Die letzte Volkskammer als „Schule der Demokratie“
Aus der Reihe „Ungehaltene Reden“ ehemaliger Abgeordneter des letzten DDR-Parlaments
Rüdiger Fikentscher
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Am 12. April 1990 begann die eigentliche parlamentarische Arbeit der letzten Volkskammer der DDR. Ihr Ziel war es, die Deutsche Einheit vorzubereiten. Der Mediziner Rüdiger Fikentscher, der damals die SPD im Wahlkreis Halle vertrat und von 1990 bis 2002 erster Landesvorsitzender der SPD Sachsen-Anhalts war, erinnert sich. Er bilanziert: "Wer nach der Vereinigung vermutet hätte, dass wir drei Jahrzehnte später noch immer über Ost-West-Unterschiede sprechen und den Soli-Beitrag zahlen, wären als notorischer Pessimist bezeichnet worden. Beides ist eingetreten und noch vieles mehr. Darüber gilt es immer noch zu sprechen, heute, und noch eine Weile länger".
Beginnen sollen diese Gedanken mit einigen Bemerkungen zur DDR, danach über die Revolution, die zur Freiheit führte. Anschließend folgen Reflexionen über die Gestaltung unserer Demokratie sowie der Einheit mit der Übernahme des Rechtsstaates.
Das Leben in der DDR spielte sich für die meisten Menschen in begrenzten Räumen ab, auch „Nischen“ genannt. Dadurch hatten sie eine beschränkte Sicht, aus der sie auf das Ganze schlossen. Es gab keine Öffentlichkeit, keine Berichte und Diskussionen über die anderen. Das förderte allerdings auch Zusammenhalt und Gemeinschaft, was heute von vielen vermisst wird.
Außerdem waren die Menschen nicht nur unterschiedlich gebildet wie überall, sondern hatten auch mehr oder weniger sogenannte Westkontakte, Verbindungen zur Bundesrepublik, folglich weniger direkte Kenntnisse darüber. Unsere Verbindungen waren sehr gut. Informationen erhielten wir nicht nur über Fernsehen und Radio, sondern auch über Briefe und intensive Gespräche. Nahezu jedes Buch, das uns interessierte, konnten wir beschaffen, teils auf abenteuerlichen Wegen. Wir hatten Wolfgang Leonhards „Die Revolution entlässt ihre Kinder“ gelesen und auch das Buch des Jugoslawen Milovan Djilas „Die neue Klasse“. Einige Bücher von Solschenizyn ließ ich in Leinen binden, damit sie häufiger an Freunde und Kollegen verborgt werden konnten. Andere wurden für dergleichen eingesperrt.
Ich behaupte, von der Landung der in Moskau ideologisch geprägten „Gruppe Ulbricht“ im Frühjahr 1945 bis zu den Schüssen an der Mauer gibt es eine zwangsläufige Kette. Es wurde ein scheindemokratisches Staatsgebilde aufgebaut, Gegner vernichtet, verjagt oder gleichgeschaltet.
Im Wettbewerb mit der Bundesrepublik konnte man nicht mithalten. Das merkten die Leute und etliche liefen weg. Als die sogenannte Republikflucht überhandnahm wäre der Staat bald am Ende gewesen. Folglich musste aus Sicht der Herrschenden die Grenze geschlossen und 1961 die Berliner Mauer gebaut werden. Wer eine solche Mauer baut, um Menschen an der Flucht zu hindern, muss sie sichern. Er kann nicht erlauben, dass jemand mit einer Leiter kommt und drübersteigt. Also muss geschossen werden. Das alles war zwangsläufig und dem totalitären System innewohnend.
Der Bevölkerungsverlust hat bis heute weitreichende Folgen, zumal er nach dem Mauerbau nicht beendet war. Bis 1989 verließen weitere 400.000 Menschen die DDR, und nach dem Mauerfall über eine weitere Million. Es waren überwiegend Jüngere, wohl auch Gesündere, viele von ihnen waren leistungsbereit und voller Unternehmergeist. Ein solcher Verlust hat tiefgreifende und lang anhaltende Auswirkungen. Die meisten aktuellen Statistiken, in denen sich die Bevölkerung in unserem Lande als vergleichsweise weniger leistungsfähig oder leistungsbereit zu erweisen scheint, sind auf diese Ursachen zurückzuführen.
