„Vor dreißig Jahren ist die Berliner Mauer nicht gefallen. Sie wurde durch den Mut von Tausenden freiheitsliebenden Männern und Frauen zu Fall gebracht“, twitterte der französische Staatspräsident Emmanuel Macron am 9. November 2019. Sie hätten mit ihrem Mut die Einheit Deutschlands und Europas ermöglicht, so dass Macron – angesichts der aktuellen Zerrissenheit in Europa – dazu aufrief, sich „ihres Versprechens würdig zu erwei-sen“. Die runden Geburtstage des Mauerfalls waren in den letzten 30 Jahren immer wieder Anlass für französische Präsidenten, diesem historischen Ereignis eine aktuelle Dimension zu verleihen. Doch neben der geschichts-politischen Dimension fand die DDR seit ihrer Gründung in Frankreich ein weitaus stärkeres Interesse als in anderen westeuropäischen Ländern.
Das ist auch an der DDR-Forschung vor und nach 1989/90 und den Beziehungen zwischen der DDR und Frankreich abzulesen. Das überdurchschnittliche Interesse für den Fall der Mauer mag man einerseits mit der politischen Kultur im Land der „Großen Revolution“ erklären, doch scheint die aktuelle Reideologisierung der französischen Innenpolitik auch verantwortlich für intensive Diskussion in Frankreich zur politischen, wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Entwicklung seit 1989/90.
Die kommunistische DDR-Forschung in Frankreich
Die kommunistische DDR-Forschung war in Frankreich sicherlich dominierend und wurde seit den 1950er Jahren maßgeblich von dem Germanisten Gilbert Badia (1916-2004) geprägt. Die Historisierung seines Wirkens kann dabei nicht losgelöst von seinem politischen Engagement für die DDR gesehen werden, deren diplomatische Anerkennung er vor 1973 auf den verschiedenen Ebenen unterstützte. Die SED schätzte seine Arbeit und förderte seine Veröffentlichungen finanziell, um sie für ihre Imagekampagnen in Frankreich einzusetzen. Um Badia und seinen Mitstreiter Jean Mortier entwickelte sich ab den 1970er Jahren an der als links geltenden Universität von Paris VIII das Laboratoire de recherches ›Histoire de la RDA‹ (Forschungslaboratorium ›Geschichte der DDR‹), das in den folgenden Jahren durch regelmäßige Tagungen Impulse zu weiterführenden Forschungsarbeiten gab. Es bildete „eine Art KPF-nahe Kontra-Gesellschaft innerhalb der eher konservativ dominierten französischen Germanistik“. In den verschiedenen Veröffentlichungen wurde immer wieder die These vertreten, dass im Angesicht der deutschen Geschichte die Teilung viel besser zu Deutschland passe, was sich natürlich umstandslos auf die Zeit nach 1945 transferieren ließ, wie Bernhard Escherich unterstreicht:
„Mit dem Aufgreifen dieser alten französischen These […] kann Badia zugleich implizit die Existenz der DDR, für deren gesellschaftliche und politische Akzeptanz er sich so nachhaltig eingesetzt hatte, legitimieren. Die Teilung ist damit nicht eine zu überwindende Situation, sondern ein für die deutsche Geschichte typischer und damit zu akzeptierender Zustand.“
Bis in die frühen 1980er Jahre war der Blick der kommunistischen französischen DDR-Forschung auf la meilleure Allemagne (das bessere Deutschland) zumeist sehr apologetisch, so dass Wissenschaftlichkeit in der Regel hinter propagandistische und ideologische Zielsetzungen zurücktreten musste, wie Sonia Combe unterstreicht: „Sie betrachteten es als ihre Aufgabe, die Existenz der DDR zu legitimieren.“
Die nichtkommunistische linke DDR-Forschung
