Einleitung: Die (fast) vergessene Frühgeschichte der Treuhand
Gab es sie oder gab es sie eben nicht, Alternativen zur 1990 von der deutsch-deutschen Politik eingeschlagenen und ab 1991 von der Treuhandanstalt in die Praxis umgesetzten, hochumstrittenen Privatisierungsstrategie? In diesen im Wahl- und Jubiläumsjahr 2019 mit großer Intensität geführten Diskussionen geraten ausgerechnet die vielfältig-unbestimmten Anfänge der Treuhand oft aus dem Blick.
Vorgeschichte: Deutsch-deutsche Debatten seit dem Herbst 1989
Nach der Ablösung des glücklosen Egon Krenz (SED-Generalsekretär und Staatsratsvorsitzender der DDR) durch Hans Modrow schlug im November 1989 die Stunde des Reformkommunismus in der DDR. Hatten zunächst politische Fragen die revolutionäre Agenda dominiert, rückten ab November ökonomische Überlegungen in die diskutierende Öffentlichkeit. Einen Auftakt bildete ein Artikel der Ökonomen Wolfgang Heinrichs und Wolfram Krause, der am 3. November 1989 im Neuen Deutschland veröffentlicht wurde. In diesem langen Plädoyer, das eine „Wirtschaftsreform“ als zentrales „Element der Erneuerung des Sozialismus“ herausstellte, knüpften die Autoren an die in den späten 1960er-Jahren abgebrochenen Reformdiskussionen an. Sie entwickelten ein Modell einer „konsequent ressourcenschonenden und ökologischen“ Planwirtschaft, die den Betrieben und ihren Generaldirektoren mehr „Eigenverantwortung“ zubilligte und so sukzessive Spielräume für mehr Wettbewerb durch neue Leistungsanreize und Marktelemente eröffnen sollte.
Parallel zu diesen vielstimmigen Wirtschaftsreformdebatten nahmen auch die ökonomischen Fach-Diskussionen in der Bundesrepublik an Fahrt auf. So legte der Sachverständigenrat zur Begutachtung der gesamtwirtschaftlichen Entwicklung am 20. Januar 1990 ein „Sondergutachten“ vor. Die „Wirtschaftsweisen“ warben darin pointiert, dass es nur „ein Erfolgsmuster für die Wirtschaftsreform“ gebe – die „offene marktwirtschaftliche Ordnung mit sozialer Absicherung“. Einer reformierten Planwirtschaft oder anderen „Dritten Wegen“ zwischen Plan und Markt erteilten die West-Ökonomen eine Absage. Insbesondere die Einführung von Privateigentum erschien als einzuschlagender Königsweg.
Diese Experten-Vorschläge wurden derweil verstärkt von politischen Akteuren aufgegriffen. Insgesamt hatte sich die politische Landschaft in Bonn von den Umbrüchen in der DDR weitgehend überrascht gezeigt; insbesondere die dortige wirtschaftliche Situation schien nur schwer greifbar. Generell war es zu diesem Zeitpunkt umstritten, inwiefern sich bundesdeutsche Akteure in die DDR-internen Debatten einmischen sollten. Vor allem bei den oppositionellen Sozialdemokraten und Grünen tobte darüber ein Streit.
Bundeskanzler Helmut Kohl hatte die DDR am 28. November 1989 in seinem „Zehn-Punkte-Programm“ vage zu einer „grundlegenden Reform des Wirtschaftssystems“ aufgefordert, um durch „marktwirtschaftliche Bedingungen“ eine „private Betätigung“ und „westliche Investitionen“ zu ermöglichen.
Diese Initiative erschütterte die christlich-liberale Bundesregierung, die sich von mehreren Seiten unter Handlungsdruck gesetzt sah: Während der Modrow-Regierung zunehmend die Kontrolle zu entgleiten schien, strömten bei geöffneten Grenzen monatlich Hunderttausende Menschen gen Westen, die dort mit wachsender Skepsis beäugt wurden. Ende Januar ergriff das Bundesfinanzministerium die Initiative und entwickelte ein eigenes Konzept zum „Angebot“ einer sofortigen „Währungsunion“, das den Ostdeutschen die heißbegehrte D-Mark versprach, aber mit einer umfassenden „Wirtschaftsreform“ verknüpft werden solle, die auf eine vollständige Übernahme des westdeutschen Wirtschaftsmodells hinauslief.