Wir wollten nicht weg. Unsere familiäre Haltung war kurz gesagt so: Wir leben in einem besetzten Land, aber hier ist auch Deutschland. Dazu wäre noch viel zu sagen. Entscheidend war, sich unter diesen Bedingungen einigermaßen anständig zu verhalten. Dazu gehörte, nicht in die SED einzutreten, aber viele andere Organisationen als harmlos anzusehen. Nachteile zu akzeptieren gehörte auch dazu. Beispielsweise wurde ich zwar nicht gehindert wissenschaftlich zu arbeiten, mit 33 Jahren war ich habilitiert. Doch als ich meinen 40. Geburtstag feierte, war ich noch immer Assistenzarzt. Das hat uns nicht aufgeregt, denn andere hatten wirkliche Härten zu ertragen, nicht nur Nachteile. Damals haben wir ebenso wie viele andere gezeigt, dass man auch im falschen System ein richtiges Leben führen kann und nicht nur im richtigen ein falsches.
Nun zur Revolution. Das geht nicht ohne die Betrachtung der Weltlage. Im Sommer 1988 las ich in einer Wiener Zeitung den Satz: „Der Kalte Krieg ist vorbei, und der Russe hat ihn verloren“. Ich freute mich zwar, dachte aber noch nicht an die möglichen Folgen. Später wurde klar, dass eine Weltmacht keinen Krieg verlieren kann und nichts von ihrer Macht verliert. Zu den glücklichen Umständen in dieser Zeit gehörte Michail Gorbatschow, der sich als genialer Konkursverwalter der Sowjetunion erwies.
Zunächst wurde schrittweise klar, dass die Sowjetunion mit ihren schwächer werdenden Händen ihre „Beute“ aus dem Zweiten Weltkrieg nicht mehr dauerhaft festhalten konnte. In dieser Zeit entstanden, ganz ähnlich wie in den anderen Ostblockstaaten, mehr und mehr Gruppen, die an dem DDR-System etwas ändern wollten. Sie kann man als Revolutionäre bezeichnen. Zugleich boten Kirchen in vielen Gemeinden mit ihren „Friedensgebeten“ einen geschützten Raum an, der sich immer mehr füllte.
Anfang September trug ich mich beim neu gegründeten Bürgerbündnis „Neues Forum“ ein und merkte, dass von Seiten der Staatsgewalt nichts geschah. In diesen Wochen nahm die Revolution ihren Lauf. Ich unterscheide vier Stufen, die vorwiegend in Leipzig durch markante Rufe gekennzeichnet sind.
1. „Wir wollen raus!“ riefen Ausreisewillige auf der Straße und versteckten sich nicht mehr hinter Formularen und Anträgen. Eine strenge Reaktion der Staatsmacht blieb 1989 jedoch aus.
2. „Wir bleiben hier!“ riefen die nächsten. Das war eine Drohung. DDR-Bürger und Bürgerinnen wollten nicht mehr untätig bleiben und alles geschehen lassen, sondern pochten auf Reformen. Nichts, um dies nachhaltig niederzuschlagen, geschah.
3. „Wir sind das Volk!“ war schließlich der DDR-weite Ruf, dem die selbsternannte Arbeiter-und-Bauern-Macht gar nichts mehr entgegenzusetzen hatte, die gefürchtete Stasi protokollierte nur noch die Interner Link: Parolen. Das war die Revolution. Jede Revolution hat ihr zeitliches und räumliches Zentrum. In unserem Fall war dies am Interner Link: 9. Oktober 1989 der Leipziger Ring.