Wer sich mit der nichtkommunistischen Linken in Frankreich beschäftigt, steht immer wieder vor der Problematik, dass die Grenzlinien zwischen dem kommunistischen und sozialistischen Milieu in Frankreich fortwährend verschwammen. Dies galt auch für den Bereich der DDR-Forschung und lässt sich am Historiker Georges Castellan (1920-2014) und seinen Schriften zur DDR anschaulich verfolgen. Sie zeigen zum einen, dass la RDA in diesen Kreisen bereits Mitte der 1950er Jahre als singuläre Realität wahrgenommen wurde, doch ist zum anderen zu beobachten, dass Castellan zu diesem Zeitpunkt immer noch zu einem kritischen Blick auf die DDR in der Lage war. Er bemängelte in seinem ersten Werk von 1955 die demo-kratischen Defizite in der DDR und sah Parallelen zum NS-Herrschaftssystem. In den 1960er Jahren entwickelte er sich mehr und mehr zum Vater der systemimmanenten DDR-Forschung à la française und wollte den ostdeutschen Staat nur noch an seinen eigenen Maßstäben messen. Trotz nuancierterer Urteile als Badia und vereinzelter Kritik am SED-Staat blieb dessen Entwicklung für ihn nichtsdestotrotz eine Erfolgsgeschichte. Seine Publikationen in den 1960er Jahren forderten den Politologen und Germanisten Alfred Grosser heraus, der ihm einen „neutralen” und „kritiklosen” Ansatz vorwarf. Allgemein hielt er den Deutschlandforschern aus dem Milieu des „gauchisme français” (französischer Linksradikalismus) vor, im Gegensatz zu den Anglizisten über ein Land – Deutschland – zu lehren, dessen Kultur und Sprache sie innerlich ablehnen. Da sie in der Bundesrepublik die Erbin des „unsympathischen Deutschlands” sähen, gelte diese als das „schlechte” Deutschland, während sie den „Feind meines Feindes”, also die DDR, zum „guten” Deutschland stilisieren würden.
Wie auch Badia engagierte sich Castellan in der französischen Freundschaftsgesellschaft der DDR. Als Vize- bzw. Präsident von France–RDA berichtete er in apologetischer Weise über seine Tätigkeit und die Geschichte dieser Gesellschaft in einer Monographie, die er gemeinsam mit ihrem langjährigen Generalsekretär und PCF-Mitglied Roland Lenoir im Jahre 1978 herausgab. Für dieses Engagement zeigte sich die SED erkenntlich und verlieh ihm anlässlich des 25-jährigen Bestehens von France–RDA im April 1983 den Orden „Stern der Völkerfreundschaft“.
Die Parteinahme für das eine oder das andere Deutschland innerhalb der linken DDR-Forschung war immer auch eine Stellvertreterauseinandersetzung zur eigenen Positionierung in der intellektuellen Landschaft Frankreichs. Typisch für sie war unter anderem, dass nichtkommunistische Linke wie Castellan die Schelte auf beiden Seiten der ideologischen Grenzlinie gleichmäßig verteilten, um nicht den professionnels de l’anticommunisme das Wort zu reden. Diese Auseinandersetzungen zwischen Antikommunisten und Anti-Antikommunisten waren ein Charakteristikum des intellektuellen Milieus in Frankreich bis zum Ende des Kalten Krieges.
Die gaullistische DDR-Forschung in Straßburg
Eine besondere Position in der französischen Perzeption der DDR stellte das Centre d’Études Germaniques (CEG) in Straßburg dar. Dass sich das CEG mit dem ostdeutschen Staatsgebilde schon sehr früh beschäftigte, lag an seiner besonderen Struktur und Aufgabe. Finanziert durch die französische Armee (bis 1966), die französische Militärregierung beziehungsweise das Hochkommissariat (bis 1951) und die Universität Straßburg wurden an dem Zentrum bis in die 1960er Jahre nahezu ausschließlich französische Besatzungsbeamte und Offiziere geschult, die in der Folge oft in der Auslandsaufklärung (second bureau) Verwendung fanden. Dominierten im Stundenumfang die Kurse über die Bundesrepublik auch nach 1959, so erhielten die Hörer auch systematisch Kurse zur DDR.