Urgeschichte: Die Gründung der Ur-Treuhand am Runden Tisch im Frühjahr 1990
Wie sehr das spektakuläre „Angebot“ die politische Landschaft in Deutschland schlagartig veränderte, lässt sich im Kontrast zu einem anderen Konzept ablesen, das nur wenige Tage zuvor der Öffentlichkeit vorgestellt worden war. Noch am 1. Februar 1990 hatte die von der SED/PDS-Regierung eingesetzte Arbeitsgruppe „Wirtschaftsreform“ ihr Reformkonzept vorgelegt, das binnen weniger Wochen von Hunderten Experten unter der Federführung des mittlerweile zum Staatssekretär beförderten Wolfram Krause und Ministerin Christa Luft erarbeitet worden war. Hierin plädierten die Reformkommunisten noch für langfristige wie graduelle Reformschritte hin zu einer „sozialistischen Marktwirtschaft“ nebst „Eigentumspluralismus“.
Interessanterweise schienen wirtschaftspolitische Fragen am Zentralen Runden Tisch der DDR zunächst nebensächlich; erst vor der dritten Sitzung konstituierte sich vor Weihnachten 1989 eine „AG Wirtschaft“. Auch hier schlug das „Angebot“ der Bundesregierung erhebliche Wellen. In seiner Sitzung vom 12. Februar 1990 wollte der Runde Tisch eigentlich ein Grundsatzpapier für das deutsch-deutsche Regierungstreffen beschließen, das am Folgetag in Bonn stattfinden sollte. In der Debatte meldete sich Wolfgang Ullmann zu Wort. Der Vertreter von „Demokratie Jetzt“ und Kirchenhistoriker bezog sich auf die jüngsten Vorschläge aus der Bundesrepublik. Es gelte, „schnellstmöglich die Selbstorganisationskräfte des Marktes“ in der DDR wirken zu lassen; hierfür aber bedurfte das bedrohte Volksvermögen dringend eines Schutzschirmes: Ullmann schlug die Errichtung einer „Treuhandstelle“ vor, die sich einer „Sicherung der Rechte der DDR-Bevölkerung am Gesamtbesitz des Landes“ verschreiben sollte.
Ullmanns Initiative kam nicht von ungefähr. Er nutzte hierfür ein Papier des Freien Forschungskollegiums „Selbstorganisation“, in dem der Physiker Gerd Gebhardt sowie der Ingenieur Matthias Artzt seit Frühjahr 1989 ein neues, dezentrales Wirtschafts- und Gesellschaftsmodell entwickelt hatten, das auf einer breiten gesellschaftlichen Verteilung und Kontrolle von Gemeineigentum beruhte. Da „eine baldige Angliederung der DDR an die Bundesrepublik“ drohe, so die Vorlage, bestehe eine akute „Verlustgefahr“. Das Volksvermögen sei dabei aus zwei Richtungen bedroht: Zum einen durch alte SED-Kader, die sich zunehmend als neue „Manager“ oder Eigentümer gerierten; zum anderen durch „westliche Kapitalisten“, die sich bereits umfassend nach Spekulationsmöglichkeiten umsähen. Eine sofort zu schaffende „Treuhandstelle“ solle das Industrievermögen zunächst in die „Rechts- und Eigentumsformen der Bundesrepublik“ überführen. Nach der „Bewahrung“ solle in einem zweiten Schritt eine „Demokratisierung“ dieses Vermögens über die Ausgabe von Anteilsscheinen an die Bevölkerung erfolgen.
Diese Initiative markierte ein Umdenken. Nicht mehr langfristige Reformpläne, sondern kurzfristige Absicherungsmaßnahmen schienen das Gebot der Stunde zu sein. Zugleich hatte man sich Anfang Februar am Runden Tisch darauf verständigt, die für Mai geplante Volkskammerwahl auf den 18. März 1990 vorzuziehen, wobei der unmittelbar einsetzende Wahlkampf die Stimmungslage nochmals anheizte. Und nicht zuletzt befand sich auch die ohnehin angeschlagene DDR-Wirtschaft seit der Maueröffnung in einer dramatischen Lage: Während Arbeitskräfte das Land scharenweise verließen und andererseits zugleich massenhaft heißbegehrte Westprodukte in die DDR strömten, befanden sich die Organisationseinheiten der Zentralplanwirtschaft im Prozess der Auflösung. Auch in den Betrieben und bei den Belegschaften herrschte enorme Verunsicherung über die Zukunft.