Die Staatsmacht war vorbereitet, Proteste niederzuschlagen, durfte jedoch nicht eingreifen, weil sie aus Moskau nicht die Erlaubnis bekam und russische Panzer ohnehin nicht rollen würden. Und wenn sie an diesem Tag nicht eingriffen, warum sollten sie das eine Woche später an vielen Orten der DDR gleichzeitig tun? Die Macht war gebrochen.
Es bestätigte sich der Satz, wonach eine Revolution nichts anderes ist als eine morsche Tür einzutreten. Übrigens kann man über den Namen „Friedliche Revolution“ oder „Herbstrevolution“, wie Richard Schröder vorschlug, unterschiedlicher Auffassung sein. Doch die von Interner Link: Egon Krenz geprägte Bezeichnung „Wende“ ist falsch. Er wollte keine Revolution, keine grundsätzliche Umwälzung, die zwangsläufig zur Einheit Deutschlands führen musste. Er wollte nur in der DDR einiges ändern, ohne zu sagen, was das konkret sein könnte. Es ist eigentlich ein Jammer, dass dieser Wende-Begriff sich so eingebürgert hat, dass man ihn nicht wieder aus der Welt schaffen kann.
4. und Letztens erklang im Dezember der Ruf: „Wir sind ein Volk!“. Damit war die deutsche Frage wieder offen. Und weil es so war, wie Konrad Adenauer schon in den fünfziger Jahren prophezeite, „Der Schlüssel zur deutschen Einheit liegt in Moskau“, kam es nun auf die Herrschenden in der Sowjetunion an.
In Halle nahm ich an allen Demonstrationen teil, organisierte sie mit und sprach wiederholt bei Kundgebungen. Das war nichts Heldenhaftes, denn Angst brauchte man nicht mehr zu haben. Heute beschreiben das manche anders, und es bestätigt sich das deutsche Sprichwort: „Es sind viele mutig, wenn der Feind weg ist“.
Nun zum 9. November und dem „Mauerfall“. Zufall oder nicht, das Datum wurde zum Wichtigsten in den Geschichtsbüchern, weil die Weltöffentlichkeit dieses Ereignis als epochal verstand. Doch klar war damals schon, dass die Mauer nach dem 9. Oktober in Leipzig nicht mehr lange zu halten war.
Und ebenso klar ist, dass sie durch die Ereignisse innerhalb der DDR, also durch die Revolution geöffnet werden musste, und nicht von außen geöffnet worden ist. Insofern liegt das Verdienst bei den Menschen in der DDR. Doch das alles wäre nicht möglich gewesen, wenn die gesamte politische Lage eine andere gewesen wäre oder beispielsweise Breschnew noch einige Jahre am Leben und an der Macht geblieben und nicht durch Andropow, Tschernenko und bald darauf Gorbatschow abgelöst worden wäre.
Außerdem sollte man die Bewegungen in den anderen Ostblockstaaten nicht außer Acht lassen. Die deutschen Revolutionäre waren es jedenfalls nicht allein, und wer zu Recht Revolutionär genannt werden kann ist auch nicht klar. Ich war jedenfalls keiner, aber ich kenne einige, die es gewesen sind.
Nun zur Freiheit und Demokratie. Unter Freiheit verstanden die meisten zunächst nur Reisefreiheit. Doch in Wahrheit ist sie unendlich viel mehr, muss gestaltet werden und bedarf der Demokratie. Der Ruf nach freien Wahlen erschallte. Doch Demokratie ist mehr als die Durchführung von freien Wahlen. Es gehören Strukturen im Lande dazu. Diese zu schaffen war die nächste Aufgabe.
Und damit kommen wir zu den politischen Parteien, ohne die die Demokratie nicht bestehen kann. Mir brachte die Mitgliedschaft im Neuen Forum keine Aufgaben. Die wenigen Versammlungen waren interessant, erschienen aber unstrukturiert und ergebnisarm. Als ich später den Satz las: „Ohne Tagesordnung und Geschäftsordnung funktioniert die Demokratie nicht“, wurde mir klar, woran das lag. In Halle gab es an der Georgenkirche sehr bald eine Mahnwache „Gegen Gewalt“. Dort fand man zahlreiche Zettel mit Nachrichten, darunter über die Gründung der „Sozialdemokratischen Partei in der DDR“ – SDP. Der Ortsverein Halle wurde am 27. Oktober 1989 gegründet, am 4. November trat ich ein.
