Als überfällig bezeichnet es der Potsdamer Historiker Martin Sabrow, den 8. Mai als regelmäßigen Feiertag zu verankern – als „überdauernden Tag der befreienden Niederlage und des rettenden Zusammenbruchs“. In seinem Essay zeichnet Sabrow die in Deutschland so scheu geführte Debatte über dieses Datum und dessen Bedeutung nach, an dem vor 75 Jahren die Kapitulation der obersten deutschen Heeresleitung in Berlin erfolgte und der Weltkrieg in Europa zum Ende kam.
Soll der 8. Mai ein bundesweiter Feiertag werden, der unterstreicht, dass der 8. Mai 1945 „der Tag der Befreiung war, der Niederschlagung des NS-Regimes“? In diesem Sinne hat die Auschwitz-Überlebende Esther Bejarano im Januar 2020 mit einem offenen Brief an den Bundespräsidenten und die Bundeskanzlerin eine breite Debatte angestoßen und viel Zustimmung geerntet.
Tatsächlich begehen viele Länder Europas das Datum des Kriegsendes als Feiertag des Sieges über den deutschen Aggressor. Aber auch in die Erinnerungskultur der Verliererstaaten ist Bewegung gekommen: Der 8. Mai war zumindest in Berlin im Jahr 2020 ein staatlicher Feiertag, wenn zunächst auch nur einmalig; der Bundespräsident ordnete zum selben Datum einen Staatsakt an und betraute das Bundesinnenministerium mit seiner Durchführung.
Doch die darin zum Ausdruck kommende Gedenkbereitschaft geht vornehmlich auf die besondere Magie des Datums zurück, das in 2020 nicht nur ein Anniversarium, sondern ein Jubiläum bedeutet – am 8. Mai jährte sich das Ende des verheerendsten Krieges der Menschheitsgeschichte zum 75. Mal. Die leider nur zurückhaltend diskutierte Forderung, den 8. Mai dauerhaft zum nationalen Feiertag zu erheben, hingegen greift tiefer. Sie schließt an eine seit Gründung der beiden deutschen Staaten 1949 geführte Auseinandersetzung über den richtigen Umgang mit einem schwierigen Datum an; mehr noch: Sie wirft die Frage nach dem deutschen Selbstverständnis auf.
Kein anderes Ereignis der deutschen Zeitgeschichte ist im Rückblick so anhaltend ambivalent betrachtet worden wie der Tag, an dem in Europa die Waffen des Zweiten Weltkrieges verstummten, der im Pazifik erst nach den Atombombenabwürfen von Hiroshima und Nagasaki sein Ende fand. Seine Vieldeutigkeit beginnt schon mit dem Datum. In den Niederlanden fällt der „Bevrijdingsdag“ auf den 5. Mai, der als gesetzlicher Feiertag an die Befreiung von der deutschen Besatzung erinnert.
Russland hingegen feiert den 9. Mai, weil die von den deutschen Befehlshabern des Heeres, der Kriegsmarine und der Luftwaffe - Keitel, von Friedeburg und Stumpf – in der Pionierschule Berlin-Karlshorst unterzeichnete Kapitulation nach Moskauer Zeitrechnung erst in den frühen Stunden des 9. Mai erfolgte.
Was war der eigentlich entscheidende Tag?
Rechtswirksam wiederum war schon die vorherige Gesamtkapitulation, die Alfred Jodl gegenüber den Westmächten in der Nacht vom 6. auf den 7. Mai 1945 in Reims vereinbarte und die am 8. Mai um 23:01 Uhr mitteleuropäischer Zeit in Kraft trat.
Über dieser Datierungsunsicherheit wiederum schwebt die rechts- und geschichtswissenschaftlich jahrzehntelang viel erörterte Frage, ob diese Unterwerfung nur eine militärische oder zugleich auch eine staatsrechtliche Selbstaufgabe bedeutete, mit der das Deutsche Reich selbst als Rechtssubjekt erlosch; die „oberste Regierungsgewalt hinsichtlich Deutschlands“ übernahmen die vier Alliierten jedenfalls erst in einer eigenen Berliner Erklärung vom 5. Juni 1945.