Vor diesem Hintergrund erschien auch der Modrow-Regierung der erst kürzlich vorgestellte Reformplan kaum noch realisierbar. Deshalb griffen sie Ullmanns Initiative kurzentschlossen auf: Staatssekretär Wolfram Krause schlug der DDR-Regierung Ende Februar die Gründung einer Treuhandanstalt vor. Allerdings blieb er dabei in einem wesentlichen Punkt hinter den Erwartungen Ullmanns und seiner Mitstreiter zurück: Zwar sollte die neue „Treuhand-Stelle“ die rechtsförmige Umwandlung des Volkseigentums in Angriff nehmen, eine sofortige Ausgabe von Anteilsscheinen war allerdings – sehr zum Unmut der Initiatoren – nicht vorgesehen. Am 1. März 1990 beschloss das Modrow-Kabinett die Gründung einer neuen Behörde und erließ eine flankierende Verordnung zur Umwandlung der Betriebe.
Frühgeschichte: Von der „DDR-Behörde“ zur Privatisierungsagentur im Sommer 1990
Das Resultat der Volkskammerwahl am 18. März markierte auch für die Wirtschaftsgeschichte der DDR einen dramatischen Einschnitt. Entgegen aller Erwartungen setzten sich – nach einem hitzig geführten Wahlkampf – die konservativen Kräfte und Einheits-Befürworter in der „Allianz für Deutschland“ mit absoluter Mehrheit durch (CDU: 42 Prozent; DSU: 7 Prozent). Die favorisierten Sozialdemokraten landeten mit 21 Prozent auf dem zweiten Rang; die Oppositionskräfte erreichten sogar nur 3 Prozentpunkte und rangierten hinter der FDP, die auf 5 Prozent kam. Die seit Dezember 1989 als PDS firmierende einstige Staatspartei SED besaß mit 16,4 Prozent keine Regierungsperspektive mehr.
Mit diesem Erdrutschsieg der Konservativen waren auch sämtliche Pläne einer sozialistischen „Wirtschaftsreform“ oder andere „Dritte Wege“ Makulatur geworden. Als Relikt blieb lediglich die vor der Wahl gegründete „Treuhand-Stelle“. Deren personellen Rumpf bildeten über ein Dutzend Planwirtschafts- und Branchenexperten, die zuvor in der aufgelösten Arbeitsgruppe „Wirtschaftsreform“ aktiv waren. Insbesondere Wolfram Krause, der zu einem der vier Direktoren ernannt wurde, wies den Weg – ergab sich doch hier eine Perspektive, der drohenden Entlassung zu entfliehen und weiter am Umbau der ostdeutschen Betriebslandschaft mitarbeiten zu können. Ab April 1990 nahmen die ersten 77 Mitarbeiter/innen ihre Tätigkeit in spärlich möblierten und schlecht ausgestatteten Büros im Amtssitz des vormaligen DDR-Außenhandelsministeriums auf. Schräg gegenüber der sowjetischen Botschaft begann für diese Mitarbeiter/innen der „ersten Stunde“ eine „skurrile Zeit“ bei der Erfüllung einer „Wahnsinnsaufgabe“, wie sie es wenige Jahre später in Zeitzeugengesprächen beschrieben.
Die Leitung der Treuhand übernahm Peter Moreth, ein Politiker der liberalen Blockpartei und Minister der Modrow-Regierung. Ein erstes „Pressematerial“ vom April informierte die Öffentlichkeit über die drei „Hauptaktivitäten“, die in der „Erfassung und Übernahme“, der „Umwandlung“ sowie der „effektiven Bewirtschaftung“ der „volkseigenen Betriebe“ bestünden. Hierdurch sollten „willkürliche ungesetzliche Veräußerung von Volkseigentum an Dritte“ vereitelt werden. In der Praxis betreibe man eine „intensive Konsultationstätigkeit“, veranstalte am Tag „25 Beratungen von Kombinaten und Betrieben“ und erteile „über 70 telefonische Auskünfte“. Bis Ende April habe man auf diese Weise bereits 71 Betriebe in GmbHs sowie drei in Aktiengesellschaften umwandeln können, wobei der ersten Umwandlung – dem VEB Elektromaschinenbau Dresden mit 28.500 Mitarbeiten – als Musterverfahren eine besondere Rolle zukam.