Seither habe ich mich nie nach einer Funktion gedrängt, doch auch keine ausgeschlagen, wenn ein ernsthafter anderer Bewerber oder eine Bewerberin nicht da waren. So wurde ich bald Bezirksvorsitzender und war 12 Jahre lang Landesvorsitzender der SPD Sachsen-Anhalts. Schließlich, um diesen Weg hier abzukürzen, bin ich nicht nur Mitglied des Bundesparteirates gewesen, sondern 11 Jahre lang auch dessen Vorsitzender. Daraus ergab sich das ständige Gastrecht beim SPD-Bundesvorstand. Hinzu kamen die deutschlandweiten Runden aller Landesvorsitzenden und auch die der Fraktionsvorsitzenden. Das bedeutete, dass ich über viele Jahre vom Ortsverein bis zum Bund mit fast allen wichtigen Leuten der SPD bekannt und im Austausch war. Dergleichen bringt einen Informationsstand, der die Arbeit sehr erleichtert.
Nachdem die Kommunisten bzw. die DDR-Machthaber ohne Widerstand verschwunden waren, ist die Grundfrage klar gewesen: Wer soll es denn nun richten? Und die Antwort? Natürlich wir selbst, wer denn sonst. Und somit hatten wir bereits im Januar 1990 drei Aufgabenbereiche: Aufbau der Partei, Mitarbeit an den verschiedenen Runden Tischen und Vorbereitung der Wahlen. Denn es war selbstverständlich, dass wir am 18. März für die Volkskammer kandidierten – wobei wir eine herbe Enttäuschung erlebten. Auch das musste gelernt werden, ebenso wie der Umgang damit, dass auch in unseren Reihen immer wieder Personen auftauchten, die als Stasi-Mitarbeiter entlarvt worden sind. Das war gar nicht anders möglich, denn ohne die gegenseitige Gewährung eines Vertrauensvorschusses hätten wir nie zusammengefunden.
Meine Voraussetzungen für die politische Arbeit waren denkbar gut. Ich hatte hinreichende politische Bildung und eine günstige familiäre Ausgangssituation. Unsere Kinder waren fast erwachsen und meine Frau politisch ebenso engagiert wie ich. Außerdem stimmten unsere politischen Überzeugungen überein.
Einen großen Vorteil erkannte ich nach und nach durch meinen vorherigen Beruf. Arzt und Politiker haben viele Gemeinsamkeiten. Der Unterschied ist nicht so groß, wie man allgemein glauben mag. Beide haben direkt mit Menschen zu tun und sind sich der Grenzen ihrer Möglichkeiten bewusst. Ärzte hoffen nicht darauf, den Menschen alle Krankheiten und Leiden nehmen oder gar den Tod abschaffen zu können. Und der Politiker weiß genau, dass auch er nur in geringem Maße helfen und schon gar nicht alle Menschen glücklich machen kann. Zum Arzt kommen sie, wenn sie krank sind und leiden. Sie schildern ihm ihre Beschwerden, aber kommen nicht regelmäßig vorbei, um zu sagen, wie glücklich und gesund sie sind. Zum Politiker kommen die Menschen, wenn sie vermeintliche oder tatsächliche Gründe zur Klage haben und jemanden brauchen, der ihnen hilft.