Unter der Leitung des Historikers François-Georges Dreyfus (1928-2011), Direktor des CEG von 1965 bis 1985, fuhren Studentengruppen regelmäßig in die DDR; zudem empfing das Centre nach 1973 wiederholt Historikergruppen aus der DDR und begründete eine Tradition von ostdeutsch-französischen Historikerbeziehungen. Dreyfus war langjähriger Vorsitzender des Straßburger Ablegers der Freundschaftsgesellschaft France-RDA und präsentierte die Dreiteilung in Bundesrepublik, DDR und Berlin in einem Handbuch als Ausdruck einer aus der Geschichte bekannten deutschen Kleinstaaterei. Mit dieser Sicht auf die Dinge befand sich Dreyfus in mehr oder minder stiller Übereinkunft mit der SED, die auch nicht müde wurde, West-Berlin als „drittes Deutschland” zu bezeichnen. Ob bei dieser Interpretation das traditionelle französische Deutschlandbild oder die kritische Haltung des Gaullisten Dreyfus zur Bonner Ostpolitik die Oberhand gewonnen und ihn bewogen hatte, die DDR gegen die Bundesrepublik auszuspielen, kann hier nicht beantwortet werden.
Abschließend sollte nicht außer Acht gelassen werden, dass innerhalb der französischen DDR-Forschung keine (ost-)deutschen Emigranten aktiv waren, was ein Unterschied zu den anderen osteuropäischen Ländern war. Sie gingen in der Regel in die Bundesrepublik, während Polen, Ungarn und Tschechen bis heute maßgeblichen Einfluss auf die Geschichtsschreibung ihrer Länder in Frankreich nehmen. Darüber hinaus kann festgehalten werden, dass die DDR schon vor ihrer diplomatischen Anerkennung 1973 als eine längerfristig bestehende politisch-ökonomische Ordnung wahrgenommen wurde. Dazu leisteten die verschiedenen Strömungen der französischen DDR-Forschung einen wesentlichen Beitrag. Dass sich die DDR in Frankreich eine genuine Identität erarbeiten konnte, lag nicht zuletzt auch an der breiten Rezeption von Schriftstellern wie Bertolt Brecht, Christa Wolf, Volker Braun oder Heiner Müller. Sie verliehen der DDR auch in der Forschung eine kulturelle Identität, hinter der die politische und ideologi-sche Durchherrschung des Staates oftmals verschwand.
Die DDR-Forschung nach 1990
Nicht so stark wie in Deutschland, doch durchaus mit einem nicht zu übersehenden Elan, veranlasste die Öffnung der ostdeutschen Archive nach 1990 auch französische Deutschlandforscher zu einer verstärkten Forschungstätigkeit zum gerade untergegangenen zweiten deutschen Staat. Dieser Aufschwung der französischen DDR-Forschung geschah zum einen im Rahmen der schon existierenden Forschungsstrukturen, weitete sich dann aber rasch aus. Zudem erfuhr sie eine methodische Erneuerung in Kooperation mit der deutschen Zeitgeschichtsforschung und eine Verwissenschaftlichung, nachdem ideologische Ansätze deutlich in den Hintergrund getreten waren. Charakteristisch blieb weiterhin das große Interesse der französischen Germanistik an der Geschichte der DDR. Neben den Arbeiten zu und Übersetzungen von vielen ostdeutschen Schriftstellern beschäftigten sich die civilisationnistes innerhalb der französischen études germaniques auch mit den politischen, wirtschaftlichen, gesellschaftlichen und kulturellen Entwicklungen in der DDR, wie sich unter anderem an den Themenheften in der Revue d’Allemagne et des pays de langues allemandes und in Allemagne d’aujourd’hui ablesen lässt. Auffällig ist zudem ein hohes Maß an Interdisziplinarität und eine Vorliebe für kulturwissenschaftliche Ansätze. Sehr schnell geriet auch die Erinnerung an die DDR und die Aufarbeitung ihrer Nachgeschichte in den Blick der französischen Deutschlandforschung.