In der anlaufenden Praxis erwiesen sich diese Umwandlungsverfahren als komplex und anspruchsvoll. Die bald über einhundert Mitarbeiter/innen waren mit einer Mischung aus „Massenproblem“ und „Mangelsituation“ konfrontiert: Auf der einen Seite wollten 8.500 DDR-Betriebe mit über vier Millionen Mitarbeitern zügig auf die neuen Rechtsformen umgestellt werden, um in die Marktwirtschaft starten zu können. Auf der anderen Seite mangelte es hierzu im Grunde an allem: Es war zunächst unklar, welche Dokumente benötigt wurden, da noch keine Richtlinien, Formblätter oder Musterdokumente existierten. Auch war die technische Ausstattung äußerst bescheiden, insbesondere was die Kommunikationsmöglichkeiten betraf. Es waren zudem kaum Informationen über die zahlreichen Betriebe vorhanden. Ferner bestand systembedingt ein eklatanter Mangel an Notaren, die die Umwandlungen formal beglaubigen mussten. Insgesamt stellte die komplizierte Materie des westdeutschen Eigentums- und Unternehmensrechts eine erhebliche Herausforderung dar. Und schließlich schwebte über allem die immense Verunsicherung über den weiteren Fortgang der Entwicklungen, insbesondere nach der kommenden Währungs- und Wirtschaftsunion.
In einem „intensiven Lernprozess“, wie es ein Treuhand-Mitarbeiter beschrieb, hätten sich im Frühjahr 1990 zahlreiche Aufgaben „überschlagen“ und seien in der Kürze der Zeit schlicht unlösbar gewesen. Vertreter der Kombinate brachten die umfangreichen Dokumentenpakete mit Lastkraftwagen sowie eigenen Schreib- und Büromaterialien vorbei, um die administrativen Vorgänge zu beschleunigen. Insgesamt schien das Verhältnis zwischen der Treuhandanstalt als Eigentümerin und den selbst im Umbruch befindlichen Unternehmens- und Betriebsleitungen unklar. Zwar sollte die neue Treuhand keine „wirtschaftsleitenden Funktionen“ mehr ausüben, wie noch die Modrow-Regierung im Statut vom 15. März festgehalten hatte; andererseits aber verfielen die Akteure auf in Jahrzehnten einer zentral gelenkten Planwirtschaft erlernte Verhaltensmuster zurück. Das hieß, dass die Betriebe ihre wirkliche Situation vor der fernen „Zentrale“ in Ost-Berlin taktisch zu verschleiern suchten. Schließlich verkomplizierte auch das Auftreten westlicher Berater und Investoren die kaum überschaubare Szenerie.
In der Öffentlichkeit spielte die Treuhand im Sommer 1990 nur eine Nebenrolle. Lediglich als Direktor Moreth in einem Interview mit einer westdeutschen Tageszeitung Ende April eine mögliche Verteilung von Anteilsscheinen an die Ostdeutschen erneut ansprach, sorgte dies für erheblichen Unmut bei der DDR-Regierung, die Moreth kaltstellte.
Der Schlussstein dieser Diskussionen war das am 17. Juni 1990 von der Volkskammer nach erheblichen parlamentarischen Kontroversen verabschiedete Treuhandgesetz. Dieses schrieb fest, dass „die unternehmerische Tätigkeit des Staates durch Privatisierungen so rasch und so weit wie möglich zurückzuführen“ sei. Zudem gelte es, „die Wettbewerbsfähigkeit möglichst vieler Unternehmen herzustellen und somit Arbeitsplätze zu sichern und neue zu schaffen“.
Für die mittlerweile 122 ostdeutschen Mitarbeiter/innen der „Ur-Treuhand“, denen noch knapp 220 Kolleg/innen in den „Außenstellen“ der 15 DDR-Bezirkshauptstädte zugeordnet waren, zeichnete sich damit ein dramatischer Einschnitt ab – und dies keineswegs nur durch den Umzug in neue Etagenbüros am Alexanderplatz. Am 3. Juli 1990, also unmittelbar nach Inkrafttreten der Wirtschafts- und Währungsunion, legte das scheidende Direktorium um Wolfram Krause einen finalen „Tätigkeitsbericht“ vor. Immerhin hatte man in vier Monaten fast 3.600 Betriebe in AGs und GmbHs umgewandelt, wovon etwa 1.500 auf die Außenstellen entfielen. Von den 7.432 gestellten Rückerstattungsanträgen, die vor allem auf die 1972 enteigneten Unternehmen zielten, hatte man 381 zurückgegeben. Für die Zukunft wünschte sich das Treuhand-Personal – in fast anrührender Bescheidenheit – eine Verdopplung der Mitarbeiterzahl, neue Trennwände und geeignetes Mobiliar für die Großraumbüros sowie die „Zuführung von Bürocomputertechnik“. Insgesamt habe man, aller Defizite und Widrigkeiten zum Trotz, in den hektischen Monaten „eine Basis für die höheren Anforderungen“ gelegt, „die die Marktwirtschaft insbesondere in Hinblick auf die Privatisierung des Volksvermögens“ künftig stelle.