In beiden Fällen gibt es sowohl die Möglichkeit zur unmittelbaren Hilfe als auch das Bemühen, künftige Krankheiten und Leiden zu verhindern. Ärzte müssen auch bereit sein, ein und denselben Sachverhalt immer wieder und wieder neuen Patienten zu erklären, ohne gelangweilt zu wirken. Der Politiker erläutert immer wieder seine Ziele, Vorstellungen und Vorschläge. Hierzu hilft ein kaukasisches Sprichwort: „Wiederholung schadet keinem Gebet“. Bei Erfolglosigkeit entwickelt sich Unmut aufgrund der enttäuschten Hoffnungen sowohl gegenüber dem Arzt als auch gegenüber dem Politiker. Der eine riskiert, nicht mehr aufgesucht zu werden, der andere gefährdet seine Wiederwahl. Einen wesentlichen Unterschied zwischen beiden Tätigkeiten gibt es aber doch, nämlich: Der Politiker steht in der Öffentlichkeit, der Arzt eher weniger.
Das alles galt es damals rasch zu verstehen und zu lernen, damit aus Laien Fachleute wurden, die sich bemühten, die allgemeinen öffentlichen Angelegenheiten zu regeln. Bereits in der Volkskammer haben wir viel gelernt und viel entschieden. Ein Meister der Geschäftsordnung und der Verhandlungen im parlamentarischen Raum war unser späterer Ministerpräsident Reinhard Höppner. Er brachte seine Erfahrungen aus der evangelischen Synode ein, deren Präses er bis dahin war. Auch insofern war die Volkskammer eine Schule der Demokratie. Doch wir sind nicht zum Unterricht hingegangen, sondern mussten grundlegende Entscheidungen treffen. Das waren der Aufbau demokratischer Strukturen, Eingliederung des Militärs und anderer staatlicher Machteinrichtungen, Festlegung der Kommunalwahlen, Währungsunion, Anerkennung der Oder-Neiße-Grenze und anderes mehr. Schließlich wurde in jener Nachtsitzung zum 23. August morgens 3 Uhr unter Leitung von Reinhard Höppner der Beitritt der DDR zur Bundesrepublik Deutschland beschlossen. Nur die Volkskammer durfte das, niemand sonst.
Nun zur Einheit Deutschlands. Sie wurde am 3. Oktober 1990 formal und juristisch vollzogen. Ich stand zusammen mit meiner Frau in jener Nacht auf den Stufen des Reichstags und war dabei, als die „Fahne der deutschen Einheit“ aufgezogen wurde. Noch immer, wenn ich sie dort sehe, denke ich an diese bewegende Stunde.
Doch dem Symbol folgten viele Fragen der Umgestaltung und Neugestaltung, die für uns neue Aufgaben enthielten. Dabei war Hilfe aus der alten Bundesrepublik höchst willkommen. Um politisch zu entscheiden, waren wir sehr bald sicher genug. Doch die gesamte Verwaltung musste umgebaut und neu geordnet, auch vielfach neu besetzt werden. Dazu brauchten wir zusätzliche Fachleute. Ich persönlich hatte nie mit ihnen Schwierigkeiten. Offenbar haben sie meinen Standpunkt auch unausgesprochen akzeptiert. Er war ganz einfach: Wir sind gemeinsam in den Krieg gezogen, haben Schlimmes angerichtet, haben zu Recht verloren, und unser Land ist geteilt worden. Ihr hattet es leichter im Leben und beim Wiederaufbau. Nun lasst uns gemeinsam auch den Teil unseres Vaterlandes wiederaufbauen, der so viel mehr und so viel länger gelitten hat. Das ist Eure Aufgabe genauso wie die unsere. Wir haben mehr Feldkenntnisse, ihr mehr Fachkenntnisse. Wir stehen auf Augenhöhe. Ich persönlich habe auch nie die Begriffe „Ossi“ und „Wessi“ verwendet. Sie erscheinen mir als Etikett für Menschen ungeeignet.
Die sogenannten „Westhilfen“ hielt und halte ich für selbstverständlich. Leider ist das nicht überall so gewesen und von allen so gesehen worden. Doch auf die vielen Schwierigkeiten und Missverständnisse einschließlich menschlicher Unzulänglichkeiten, die Treuhanderfahrungen und den Hochschulumbau und so vieles andere kann ich hier nicht eingehen. Aber ich weiß: Man kann jeden Fehler vermeiden, aber niemals alle Fehler.