Repräsentativ für die 2000er Jahre waren eine Tagung und der aus ihr hervorgegangene Sammelband Die ostdeutsche Gesellschaft. Eine transnationale Perspektive (2006), der unter der Leitung von Sandrine Kott und Emmanuel Droit herausgegeben wurde. Er war das Produkt von vorangegangenen methodischen Überlegungen in Form von Seminaren und Work-shops, einer engen Kooperation mit dem Zentrum für Zeithistorische Forschung (ZZF) in Potsdam und seiner Forschergruppe Herrschaft als soziale Praxis sowie eines interdisziplinären Ansatzes mit einer prononciert französischen Note, wie Étienne François in der Einleitung des Tagungsbandes betont:
„Alle Autoren interessieren sich primär für die Akteure und ihre Strategien; sie bevorzu-gen konkrete, empirische und kontextbezogene Feldstudien; sie greifen auf eine Vielfalt von Quellen (Archivmaterial, Interviews, Bildmaterial) zurück; sie zeigen eine besonde-re Aufmerksamkeit für Fragen des Vergleichs und der Verflechtung; sie hüten sich schließlich davor, zu ›theorielastig‹ zu werden, und sorgen dafür, dass in ihrer For-schungspraxis die Theorie immer im Dienst der empirischen Forschung bleibt.“ Wichtig für die heutige französische DDR-Forschung ist dabei die Tatsache, dass viele der damaligen Doktoranden mittlerweile Professoren geworden sind bzw. eine verbeamtete Stelle im Mittelbau der Universitäten und außeruniversitären Forschungsinstitutionen bekleiden, so dass sie Forschungen zur DDR fortsetzen konnten. Kontroverse intellektuelle Debatten zur Geschichte der DDR ließen sich dabei in den letzten Jahren kaum beobachten. Im schulischen und universitären Kontext fällt jedoch über die Jahre auf, dass die didaktische Vermittlung von Kaltem Krieg und deutscher Teilung zunehmend schwerer fällt, können doch erforderliche historische Grundlagen nicht mehr vorausgesetzt werden. Nachdem in früheren Jahren oftmals die (Hochschul-)Lehrer über ihre eigenen Erinnerungen an die DDR das kommunikative Gedächtnis unterfütterten, so muss heute konstatiert werden, dass die RDA immer weniger Teil einer selbstverständlichen Erfahrungswelt ist, was sie in der Gegenwart auch in Frankreich zu einem umstrittenen Projektionsort macht.
30 Jahre Mauerfall und die geschichtspolitischen Debatten in Frankreich
„Annexion“ war das Schlagwort, das in der französischen Öffentlichkeit im Moment des 30. Jahrestages des Mauerfalls kreiste. Dieser Begriff wird bei historisch interessierten Franzosen ansonsten mit der „Annexion“ von Elsass-Lothringen 1871 oder dem „Anschluss“ Österreichs 1938 in Verbindung gebracht, war aber auch für den Linkspopulisten Jean-Luc Mélenchon das „passende Wort“, um zu beschreiben, „was vor 30 Jahren passierte“. Mit diesem „Tweet“ vom 31. Oktober 2019 bezog er sich auf einen Beitrag in der linken Monatszeitschrift Le Monde diplomatique. Dieser Artikel basierte zu einem großen Teil auf Arbeiten von deutschen Autoren, die der aus Berlin-Oberschöneweide stammende Historiker Patrice Poutrus unlängst als „Neo-Ostalgiker“ bezeichnete. Anhänger dieser Auffassung von einer 1989 begonnenen Verlustgeschichte finden sich jedoch auch in Frankreich. Nachdem die Pariser Historikerin Sonia Combe bereits 2013 die These formuliert hatte, dass die Bundesrepublik die DDR „absorbiert“ habe, legte sie 2019 noch einmal nach und sprach von einer „bedingungslosen Annexion“ der DDR. Historische Ausgangspunkte für die These von einem verheißungsvollen Anfang sind die große Demonstration am 4. November 1989 auf dem Berliner Alexanderplatz und der Aufruf „Für unser Land“ vom 26. November, der sich für innere Reformen in der DDR und gegen eine schnelle deutsche Vereinigung aussprach.
Wie Sonia Combe selbst bekundet, wird ihr Blick auf die Geschehnisse nach dem Mauerfall von der persönlichen Enttäuschung dominiert, dass sich die Möglichkeit für einen „dritten Weg“ in der DDR zwischen Kapitalismus und Kommunismus nicht eröffnet habe. Sie blickt – wie auch der Historiker Nicolas Offenstadt – teleologisch auf die Ereignisse vom 9. November 1989 mit ihrem Wissen von der deutschen Vereinigung am 3. Oktober 1990 und kommt in dieser Engführung der beiden Ereignisse zu dem Schluss, dass die politischen Kräfte der Bundesrepublik Vorstellungen von einem „dritten Weg“ umgehend „neutralisiert“ hätten. Im Fokus der Kritik steht dabei der damalige Bundeskanzler Helmut Kohl, sodass René Schlott nach der Lektüre von „Le pays disparu“ (das verschwundene Land) zu folgendem Urteil kommt: „Bei Offenstadt bekommt der Leser den Eindruck, Helmut Kohl persönlich sei mit der Planierraupe durch den ‚annektierten Osten‘ gewütet“.