Fazit: Warum lohnt ein Blick auf die „Ur-Treuhand“?
Sicher war den ostdeutschen Treuhand-Mitarbeiter/innen im Juli 1990 klar, dass tiefgreifende Veränderungen bevorstanden. Wie sehr und schnell sich die Treuhand und ihr Führungspersonal in Zukunft verändern würden, war zu diesem Zeitpunkt jedoch kaum absehbar. Es war vor allem Detlev Karsten Rohwedder, der ab August 1990 der Treuhand ein neues Gesicht gab. Dieser hatte sich als Wirtschafts-Staatssekretär in den 1970er- und in den 1980er-Jahren als Vorstandschef des Dortmunder Hoesch-Konzerns einen Ruf als zupackender Krisenmanager gemacht – und baute nun die Treuhand-Zentrale und ihre Niederlassungen mit viel Energie um und aus. Unter Rohwedder verstand sich die ab dem 3. Oktober 1990 dem Bundesfinanzministerium unterstellte Treuhand strukturell wie kulturell als marktorientiertes Dienstleistungs-Unternehmen und rekrutierte neues Fachpersonal.
Dieser radikale Umbau trug nach kurzer Zeit Früchte: Zum Jahreswechsel waren bereits über eintausend Mitarbeiter/innen für die Treuhand tätig, darunter immerhin einhundert Westdeutsche, die die Führungspositionen bekleideten. Die Treuhand drückte aufs Tempo und traf erste Entscheidungen; zügige Privatisierungen an westdeutsche Investoren schienen die „wirksamste Form der Sanierung“ zu sein, wie Präsident Rohwedder noch kurz vor seiner Ermordung am 1. April 1991 in einem Rundschreiben formulieren sollte. Mit den Schließungsentscheidungen und Massenentlassungen war die Stimmung in der ostdeutschen Umbruchsgesellschaft binnen kürzester Zeit umgeschlagen: Statt „blühenden Landschaften“ und einem zweiten „Wirtschaftswunder“ waren „Deindustrialisierung“, Massenarbeitslosigkeit und Abwanderung die beherrschenden Themen. Die Treuhand geriet ins Fadenkreuz heftiger Proteste, hitziger Diskussionen und erschütternder Skandale.
Die, die dennoch an Bord blieben, mussten intern oft einen erheblichen Statusverlust verkraften – nicht selten fanden sich einstige DDR-Ministerstellvertreter und langjährige Branchenexperten als einfache Referenten wieder, die sich ihren westdeutschen, zum Teil deutlich jüngeren Vorgesetzten unterzuordnen hatten. Die oft abrupt vollzogenen Anpassungen und „Konversionen“ schienen viele Mitarbeiter/innen nicht unberührt zu lassen – immerhin hatte man zuvor Jahrzehnte für den Erhalt der Planwirtschaft gekämpft und war nun mit deren rascher „Abwicklung“ und Zerschlagung beauftragt. Nicht zuletzt belastete das katastrophale Treuhand-Image ganze Freundes- und Familienkreise.
Warum lohnt es sich nach über dreißig Jahren, auf diese Vor-, Früh- und Urgeschichten der Treuhand zurückzublicken? Auch wenn die in dieser hochdynamischen Phase diskutierten und getroffenen Lösungs- und Praxisvarianten beim Übergang vom Plan zum Markt letztlich bereits im Frühjahr 1990 nicht realisiert wurden, lohnt deren differenzierte Diskussion.
Denn sie sensibilisieren für denkbare Alternativen, abweichende Szenarien sowie nicht-realisierte Optionen, die Teil dieser hochbeschleunigten Revolutions- und Umbruchsprozesse sind. Dabei gilt es nicht zuletzt, den geschichtspolitisch oder aus Zeitzeugenperspektiven hochgehaltenen ökonomischen Handlungszwängen und vermeintlichen kapitalistisch-marktbezogenen Alternativlosigkeiten aus geschichtswissenschaftlicher Perspektive mögliche „andere Enden der Geschichte“ entgegenzuhalten, wie auch Philipp Ther jüngst überzeugend argumentierte.
Zitierweise: Marcus Böick, Die „Ur-Treuhand“ im Jahr 1990, in: Deutschland Archiv, 27.01.2020, Link: www.bpb.de/303951