I. Ist der Vergangenheit zu gedenken nicht mehr systemrelevant?
Es ist nicht die Stunde der Historiker. In die politische Abwägung der geeignetsten Instrumente zur Eindämmung der mit dem Corona-Virus ausgebrochenen Seuche sind neben Virologen und Epidemiologen vor allem Ökonomen und Soziologen eingebunden. In der Diskussion um die Priorisierung politischer und medizinischer Maßnahmen werden ethische und philosophische Argumente abgewogen, kaum aber historische. Auch in der Denkschrift „Coronavirus-Pandemie – Die Krise nachhaltig überwinden“ der Leopoldina, die der Entscheidung von Bund und Ländern über die Verlängerung des gesellschaftlichen Stillstands am 19. April 2020 zugrunde lag, wurden historische Perspektiven nicht ausgelotet.
Zu demselben Befund führt der Blick in den historischen Kalender unserer Tage. Ferngerückt ist die vor wenigen Wochen noch so starke Empörung über die kalkulierten Provokationen von Rechtspopulisten, die die NS-Herrschaft als „Vogelschiss“ abtun wollen oder kokette Wortspiele mit dem Namen von Vernichtungslagern treiben. Abgesagt wurden nicht nur Gegenwartsveranstaltungen, sondern auch Erinnerungsdaten. Der 100. Jahrestag des Kapp-Lüttwitz-Putsches vom März 1920 blieb publizistisch ohne Echo.
Gleiches gilt für die aufwendig geplanten Erinnerungsfeiern zu Ehren des 75. Jahrestags der Befreiung der nationalsozialistischen Konzentrationslager in Buchenwald oder Sachsenhausen im April. Der eben noch das Land bewegende Streit um das Hohenzollernerbe ist unbemerkt erloschen, und der jahrelang erbittert umkämpfte Wiederaufbau der Potsdamer Garnisonkirche ist ebenso vom Dunkel verschluckt wie die identitätspolitischen Gefechte um anstößige Straßennamen, die sich eben noch kompromisslos gegen deutsche Mohrenstraßen und Hindenburgalleen richteten.
Auch dass sich am 16. April die Schlacht auf den Seelower Höhen zum 75. Mal jährte, die den Sturm der Roten Armee auf Berlin eröffnet hat, berührt die Öffentlichkeit wenig, und selbst der
Rückbesinnung zielt auf Selbstvergewisserung; sie versichert sich ihrer Identität aus der Nähe zur Vergangenheit oder aus der fortgesetzten Abgrenzung von ihr. Die Corona-Krise trennte auf gesellschaftlicher Ebene die Gegenwart von der Vergangenheit im ersten Augenblick kaum weniger abrupt, als der Einzelne sich durch Unfall oder Diagnose von einer Sekunde zur anderen aus seinem bisherigen Leben gerissen fühlen kann.
„Covid-19“ hatte im Erwartungshorizont der Zeitgenossen keinen Erfahrungswert, die Pandemie bedeutete den Einbruch des Unvorstellbaren in eine Lebenswelt, die sich gerade in Europa ihrer historischen Gewordenheit so sicher wusste wie ihrer voraussehbaren Entwicklungsrichtung.
Die Magie historischer Jubiläen, die vom Alter zerfurchten Gesichter der Zeitzeugen überwundener Schreckenszeiten, die immer größeren Anstrengungen zum Erhalt von Gedenkstätten in ihrem baulichen Originalzustand – sie bürgten für die Festigkeit einer Ordnung, die für die Möglichkeit ihrer eigenen Auflösung keinen Vorstellungsraum mehr hatte.
Die Rückkehr der Ungewissheit trifft uns auch generationell unvorbereitet. Womöglich sind es vor allem die zu besonders schützenswert erklärte Risikogruppe der Alten, die mit der Gelassenheit einer Lebenserfahrung, die noch die Bombennächte des Zweiten Weltkriegs oder die sowjetische Blockade West-Berlins einschließt, auf die ergriffenen Maßnahmen zur Seuchenbekämpfung zu reagieren vermögen.
Für die breite Mehrheit der europäischen Gesellschaften hingegen bedeutet die virale Pandemie einen Schock des Unerhörten, der Mitte März binnen weniger Tage das über ein Dreivierteljahrhundert hinweg erbaute Gerüst des menschlichen Zusammenlebens zum Einsturz brachte: die Rückkehr zum Hamstern, die zeitweilige Aufhebung von Grundrechten - von der Freizügigkeit bis zum Demonstrationsrecht, der Triumph der Exklusion über die Inklusion, die Renaissance der Grenzschließungen, die medizinische Preisgabe des Lebens, die plötzlich allbeherrschende Sorge um das nackte Leben. In einem Wort: Der Ausnahmezustand macht Geschichte, indem er mit ihr bricht.