In ihrer Argumentation überschätzen die Verfechter dieser deterministi-schen Positionen zum einen die Homogenität der DDR-Opposition, trieben doch vielfältige Motive und Erwartungen die Ostdeutschen auf die Straße, zum anderen den Wunsch zu einem neuerlichen sozialistischen Experiment, das von der Mehrheit der Ostdeutschen bereits Ende November 1989 zugunsten einen schnellen Einführung der D-Mark und der deutschen Einheit abgelehnt wurde. Stimmen aus West- und Ostdeutschland, die in dem Beitritt der ostdeutschen Länder zum Geltungsbereich des Grundgesetzes eine „Annexion“, einen „Anschluss“ oder eine „Ko(h)lonisierung“ sahen, waren hingegen in einer eindeutigen Minderheitenposition, werden aber vor allem von Nicolas Offenstadt stark geredet, um die Geschichte der deutschen Vereinigung auf eine Abwicklung der DDR zu reduzieren. Zur Zielscheibe wird dabei die Treuhandanstalt, der es einzig darum gegangen sei, den Ausverkauf der ostdeutschen Wirtschaft voranzutreiben. Unterfüttert wird diese These im Buch von Nicolas Offenstadt von Lebensgeschichten ostdeutscher Bürger, die sich als Verlierer des Vereinigungsprozesses sehen. Dieses Opfernarrativ findet seine Anwendung bei Offenstadt auch in Bezug auf das von ihm unterstellte Verschwinden der DDR aus dem öffentlichen Raum beziehungsweise das Austilgen der „antimilitaristischen, pazifistischen und antifaschistischen“ Spuren auf dem Territorium der ehemaligen DDR. Dabei übersehen sie, dass es viele Ostdeutsche selbst waren, die sich unmittelbar nach dem Mauerfall von dem physischen und geistigen Erbe der DDR sowie den mannigfaltigen unliebsamen Erinnerungen an das SED-Regime befreien wollten. Erst die Vereinigungskrise in den frühen 1990er Jahren, enttäuschte Zukunftshoffnungen und schwierige wirtschaftliche Bedingungen führten dann wieder zu einer Suche nach Spuren aus der Vergangenheit und förderten die These von einer ostdeutschen Eigenidentität.
Sonia Combe und Nicolas Offenstadt werfen vor allem der Geschichtspolitik des vereinigten Deutschlands vor, dass der Kampf der Gründungsväter der DDR gegen den Nationalsozialismus keine Würdigung mehr finde. Während in anderen europäischen Ländern das „antifaschistische“ Eintreten gegen den deutschen Besatzer bis heute zur historischen Identität die-ser Staaten gehöre und Teil eines europäischen Erbes sein könnte, finde der Antifaschismus in der bundesdeutschen Erinnerungslandschaft keinen Platz, die bis heute von der Totalitarismustheorie dominiert werde.
Wenn Offenstadt das doppelte Austilgen der Erinnerung an die DDR und an die Traditionen der deutschen Arbeiterbewegung beklagt, dann übersieht er zum einen, dass die bundesdeutsche Geschichtskultur die „Heldenverehrung weitestgehend durch Opferempathie ersetzt hat“, zum anderen unterschlägt er die Tatsache, dass das antifaschistische Gedenken in der DDR hagiografischen und indoktrinären Charakter besaß. Wie im Falle der Erinnerung an die Protagonisten der deutschen Arbeiterbewegung und auch der Opfer der Lager war sie inszeniert, zensiert, verordnet und über die 40 Jahre hinweg ein Instrument der Legitimation, der Repression und des Machterhalts.
Dieses Bedauern über das Austilgen des „antifaschistischen Gedächtnis-ses“ als Folge der westdeutschen Siegermentalität rührt aus einem „Fortschrittsgedächtnis“, so die von Sabrow eingeführte Terminologie, das die DDR von ihrem Anfang her denkt und „seine Erinnerungen auf der vermeintlichen moralischen und politischen Gleichrangigkeit der beiden deutschen Staaten“ aufbaut. Historiografische Untermauerung findet dieser Ansatz durch sehr „nachsichtige“ Studien zu deutschen Emigranten, die wie Anna Seghers nach 1945 in der SBZ/DDR das „bessere“ Deutschland sahen und sich dort niederließen. In dieser Argumentation sei das „gute“ sozialistische Experiment durch eine „schlechte“ Politik der SED und westliche Einflussnahme diskreditiert worden, sodass es schließlich zu Fall kam.
