„Im VIII. Parteitag des ZK wurde doch so viel gesprochen und geschrieben, daß jegliche Hilfe den kranken Menschen gegeben wird, zumal unserem Sohn in keiner Beziehung mehr geholfen werden kann.“ Um einem bereits fünf Jahre zuvor auf Bezirksratsebene gestellten Antrag auf Heimunterbringung ihres Sohnes mit Trisomie 21 Nachdruck zu verleihen, erinnerte eine Sächsin 1973 das Ministerium für Gesundheits- und Sozialwesen an die bereits 1971 proklamierte Einheit von Wirtschafts- und Sozialpolitik. Ihre Eingabe war gleichzeitig politisch wie familiär begründet: Angesichts der sich für sie aus der heimischen Kindspflege ergebenden Einschränkungen stellte sie die Wirksamkeit des Parteitagsbeschlusses infrage. Dieser Fall steht für ein bisher vernachlässigtes Feld deutsch-deutscher Zeitgeschichte. Pflege ist und war überwiegend ein häusliches und damit oft familiäres Phänomen – auch in der transformierten Bundesrepublik leben weniger als 2,7 Prozent der Menschen mit schweren Behinderungen ganztägig in Heimen. Die Behinderung eines oder mehrerer Kinder bedingt(e) für Familien oft die Ausrichtung des gesamten Alltags auf deren Bedürfnisse.
Dieser Beitrag vergleicht Pflegealltage in beiden deutschen Nachkriegsgesellschaften. Unter „Familien“ verstehen wir (Groß-)Eltern-Kind-Beziehungen, was neben Kernfamilien weitere mehrgenerationale Konstellationen potentiell miteinbezieht. Wir untersuchen, wie diese Gemeinschaften sich tagtäglich Pflegeanforderungen stellten, welchen politischen und gesellschaftlichen Bedingungen sie unterlagen und wie sie diese selbst veränderten. Neben einer Einbettung in die sozialstaatlichen Rahmungen in Ost und West werden drei Perspektiven eingenommen. Erstens steht im Mittelpunkt, wie Haushalte sich organisierten. Zweitens wird auf sich wandelnde Erwartungen und Bedürfnisse der Gepflegten und Pflegenden geblickt. Drittens wird erörtert, wie geschlechtliche Leitbilder und gesellschaftliche Vorstellungen über die Betreuungswürdigkeit von Menschen mit Behinderungen in die Familien hineinwirkten. Wir argumentieren, dass sich die Pflegeherausforderungen in der sozialen Praxis in beiden Staaten oft ähnelten. Durch ungleiche Familienideale, Aufmerksamkeitskonjunkturen und zivilgesellschaftliche Verhältnisse gestalteten sich innerfamiliäre Handlungsspielräume jedoch sehr verschieden. Diese Unterschiede trafen nach 1989/90 im Transformationsprozess aufeinander und hallen bis in die Gegenwart nach.
Pflegehierarchien in der Nachkriegszeit
Die Nachkriegszeit war eine Zeit des Pflegens. Aus einer großen Gruppe sorgebedürftiger Kriegsopfer ragten die politisch stark organisierten verwundeten Veteranen hervor. Die Mehrheit der 1,5 Millionen westdeutschen Kriegsversehrten wurde in der Familie versorgt. Bei ihren Ehefrauen, die neben dem Betten, Kleiden und Nähren der Gatten nicht selten auch deren Erwerbsausfall kompensieren und meist mehrere Kinder versorgen mussten, setzte rasch eine pflegerische Überlastung ein. Ihrer Entkräftung wurde in der jungen Bundesrepublik bereits 1950 mit dem Zusammenschluss der Müttergenesungswerke begegnet. In Westdeutschland lebten laut einer Volkszählung zeitgleich auch 33.776 Menschen mit körperlichen Beeinträchtigungen unter 15 Jahren und 14.114 zwischen 15 und 18 Jahren. Wie viele Jugendliche mit geistigen und psychischen Beeinträchtigungen der „Euthanasie“ entkommen waren, ist jedoch nicht eindeutig überliefert. Dennoch: Anders als bei kriegsversehrten Ehemännern stand hinter der Versorgung dieser nur wenige Jahre zuvor als „erbkrank“ betitelten und tausendfach ermordeten Kinder kein „Dank des Vaterlandes“.