II. Wie stark lähmt das Virus europäische Solidarität und forciert es den Nord-Süd-Konflikt?
Doch gerade, weil der historische Blick im Angesicht der Krise nicht „systemrelevant“ ist, besitzt er umso mehr Orientierungsrelevanz, und dies in mehrfacher Hinsicht. An erster Stelle steht auch heute – wie in jeder Krise unserer Zeit – der prospektive Blick, der sich dafür interessiert, welche Lehren die Vergangenheit bereithält. Auch in der heutigen Pandemie spielen Rezepte zur Krisenüberwindung eine wichtige Rolle.
Um einer verfrühten Lockerung der einschneidenden Schutzmaßnahmen zu begegnen, wird beispielsweise immer warnend darauf hingewiesen, dass die im Frühjahr 1918 ausgebrochene Spanische Grippe ihre tödliche Kraft in einer zweiten Welle mit dem Herbst 1918 erreichte und erst in der dritten 1919/20 abebbte. Der Vergleich der damals so gegenläufigen Infektionsschicksale von St. Louis und Philadelphia belegt eindrucksvoll, wie effektiv Quarantänemaßnahmen wirken können, wenn sie rasch und radikal durchgeführt werden.
Der Blick auf den Reaktorunfall von Tschernobyl von 1986 wiederum führt die verhängnisvollen Folgen einer restriktiven Informationspolitik vor Augen. Die Kernschmelze in der Ukraine sensibilisierte für den Charakter einer Bedrohung, die man weder sehen noch fühlen kann, und die sich um politische Grenzen nicht schert. Der kindsköpfigen Sorglosigkeit, mit der damals politische Funktionäre nicht nur im Osten, sondern auch im Westen die Verstrahlungsgefahr herunterzureden suchten, folgten in der aktuellen Corona-Krise nur noch Populisten vom Schlage Jair Bolsonaros in Brasilien oder – anfänglich – Donald Trumps in den USA.
Der Finanzcrash von 2008 schließlich, der seinerseits am Börsenkrach von 1929 gemessen wurde, dient gegenwärtig als gern genutzter Vergleichsmaßstab zur Abschätzung der weltwirtschaftlichen Erschütterung, die die aktuelle Pandemie hervorruft. Der insbesondere zwischen Rom und Berlin entflammte Konflikt um die geeigneten finanzpolitischen Strategien zur Bekämpfung der Wirtschaftskrise erneuert die schon 2008 sichtbar gewordene Nord-Süd-Spaltung in der EU.
Aus dieser bedrohlichen Kontinuitätslinie lässt sich auf die Gefahr schließen, die ein ideologischer Grundsatzstreit um die europäische Vergemeinschaftung nationaler Schulden für die Zukunft Europas bedeuten könnte: Er droht zu unser aller Schaden im Kampf gegen das Virus den Wert der europäischen Solidarität aus den Augen zu verlieren und die Ost-West-Spaltung des Kalten Kriegs dauerhaft durch eine Nord-Süd-Spaltung zu ersetzen.
III. Stacheln Krisen nicht auch zu Menschheits-Fortschritten an?
Orientierungsrelevant ist der historische Blick aber nicht nur prospektiv, sondern auch retrospektiv: Er hilft aus der Schockstarre und der Lähmung herauszukommen, die der Einbruch des Undenkbaren erzeugt. So einzigartig, wie es zunächst schien und medial transportiert wurde, ist auch diese weltumspannende Pandemie nicht, die das Gefüge der uns gewohnten Welt erschüttert.
Geschichte leistet Kontingenzbewältigung, indem sie darauf aufmerksam macht, dass Epidemien einen unausrottbaren und beständig wiederkehrenden Teil der Menschheitsgeschichte ausmachen, dessen Vernachlässigung sich nicht so sehr dem medizinischen Fortschritt verdankt als vielmehr der eigenen Borniertheit.
Schon Thukydides beschrieb in seiner Geschichte des Peloponnesischen Kriegs die Wirkung einer rätselhaften Infektionskrankheit, die Athen während der spartanischen Belagerung heimsuchte und am Anfang ihres langen Niedergangs stand.
Nicht weniger leidet die Moderne bis heute unter periodisch auftretenden Pandemien, die nur erst jetzt stärker in unser Bewusstsein rücken. Dass die asiatische Grippe 1957/58 über eine Million Menschen das Leben kostete, hat sich dem kollektiven Gedächtnis kaum eingeschrieben und wurde noch auf ihrem Höhepunkt in der ost- wie westdeutschen Presse als „eine sehr harmlos verlaufende Krankheit“ charakterisiert, „die im ostasiatischen Raum schon am Erlöschen ist".