Offenstadt ignoriert darüber hinaus die Tatsache, dass Begriffe wie „Faschismus“ und „Antifaschismus“ in der deutschen und französischen Sprache andere politische und kulturelle Konnotationen haben und im 20. Jahrhundert in den verschiedenen Sprachen begriffsgeschichtlichen Wandlungen unterworfen waren. Weil die Rassenlehre Grundlage für Hitlers Weltanschauung war, wurde für den deutschen Fall nach 1945 aus dem Bedürfnis nach Differenzierung vor allem der Begriff „Nationalsozialismus“ verwendet, unterschied er sich doch gerade auf diesem Feld vom italienischen Faschismus. So verschwand der Begriff „Faschismus“ auch nicht aus der westdeutschen Historiografie zugunsten des „Totalitarismus“; vielmehr diente die zu diskutierende Totalitarismustheorie der jungen Bundes-republik zur normativen Abgrenzung gegenüber Nationalsozialismus und Kommunismus.
Ein weiteres geschichtspolitisches Kampffeld ist das spezifische Wesen des untergegangenen ostdeutschen Staates. Ausgehend von dem Eindruck, dass das vereinigte Deutschland auf dem Diktaturcharakter der DDR insistiert, um sie in die Nähe des „Dritten Reiches“ zu rücken, weist Sonia Com-be dieses Interpretament – in der Linie von Gilbert Badia – zurück, ohne jedoch selbst den Charakter der DDR zu bestimmen. Vielmehr vergleicht sie die DDR vage mit einem Gefängnis, in dem man, wenn man zumindest nach außen hin vorgab, die von der Partei definierten Regeln zu akzeptieren, sein Leben in etwa nach den eigenen Vorstellungen habe ausrichten können. Wer wie Nicolas Offenstadt im „Diktaturgedächtnis“ die dominierende Haltung gegenüber der DDR im vereinigten Deutschland sieht, der muss ihre Aufarbeitung als Ausdruck einer historischen Siegermentalität inter-pretieren, die sich auf die repressiven Elemente des SED-Staates fokussiert. Sonia Combe sieht gar in der schnellen Öffnung der Stasi-Archive und in der Fokussierung auf die Verbrechen des Ministeriums für Staatssicherheit (MfS) den Versuch, in der deutschen Öffentlichkeit die rücksichtslos durch-gesetzte Wiedervereinigung zu legitimieren („à la hussarde“).
Als geschichtspolitischen Akteur dieser Siegermentalität haben Sonia Combe und Nicolas Offenstadt die Bundesstiftung zur Aufarbeitung der SED-Diktatur in Berlin ausgemacht, die über ihre Fördergelder eine Deu-tungshoheit besitze und in der Öffentlichkeit den Diktaturenvergleich durchsetze. Dabei wird einerseits außer Acht gelassen, dass die deutsche Erinnerungslandschaft 30 Jahre nach dem Fall der Mauer sehr viel pluraler und föderaler ist, als die Autoren dieses hier darstellen; andererseits kommen Forschungen zum Umgang mit der DDR im vereinigten Deutschland zu dem Schluss, dass um das Bild des zweiten deutschen Staates seit 30 Jahren heftig gestritten wird. 2009 konstatierte Martin Sabrow, dass die Erinnerung an die DDR „noch keine eindeutig markierte Position im kulturellen Gedächtnis gefunden“ habe. Vielmehr sei die Debatte um den Platz der DDR sowohl in der Öffentlichkeit wie auch in der Forschung ein „Kampfplatz der Erinnerung“. Diese These fand ihre Bestätigung auch in den Diskussionen im Vorfeld des 30. Jahrestages des Mauerfalls.