Zur Treuhand nur noch eine Bemerkung. Es heißt immer wieder, da seien Leute aus dem Westen gekommen, die unsere Betriebe plattgemacht haben. Doch die Wirklichkeit sah doch auch so aus, dass niemand mehr einen „Trabant“ oder „Wartburg“ fahren wollte. Endlich einen Westwagen zu steuern, darauf kam es jetzt den meisten an. Auch wollte kaum noch jemand Weißenfelser Schuhe tragen oder Halle’sches „Meisterbräu“ trinken. Und jedermann und jedefrau wissen, dass sich diese Reihe beliebig fortsetzen ließe.
Mit der Einheit war auch der Rechtsstaat gekommen. Diesen in einer länger bestehen DDR aufzubauen hätte viele Jahre gedauert. Deswegen war es aus meiner Sicht gut, ihn zu übernehmen. Nicht gut dagegen war die Haltung jener, die sich einen künftigen Idealstaat vorgestellt hatten, in dem alle Fehler und Unzulänglichkeiten anderer Staaten vermieden werden sollten. Dieser Idealismus musste in die Irre laufen. Er gipfelte in dem Wort: „Wir wollten Gerechtigkeit und bekamen den Rechtsstaat“. Das war üble Demagogie und Verunglimpfung. Dieser Standpunkt ist genauso töricht, wie wenn jemand sagte: „Wir wollte Gesundheit und bekamen das Gesundheitswesen“. Beides, Gerechtigkeit und Gesundheit, sind abstrakte Begriffe, Idealvorstellungen, denen man sich nur annähern kann, sie aber nie erreichen wird. Für diese Annäherung braucht man das Gesundheitswesen und eben den Rechtsstaat.
Eine andere naheliegende Frage tauchte in diesen Monaten immer wieder auf, nämlich: Wie lange wird das alles dauern. Hier scheint mir, dass wir hinsichtlich der Reihenfolge fast alles richtig vorausgesehen, uns nur in der Zeitschiene grandios geirrt haben. Wer zu Weihnachten 1989 vorhergesagt hätte, dass wir ein Jahr später in einem geeinten Deutschland mit einem frisch gewählten gemeinsamen Bundestag feiern würden, wäre nicht ernst genommen worden. Und wer nach der Vereinigung vermutet hätte, dass wir drei Jahrzehnte später noch immer über Ost-West-Unterschiede sprechen und den Soli-Beitrag zahlen, wären als notorischer Pessimist bezeichnet worden. Beides ist eingetreten und noch vieles mehr. Darüber gilt es immer noch zu sprechen, heute, und noch eine Weile länger.
Zitierweise: "Die Volkskammer als Schule der Demokratie“, Rüdiger Fikentscher, in: Deutschland Archiv, 16.4.2020, Link: www.bpb.de/307812.
Weitere "Ungehaltene Reden" ehemaliger Parlamentarier und Parlamentarierinnen aus der ehemaligen DDR-Volkskammer werden nach und nach folgen. Eine öffentliche Diskussion darüber ist im Lauf des Jahres 2021 geplant. Es sind Meinungsbeiträge der jeweiligen Autorinnen und Autoren, sie stellen keine Meinungsäußerung der Bundeszentrale für politische Bildung dar.
Rüdiger Fikentscher wuchs in Zwickau auf und studierte Medizin an der Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg. Ab 1972 war er Facharzt für HNO. Im Herbst 1989 trat er in die Sozialdemokratische Partei der DDR (SDP) ein, wurde 1990 SPD-Bezirksvorsitzender von Halle und von 1990 bis 2002 SPD-Landesvorsitzender in Sachsen-Anhalt. Der Volkskammer gehörte er in ihrer letzten Legislaturperiode an. Von 1994 bis 2002 war Fikentscher SPD-Fraktionsvorsitzender im Magdeburger Landtag und von 1995 bis 2006 Vorsitzender des SPD-Bundesparteirats. Seit 2004 ist er Mitglied im Stadtrat von Halle.
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