Auch die Hongkong-Grippe 1968/69 schien der seinerzeitigen Berichterstattung zufolge lange einen Bogen um die beiden deutschen Staaten gemacht zu haben. „Keine Hongkong-Grippe in der Republik“ titelte das Neue Deutschland noch Anfang 1969
Der historische Vergleich relativiert zugleich die zeitgenössisch erlebte Tiefe historischer Zäsuren, und er dämpft die Wucht der Augenblickserfahrung. Er kann zeigen, dass die europäische Eroberung der Welt seit der Frühneuzeit ganz maßgeblich auf epidemischen Faktoren beruhte. Ohne die genozidale Wirkung der Krankheitskeime, die die vordringenden Europäer auf die indigene Bevölkerung übertrugen, gäbe es weder die Staatenwelt noch die Kulturkreise, in die Nord- und Südamerika sich heute gliedern.
Der Blick zurück kann zugleich auch Zuversicht erzeugen: Menschheitskatastrophen eröffneten immer auch Fortschrittschancen. Das Massensterben an der Pest, die die europäische Zivilisation in der Mitte des 14. Jahrhunderts in so verheerender Weise heimsuchte, sorgte nicht nur dafür, dass die überlebenden Bauern schließlich über größere Anbauflächen verfügten, und der gleichzeitige Anstieg der Arbeitskosten ließ das Spätmittelalter auch zu einer Epoche technischer Neuerungen mit weitreichenden Wirkungen über die Erfindung des Buchdrucks hinaus werden – auf das Jahrhundert des Schwarzen Todes folgte das Zeitalter der Renaissance.
Missernten und Choleraepidemien wiederum begleiteten das „Jahr ohne Sommer“, das auf den Ausbruch des indonesischen Vulkans Tambora 1815 zurückging, weil die in den Äther geschleuderten Aschemassen die Sonne rund um den Globus verfinsterten und für einen weltweiten Temperaturrückgang sorgten. Aber das Hungertod und Seuchenausbruch nach sich ziehende Unheil bedeutete auch den Beginn der modernen Hygienewirtschaft, die zur Entstehung der städtischen Kanalisation führte und trieb mit der Einführung der Mineraldüngung die Revolutionierung der Landwirtschaft voran.
IV. Ist der gegenwärtige Ausnahmezustand neuer „Fluchtpunkt einer zukünftigen Vergangenheit“?
Vor- wie rückschauende Perspektiven liefern Erkenntnisse, die uns mit Jacob Burckhardt „klug für ein andermal“ werden lassen; um aber darüber hinaus „weise für immer“ zu werden, bedarf es einer dritten, gleichsam introspektiven Blickrichtung, die uns zur Distanz gegenüber dem Gegenwartsgeschehen verhilft. Die Historisierung in actu ist eigentlich ein Unding; sie bindet sich bedingungslos an die größte Schwäche der Zeitgeschichte, dass sie nämlich das Ende der Epoche nicht kennt, auf die sie zuschreibt.
Und doch birgt das Bemühen, die Coronakrise vom Blickwinkel einer späteren Geschichtsschreibung aus zu betrachten, erhebliches Potential zum Verständnis der Gegenwart. Wie stellt sich die Pandemie als Teil einer „zukünftigen Vergangenheit“ (Lucian Hölscher) dar? Womöglich wird sie den neuen Fluchtpunkt des zeithistorischen Denkens bilden, den fast eine Generation lang das Wunder von 1989 und das Ende des Kalten Krieges bedeutete.
Manches spricht dafür, dass 2020 einst das Datum des endgültigen Übergangs vom analogen in das digitale Zeitalter markieren wird, das reale durch virtuelle Vergesellschaftung ersetzt, das Meeting durch die Videokonferenz, die Protestdemonstration durch den Shitstorm, die sinnliche Erfahrung durch das semiotische Zeichen.
Wie erklären wir, dass unsere Gesellschaft im Monat März des Jahres 2020 binnen Tagen bereitwillig temporär oder auf unbestimmte Zeit Abschied nahm von so vielen Werten, die unsere liberale Gesellschaftsordnung und kulturelle Tradition gleichermaßen geprägt haben?
Unbewegt nahmen wir hin, dass die Christenheit in diesem Jahr zum ersten Mal seit dem Konzil von Nicäa 325 das Osterfest nicht kirchlich feiern konnte; achselzuckend verfolgten und verfolgen wir die Konjunktur neuer Grenzziehungen auf nationaler und regionaler Ebene und nehmen es hin, dass die Rettung ertrinkender Flüchtlinge im Mittelmeer zum Stillstand gekommen ist und die zur politischen Waffe missbrauchten Asylsuchenden an der griechisch-türkischen Grenze wieder in überfüllte Lager gesteckt wurden.