So unsicher ein genaues Datum und der eigentliche Umfang der vereinbarten Regelung zur Einstellung der Kampfhandlungen waren, so unsicher blieb über vier Jahrzehnte ihr Platz im deutschen Gedächtnis. Die von der Geißel des deutschen Welteroberungskrieges befreiten Staaten feiern bis heute die jährliche Wiederkehr des alliierten Sieges als VE-Day (Victory in Europe Day); die beiden deutschen Staaten dagegen hatten sich mit einem Ereignis auseinanderzusetzen, das für die Deutschen Untergang und Auferstehung zugleich bedeutete. Bevor sich in Ost- und Westdeutschland kontrastierende Narrative über das Kriegsende herausbildeten, durchlebte die atomisierte deutsche Gesellschaft mehrheitlich eine „Stunde Null“, in der die Sorge um das Überleben in der Gegenwart jede nähere Auseinandersetzung mit der Vergangenheit wie mit der Zukunft verschluckte.
Doch nicht nur Zukunftsverlust kennzeichnete die Erfahrung der totalen Niederlage, sondern ebenso eine schockartige Abkehr von der Vergangenheit, die von den einen willentlich in den Hintergrund gedrängt und von den anderen als ohne eigenes Zutun ausgelöscht empfunden werden konnte.
Zahllos sind die Zeugnisse, die in dieser Zeit das eigene Ich aus seinen historischen Bezügen gerissen wähnen und nicht nur gesellschaftlich, sondern auch zeitlich gleichsam atomisiert sahen. In der von ihm mitbegründeten Monatszeitschrift Die Wandlung brachte Dolf Sternberger im Sommer 1945 zum Ausdruck, wie eigentümlich unkenntlich ihm das Bild des Gewesenen geworden war: „Ich lebe im Augenblick, und weiß nicht, was mich eigentlich zusammenhält. Alle Dinge sind mir unbekannt – die Kraft, zu fassen und zu nennen, wie ausgesogen. Eine Burg steht lange in der blauen Ferne, mit den beiden großen Türmen, die ich ehedem gut kannte, als wir noch Ausflüge machten. Der Anblick zündet, ich bin voll Freude, etwas wiederzuerkennen, aber der Name fällt mir nicht ein, das Gedächtnis ist wie weggeschlagen.“
„Die Opfer der Deutschen befanden sich außerhalb ihrer Sinnwelt“
Die Mehrheit der geschlagenen Deutschen nahmen die Abschneidung von Zukunft und Vergangenheit und damit den Sturz in die Zeitlosigkeit aus der Perspektive des erlittenen, aber nicht des zugefügten Verlustes wahr – die Mitlebenden der „Stunde Null“ verstanden sich als deutsche Opfer; die Opfer der Deutschen befanden sich fast vollständig außerhalb ihrer Sinnwelt.
Diese Perspektive drängte sich umso mehr Besuchern aus dem Ausland auf. Zu Forschungen nach dem Verbleib jüdischen Kulturguts nach Deutschland gereist, beobachtete Hannah Arendt 1949/50 „die Deutschen, wie sie geschäftig durch die Ruinen ihrer tausendjährigen Geschichte stolpern und für die zerstörten Wahrzeichen ein Achselzucken übrig haben oder wie sie es einem verübeln, wenn man sie an die Schreckenstaten erinnert, welche die ganze übrige Welt nicht loslassen“.
Als Abwehr der Wirklichkeit durch fieberhafte Geschäftigkeit deutete die im amerikanischen Exil heimisch gewordene Intellektuelle Arendt diese Haltung, an der Besinnungsappelle ohnmächtig abprallten. Zwanzig Jahre später brachten Alexander und Margarete Mitscherlich diese Erinnerungsverweigerung auf die eingängige Formel einer „vaterlosen Gesellschaft“, die mit Derealisierung auf die traumatisch erfahrene Entwertung des eigenen Ich-Ideals nach dem Erwachen aus dem Rausch der nationalsozialistischen Volksgemeinschaft reagiert habe.
Während in der DDR der 8. Mai als „Tag der Befreiung des deutschen Volkes vom Hitlerfaschismus“ in die gesellschaftliche Erinnerung eingeschrieben und von 1950 bis 1966 und einmalig nochmals 1985 zum gesetzlichen Feiertag erklärt wurde, stand die westdeutsche Geschichtskultur dem historischen Jubiläum insgesamt und dem 8. Mai im Besonderen als Gedenktag lange Jahre fremd und distanziert gegenüber.
