und 1974/75 die mündlich vereinbarte Vorgehensweise, dass deutsche Todesopfer direkt vor Ort zu bestatten waren. So sollten einerseits aufwendige Leichentransporte und andererseits unliebsame Fragen von Angehörigen verhindert werden. Mitte der 1970er Jahre, als die DDR nach dem Grundlagenvertrag mit der Bundesrepublik auch um Aufnahme in internationale Organisationen ersuchte, kam es bei dieser Regelung zu Veränderungen. Maßgeblich trugen auch die Familien zweier 1966 an der griechischen Grenze erschossenen Todesopfer dazu bei. Nachdem die Eltern über acht Jahre immer wieder bei staatlichen Stellen in der DDR vorsprachen, Druck machten und sich an internationale Organisationen wenden wollten, entschlossen sich die Minister Mielke und Stojanov, von nun an bei Todesfällen immer die DDR-Botschaft in Sofia einzuschalten, die dann über das weitere Vorgehen entscheiden sollte. Aussagen ehemaliger DDR-Botschaftsangehöriger, nie mit Todesfällen in Kontakt gekommen zu sein, sind nachweislich falsch.
Zwei Einzelfälle sind ferner von besonderem Interesse und verdeutlichen einerseits den brutalen Einsatz von Gewalt an der bulgarischen Grenze und andererseits die heutigen Möglichkeiten, diese Fälle zu rekonstruieren. So verzeichnete die bulgarische Staatssicherheit im August 1974 den Todesfall von Reinhard Poser. Dieser sei – so der Bericht – mit dem Gesicht zum Landesinneren rückwärts zur türkischen Grenze gelaufen, habe sich nicht ergeben und wurde erschossen. Die teils absurde Darstellung der Einzelheiten weckt Zweifel an dem in den Akten festgehaltenen Tathergang. Dies gilt dabei exemplarisch für nahezu alle Todesfälle, in denen standardisierte Formulierungen verwendet wurden, nach denen sich die Flüchtenden „nicht ergeben hätten“ und daraufhin erschossen wurden. Immer wieder jedoch sind Aussagen von Flüchtlingen erhalten, die davon berichten, dass auch auf mit erhobenen Händen stehende Personen geschossen wurde. In einem anderen Fall, der Flucht von Brigitte von Kistowski und Klaus Prautzsch, verfolgten die bulgarischen Grenzsoldaten nach eigenen Aussagen das flüchtende Pärchen sogar bis auf griechisches Territorium, gaben dabei tödliche Schüsse ab und schleiften die mehrfach tödlich getroffenen Leichen anschließend zurück nach Bulgarien. Damit hätten die Grenzsoldaten – wäre der Fall entdeckt worden – auch einen schwerwiegenden internationalen Zwischenfall mit dem NATO-Mitglied Griechenland riskiert.
Fazit
Die kommunistische Diktatur in Bulgarien erhält bis heute in Deutschland nur wenig Beachtung. Dies gilt auch für die bulgarische Grenze, für DDR-Fluchten und Todesopfer wie auch für die Aktenöffnung und Aufarbeitung des kommunistischen Unrechtssystems. Die bulgarische Grenze und ihre Sicherung war ein Teil der Systemgrenze des „Eisernen Vorhangs“. Das System ihrer Grenzsicherung und der Fluchtbekämpfung wurde, wie hier beschrieben, zwischen 1944 und 1959 entworfen und eingerichtet, danach erhielt es fast ausschließlich technische Veränderungen. Mindestens 21 Deutsche fielen diesen Mechanismen in Bulgarien zum Opfer. Diese Fälle zu erforschen, ist bereits seit einigen Jahren aufgrund geöffneter Archive möglich, wenn auch viele Akten unvollständig sind. Aufarbeitung, Rehabilitierung, Wiedergutmachung und gleichwertige Anerkennung dieser Opfer mit denen an der innerdeutschen Grenze stehen allerdings noch am Anfang.