Fazit
Die französische DDR-Forschung war vor und nach 1989/90 unterschiedlichen ideologischen, intellektuellen und geschichtspolitischen Konjunkturen unterworfen, die zum einen den allgemeinen ideologischen Gräben des Kalten Krieges folgten, aber sowohl vor und nach dem Mauerfall französische Besonderheiten aufwiesen. Sie verdeutlicht in der Zeit des Systemkonflikts, dass dieser eben nicht nur auf politischem und militärischem Feld ausgetragen wurde, sondern immer auch eine intellektuelle Auseinandersetzung um die besseren Ideen, Haltungen, Methoden und Theorien war, die in diesem besonderen Fall – in Konkurrenz zueinander – auf die beiden deutschen Staaten projiziert wurden.
Nach 1989/90 erlebte auch die französische DDR-Forschung eine Entideologisierung und Verwissenschaftlichung. Als Kontinuität muss ihre interdisziplinäre Breite verstanden werden, die ihr einen Anschluss an ver-schiedene Forschungsfelder ermöglicht. Durch die starke Vernetzung der deutschen und französischen wissenschaftlichen Institutionen stellt sich heute aber auch die Frage, ob es überhaupt noch national verfasste DDR-Forschungen gibt, worauf auch die britische Historikerin Mary Fulbrook hinweist: „Es gibt meines Erachtens auch keine besondere ›französische‹ oder ›anglo-amerikanische‹ DDR-Forschung. Die ›beste‹ Methode ist die, die sich am besten eignet, um herauszufinden, was man herausfinden will.“ Die von Nicolas Offenstadt verwendete Methode der „Urban Exploration“ (Urbex), die nach Hinterlassenschaften in verlassenen Fabriken und Gebäuden sucht, hat ein innovatives Potenzial, doch wird sie aus historiografischer Perspektive problematisch, wenn sie sich auf einen Aspekt beschränkt und über diesen – wie in diesem Fall – die gesamte Geschichte der DDR und den Umgang mit ihr nach 1989/90 erklären will, wie auch René Schlott konstatiert: „So bleibt der Neuigkeitswert des Essays trotz der viel-versprechenden ‚Außenperspektive‘ gering. Denn die Verklärung der Ver-gangenheit erscheint weniger als ideologische denn als anthropologische Konstante.“
Man könnte diese „Ostalgie à la française“ sicherlich auch als „ein neues Kapitel in den von produktiven Missverständnissen und Phasenverschiebungen geprägten deutsch-französischen Beziehungen“ abtun, doch greift der Verweis auf gewöhnliche innerwissenschaftliche oder intellektuelle Dispute meiner Meinung nach zu kurz. Es handelt sich hier um eine links-populistische Strömung in der Geschichtswissenschaft, welche die Verlustgeschichte von DDR und deutscher Einheit in ihrem ideologischen Kampf gegen den sogenannten „Neoliberalismus“ instrumentalisiert, ihn geschickt in den Medien zu platzieren weiß und ihn auf diese Weise für die aufgewühlte französische Innenpolitik politisiert und ideologisiert. Was Patrice Poutrus mit Blick auf den innerdeutschen Diskurs betont, gilt somit auch für Frankreich: „Problematische Entwicklungen werden aus ihren Kontexten gerissen und vorschnelle Urteile gefällt. Man muss befürchten, dass die-se Kolonialisierungserzählung vor allem politischen Akteuren dient, die aus ihr eines Tages eine Rechtfertigung außerkonstitutioneller Politik stricken könnten“. Und hier schließt sich der Kreis zu dem bereits erwähnten Jean-Luc Mélenchon, dem der deutsch-französische Grüne Daniel Cohn-Bendit umgehend antwortete: „Hören wir mit diesem Unsinn auf. Und dann, dass der deutsche Kapitalismus, dass die Deutschen in Ostdeutschland Fehler gemacht haben, so wie sie auch in Westdeutschland Fehler gemacht haben, das ist offensichtlich, aber ‚Annexion‘ zu sagen, heißt heute ‚Radio nostalgie Allemagne de l’Est‘ wiederzubeleben. Hier wird aufgegriffen, was in Ostdeutschland die AfD, also die Rechtsextremen sagen.“
Zitierweise: "Die DDR als Zankapfel in Forschung und Politik. Französische Blicke auf den zweiten deutschen Staat“, Ulrich Pfeil, in: Deutschland Archiv, 9.4.2020, Link: www.bpb.de/307645
Die Antwort von Nicolas Offenstadt auf den Beitrag von Ulrich Pfeil kann Interner Link: hier gelesen werden.
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