Die runden Jahrestage des 20. Juli als Gedenktag des Widerstands gegen den Nationalsozialismus und der Novemberrevolution von 1918 fanden zwar schon in den fünfziger Jahren immerhin öffentliche Würdigung. Arbeitsfreie Feiertage mit historischem Bezug aber bildeten allein der 1. Mai, den schon das NS-Regime zum „nationalen Feiertag des deutschen Volkes“ bestimmt hatte, und seit 1954 auch der 17. Juni als „Tag der deutschen Einheit“.
„Zur historischen Paradoxie trat die politische Rivalität“
In diesen Rang schaffte der 8. Mai es in der Bonner Republik zu keiner Zeit. Als der Parlamentarische Rat auf Konrad Adenauers Drängen das Grundgesetz noch am späten Abend des 8. Mai 1949 beschlossen wissen wollte, tat er dies nicht, um an den 8. Mai 1945 zu erinnern, sondern um das Böse durch das Gute auszulöschen. „Es ist wohl in Wahrheit“, beendete Adenauer die Sitzung, „für uns Deutsche der erste frohe Tag seit dem Jahre 1933. Wir wollen von da an rechnen und nicht erst von dem Zusammenbruch an, so schwer die Jahre des Zusammenbruchs auch waren.“
Vorher hatte Theodor Heuss seine Skepsis auch gegenüber einer bloß überformenden Bezugnahme auf den 8. Mai mit dem Zwiespalt begründet, in dem die Erinnerung an das Kriegsende gefangen blieb: „Ich weiß nicht, ob man das Symbol greifen soll, das in solchem Tag liegen kann. Im Grund genommen bleibt dieser 8. Mai 1945 die tragischste und fragwürdigste Paradoxie der Geschichte für jeden von uns. Warum denn? Weil wir erlöst und vernichtet in einem gewesen sind."
Zur historischen Paradoxie trat die politische Rivalität – die westdeutsche Vergangenheitsverschweigung korrespondierte mit der ostdeutschen Vergangenheitsbetonung, wie Regierungssprecher Karl-Günther von Hase zum zwanzigsten Jahrestag des Kriegsendes für die Bundesregierung zum Ausdruck brachte: „Ich möchte dazu sagen, daß der Westen seine Verpflichtungen für eine friedliche Zukunft erneuert hat, während der Osten die Vergangenheit gefeiert hat, weil er offenbar nicht in der Lage ist, die Gegenwart und Zukunft konstruktiv zu bewältigen.“
Der staatliche Schweigekonsens gegenüber dem ambivalenten Datum hielt über Jahrzehnte. Gedenkfeiern für die NS-Verfolgten fanden überwiegend in regionalem Rahmen statt, wenngleich am 5. Mai 1965 auf dem Gelände des Konzentrationslagers Dachau zum 20. Jahrestag seiner Befreiung eine erste größere Gedenkstätte eingeweiht wurde. Gesamtstaatlich trat der 8. Mai hingegen vor allem als Stichdatum in Erscheinung, zu dem die Verjährungsfrist für NS-Straftaten ablief – 1955 für Freiheitsberaubung sowie Körperverletzung mit Todesfolge und 1960 für Totschlagsdelikte.
Noch zum zwanzigsten Jahrestag 1965 betrachtete der nunmehrige Bundeskanzler Ludwig Erhard den 8. Mai lediglich als einen Tag, „so grau und trostlos wie so viele vor oder auch nach ihm“; und für die sozialdemokratische Opposition setzte auch Willy Brandt den zur selben Zeit in der DDR inszenierten Befreiungsfeiern ein entschiedenes Verzichtbekenntnis auf historische Antijubiläen entgegen: „Zwanzig Jahre sind genug – genug der Spaltung, genug der Resignation und genug des bloßen Zurückschauens.“
Wandel mit Richard von Weizsäcker
Es bedurfte der Herausbildung des Trauer- und Mahnjubiläums seit den 1960er Jahren, um den 8. Mai in den bundesdeutschen Gedenkkalender aufzunehmen. Greifbar wird dieser Wandel in Richard von Weizsäckers berühmt gewordener Gedenkrede im Deutschen Bundestag zum 40. Jahrestag des Kriegsendes 1985, die den 8. Mai vom Tag der Kapitulation mit präsidialer Autorität zum Tag der Befreiung umwertete und damit einen Gedanken aufnahm, den schon zehn Jahre zuvor der damalige Bundespräsident Scheel entwickelt hatte. Während Scheel aber den 8. Mai nicht als Tag zum Feiern, sondern als Augenblick der Selbstprüfung verstanden wissen wollte, setzte sich mit Weizsäckers immer wieder von Beifall unterbrochener Ansprache eine Sicht durch, die dem zwischenzeitlichen Generationswandel Rechnung trug und auch das Trauerjubiläum als Feiertag akzeptierte.