In erster Linie richtete sich das System der bulgarischen Grenzsicherung gegen bulgarische Fluchtversuche. Dieser Befund mag banal erscheinen, ist jedoch entscheidend für die Einordnung der bulgarischen Grenze. So plädieren die Autoren dafür, im Kontext der bulgarischen (und auch der anderen sozialistischen) Staatsgrenzen nicht von einer „verlängerten Mauer“ zu sprechen. Der „Eiserne Vorhang“ war eben nicht „synonym“ mit der Berliner Mauer. Dafür gibt es gute Gründe: Zu allererst waren die jeweiligen Landesgrenzen in den Staaten des sozialistischen Machtbereichs Mechanismen und Bollwerke, um die Bevölkerung der eigenen Staaten von der Flucht abzuhalten. Das Sprachbild von der „verlängerten Mauer“ deutet jedoch an, es habe sich hier um Grenzen gehandelt, die die Funktion der Berliner Mauer im europäischen Ausland fortsetzten. Damit wird diesen Grenzen eine (deutsche) Bedeutung und Dimension zugeschrieben, die sich wissenschaftlich nicht nachweisen lässt. Und auch weder Chronologie noch Geographie stimmen zwischen „Mauer“ und „Eisernem Vorhang“ überein: Winston Churchills (ehemaliger britischer Premierminister) „Eiserner Vorhang“ teilte Europa schon in den 1940er Jahren, die Mauer erst 1961; der „Eiserne Vorhang“ reichte von der finnisch-sowjetischen Grenze bis kurz vor den Bosporus, nicht überall entlang dieser Systemgrenze kam es jedoch – auch nach 1961 – überhaupt zu Fluchtversuchen mit deutscher Beteiligung. Es kann daher kaum verwundern, dass in keinem Land des ehemaligen sozialistischen Machtbereichs von einer „verlängerten Mauer“ gesprochen wird.
Bulgarien ist eines der besten Beispiele: Alleine die Chronologie der Ereignisse zeigt, dass die bulgarische Grenze bereits vor der Berliner Mauer in ihrem System der Grenzsicherung gewachsen war und durch die Veränderungen an der innerdeutschen Grenze 1961 nicht einmal dann grundsätzlich beeinflusst wurde, als DDR-Bürger*innen massenhaft über Bulgarien flüchteten. Das MfS, obgleich in Bulgarien präsent und in ständiger Kooperation mit der bulgarischen Staatssicherheit, hatte ebenfalls nur einen begrenzten Einfluss auf die bulgarische Grenze. Dies zeigte sich gerade bei den tödlichen Fluchtversuchen, in die das MfS ausnahmslos erst nach dem Todesfall involviert war. Auch die Kooperation von MfS und bulgarischer Staatssicherheit war – zumindest bei den deutschen Todesfällen in Bulgarien – von wesentlich geringerer Bedeutung als die Arbeit der bulgarischen Staatssicherheit und Grenztruppen. Dass überhaupt MfS-Offiziere in Bulgarien aktiv wurden, ging auf Initiativen der bulgarischen Staatssicherheit zurück, die bereits 1958 – also ebenfalls vor dem Bau der Berliner Mauer – begannen. Der „Eiserne Vorhang“, der Europa fast ein halbes Jahrhundert lang teilte, reichte vom Nordpol bis zur Türkei. An vielen, wenn auch nicht allen seiner Grenzen flüchteten und starben Deutsche. Selbst 30 Jahre nach Mauerfall und Wiedervereinigung ist der Stand der Aufarbeitung in vielen Fällen unbefriedigend. Das Beispiel Bulgarien zeigt, dass dadurch sowohl nationale als auch gesamteuropäische Fragen berührt werden; und dass auch nach Jahrzehnten viele – wenn auch nicht alle – offenen Fragen erforscht und geklärt werden können.
Zitierweise: Fanna Kolarova/Stoyan Raichevsky/Christopher Nehring , "Die Grenze der Volksrepublik Bulgarien 1945-1989 - Fluchten von DDR-Bürgern in Bulgarien: Das Wichtigste zu Akten, Zahlen, Todesfällen.", in: Deutschland Archiv, 29.06.2020, Link: www.bpb.de/312154.