Mit Macht drängen sich Denkformen in unser politisches Denken, die wir eben noch dem Zeitalter der Extreme vorbehalten glaubten. Selektion findet nicht nur statt, wenn eine Bevölkerungsgruppe wie die ungarischen Roma zwecks Desinfizierung und Gesundheitsprüfung bestimmt wird, sondern vollzieht sich auch in der Klassifizierung der Gesellschaft nach Risikogruppen. Nicht zu Unrecht protestierten sozialdemokratische Seniorensprecher in Berlin gegen die Erklärung der Berliner Gesundheitssenatorin von derselben Partei, dass es an der Zeit sei, „ältere Menschen in Quarantäne zu nehmen.“ Da sie gar nicht unter Infektionsverdacht stünden, handele es sich in Wahrheit nicht um Schutz, sondern um Schutzhaft.
Der ausgelaugte Terminus „Krise“, so viel gebraucht er ist, reicht nicht hin, um diesen über Nacht eingetretenen Wertewandel zu erfassen. Fruchtbarer ist hier womöglich der Begriff des Ausnahmezustandes, der rechtshistorisch vor allem auf staatlicher Ebene verwandt wird und auf das Dilemma verweist, die Rechtsordnung durch ihre zeitweilige Aufhebung schützen zu wollen. Doch trotz Viktor Orbán in Ungarn und Donald Trump in den USA - nicht in einem drohenden Übergang von der kommissarischen zur souveränen Diktatur oder der Entstehung einer „Hygienediktatur“, vor der jüngst Juli Zeh warnte, wird sich der gegenwärtige Ausnahmezustand als Fluchtpunkt einer zukünftigen Vergangenheit erweisen können.
Nicht im staatlichen, sondern im gesellschaftlichen Ausnahmezustand könnte die eigentliche Zäsur unserer Tage liegen. Er lässt sich nicht als politisch erprobte Rückkehr zu einem verfassungsmäßigen Normalzustand fassen, sondern folgt einer soziokulturellen Eigengesetzlichkeit, die die gängige Techniksprache und ihre Rede von den Exitoptionen einer stillgelegten und wieder hochzufahrenden Gesellschaft nicht überdecken kann.
Gesellschaften überwinden Ausnahmezustände historisch am ehesten, indem sie sie widerstrebend oder emphatisch in Normalität verwandeln, wie sich im Ausbruch des Ersten Weltkriegs ebenso zeigte wie nach der nationalsozialistischen „Machtergreifung“ und wieder in der sozialen Reorganisierung nach 1945. Darin könnte die Corona-Krise 2020 sich als eigentlicher Wendepunkt einer zukünftigen Vergangenheit erweisen: als ein Umbruch des gesellschaftlichen Zusammenlebens, dessen Sogkraft eben noch sicher geglaubte Wertbindungen und Orientierungsmarken dauerhaft verändert.
Ob die neue Normalität nach dem Ende der Covid-19-Pandemie von mehr Bewusstsein für die Verletzlichkeit des menschlichen Zusammenlebens geprägt sein wird, oder ob sie vielmehr einem ethischen Utilitaritätsdenken Vorschub leisten wird, das den Wert des Lebens stärker als bisher nach Rentabilitätskriterien messen wird, kann heute niemand sagen. Die Vermutung aber ist plausibel, dass 2020 in einer künftigen Geschichtsschreibung für einen tiefgreifenden Wandel der politischen Kultur des Westens stehen wird. „Souverän ist, wer über den Ausnahmezustand entscheidet.“
Von der staatlichen auf die gesellschaftliche Sphäre heruntergebrochen, könnte Carl Schmitts bekannter Satz in unserer Zeit ungeahnte Aktualität erlangen und die Erkenntnis befördern, dass in der Ausnahmesituation nicht mehr so sehr die gewählten Politiker die Bekämpfung und Folgen der über uns hereingebrochenen pandemischen Bedrohung steuern.
Diese Rolle kommt mehr und mehr den auf die Bühne des Geschehens gerufenen Fachexperten zu, aber nicht weniger auch der offensiven Meinungsbildung in den sozialen Medien und am stärksten den so plötzlich veränderten Handlungsnormen der dank der digitalen Revolution bis in die Tiefe mobilisierten Gesellschaft. Sie, die zur allgemeinen Überraschung den einschneidenden behördlichen Anweisungen zunächst so bereitwillig Folge geleistet hat, und nicht der politische Wille von Parteienkoalitionen entscheidet im gesellschaftlichen Ausnahmezustand dieser Tage darüber, ob diese Bereitwilligkeit ungebrochen fortbesteht oder schon morgen schon durch gesellschaftliches Handeln eigenmächtig wieder außer Kraft gesetzt wird.
Zitierweise: Martin Sabrow, "Geschichte im Ausnahmezustand", in: Deutschland Archiv, 1.5.2020, Link: www.bpb.de/308316
Ergänzend zum Thema:
- bpb-Dossier: Externer Link: Coronavirus