Interner Link: Weizsäckers Rede formulierte einen über 1989/90 und bis heute fortbestehenden gesellschaftlichen Grundkonsens, der die andauernde Auseinandersetzung mit dem nationalsozialistischen Zivilisationsbruch nicht als bedrückende Last, sondern als befreiende Aufgabe begreift und deswegen den 8. Mai als einen Trauer und Feier verbindenden Gedenktag betrachtet.
Die Akzentsetzung innerhalb dieses Rahmens verschiebt sich mit der weitgehend vollzogenen Ablösung von der Erfahrungsgeneration weiter. Von Jahr zu Jahr schwächer werden die Stimmen, die die Niederlage mit ihren katastrophalen Begleitumständen ins Gedächtnis rufen und an die Deutschen als Opfer der Kriegsfurie erinnern, die am Ende ihr eigenes Land in beispielloser Weise verheerte. Immer stärker dagegen artikuliert sich eine Sicht, die den Zusammenbruch als Aufbruch versteht und damit als Grundstein unserer demokratischen Wertordnung.
„Dauerhaft im gesellschaftlichen Gedächtnis verankern“
Der historischen Bedeutung des 8. Mai entspricht es, dieses Datum über 75 Jahre nach Kriegsende endlich als gesetzlichen Feiertag dauerhaft im gesellschaftlichen Gedächtnis zu verankern. Der Vorschlag, das im ritualisierten DDR-Gedenken abgeschliffene Wort „Befreiung“ als alleinige Bezeichnung zu nehmen, ist allerdings nicht besonders glücklich. Es rechnet in unhistorischer Weise die Besiegten umstandslos den Siegern zu und vernachlässigt die berühmte US-Direktive JCS 1067 vom 26. April 1945: „Deutschland wird nicht besetzt zum Zwecke seiner Befreiung, sondern als ein besiegter Feindstaat.“
Den 8. Mai allein als Tag der Befreiung zu feiern, überschreibt Ambivalenz durch Eindeutigkeit. Dies aber wird der dramatischen Differenz zwischen zeitgenössischer Erfahrung und nachzeitiger Betrachtung nicht gerecht, und es trägt der widersprüchlichen Vielschichtigkeit eines Datums keine Rechnung, das von den Mitlebenden als auswegloser Untergang ebenso erlebt werden konnte wie als ersehnte Rettung.
Einen besseren Weg hat das Bundesland Mecklenburg-Vorpommern gefunden. Dort wurde der 8. Mai bereits vor einer Reihe von Jahren zum „Tag der Befreiung vom Nationalsozialismus und der Beendigung des Zweiten Weltkrieges“ erklärt. Die Bundesrepublik Deutschland würde der Entwicklung ihrer Erinnerungskultur angemessen Rechnung tragen, wenn sie den 8. Mai unter dieser Bezeichnung zum gesetzlichen Feiertag erheben und damit zum Ausdruck bringen würde, dass der 8. Mai 1945 ein die Zeiten überdauernder Tag der befreienden Niederlage und des rettenden Zusammenbruchs war.
Zitierweise: Martin Sabrow, "Der 8. Mai - ein deutscher Feiertag?", in: Deutschland Archiv, 23.4.2020, Link: www.bpb.de/308182
ist Professor für Neueste Geschichte und Zeitgeschichte an der Humboldt-Universität zu Berlin und Direktor des Leibniz-Zentrums für Zeithistorische Forschung Potsdam (ZZF). Externer Link: sekretariat@zzf-potsdam.de
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