In Ostdeutschland wurde aus ideologischen Gründen einer Privilegierung der Kriegsversehrten aktiv entgegengewirkt, auch durch die 1951 neu kodifizierte Anerkennung als „Schwergeschädigte“ anhand des körperlichen Zustands und nicht nach der Behinderungsursache. In der Praxis mussten allerdings auch die ostdeutschen Veteranen freilich versorgt und gepflegt werden. Anders als bei Kriegsversehrten war weder im Westen noch im Osten mit der Pflege von Kindern mit Behinderungen die Idee verbunden, durch Wiederherstellung männlicher Erwerbskraft vermeintlich in Unordnung geratene Familienverhältnisse wieder in normale Bahnen zu lenken. Im Gegenteil: Unter dem Einfluss tradierter eugenischer Vorstellungen über die Leiden behinderter Menschen und unter hohem Wohnungsdruck entschieden sich viele Familien, sich zumindest einer Pflegebelastung zu entledigen. Anders als bei den Veteranen war bei Kindern mit Behinderungen eine Heimeinweisung gesellschaftlich anerkannt. Wenngleich in vielen Heimen Gewalt zum Alltag gehörte, galten sie Eltern oft als geeigneterer Ort für ihre Kinder als die eigene Familie. Denn lange boten vorrangig Heime (Aus-)Bildungsmöglichkeiten für Menschen mit Behinderungen. In der jungen Bundesrepublik wie in der DDR wurde die Anstaltsunterbringung der Kinder oft mit familiärer Überforderung begründet.
Verschärft wurde die Problematik in Ostdeutschland durch die Verbreitung weiblicher Erwerbstätigkeit, die auch von Müttern eingefordert wurde. Einen entscheidenden Einfluss auf die familieninterne Rollenverteilung hatte dies jedoch im Großen und Ganzen nicht: Auch in der DDR kamen Haushalt und Haussorge im Regelfall der Mutter zu, sodass die Erwartungshaltungen der Pflege und der Berufstätigkeit in Konflikt treten konnten. Noch in den 1970er Jahren fragten Erfassungskarteien für Kinder mit Behinderungen nach dem Grund einer Teil- oder Nichterwerbstätigkeit der Eltern. Hier stellte die Kindspflege eine häufige Antwort dar, jedoch fast ausschließlich in Bezug auf Mütter. Dieses staatliche Interesse an einer möglichst lückenlosen Erfassung der „Geschädigten“ fungierte auch als Planungsgrundlage für das Heim- und Sondererziehungssystem sowie die medizinische Betreuung.
Ein wesentlicher Unterschied zu Westdeutschland war dabei eine 1954 eingeführte, später aktualisierte Meldepflicht von Kindern und Jugendlichen mit Behinderungen für Eltern, Ärzte und Lehrer, gestützt von regelmäßigen ärztlichen Reihenuntersuchungen. Diese obligatorische Integration in das Fürsorgenetz strukturierte auch den familiären Alltag mit, ermöglichte sie doch Zugang zu, verpflichtete aber auch zur Nutzung von Pflegeangeboten. Auch stellte sie regelmäßigen Kontakt zu Beamten sowie pädagogischen und medizinischen Experten her. In Westdeutschland verhinderte auch die Erinnerung an NS-Listensysteme eine ärztliche Meldepflicht.
Die DDR wies allerdings zunächst gravierende Versorgungslücken bei der institutionellen Unterbringung von Kindern mit Behinderungen auf, insbesondere bei denen, die als „schulbildungsunfähig, aber förderungsfähig“ oder gar „förderungsunfähig“ eingestuft wurden. Viele wurden vorerst in Altersheimen oder Erwachsenenpsychiatrien, also in gerade nicht auf ihre Bedürfnisse ausgelegten Einrichtungen untergebracht oder verblieben in der häuslichen Pflege. Auch fehlten in der Diktatur unabhängige Fürspracheorgane, die diese und andere Missstände hätten öffentlich problematisieren können.
Die familiäre Aufteilung von Erwerbs- und Sorgearbeit zwischen den Geschlechtern wurde in der DDR wie der Bundesrepublik als politisches Unterscheidungsmerkmal vom anderen Deutschland verstanden, aber beiderorts auch als Bruch mit dem Nationalsozialismus gewertet. Diese Neuordnungen übten auf Frauen Druck aus, durch Sorgetätigkeit respektive Sorge- und Erwerbstätigkeit die Realisierung einer marktwirtschaftlichen oder sozialistischen Zukunft sicherzustellen. Der Pflege von Kindern mit Behinderungen wurde in diesen Visionen allerdings in keinem der beiden deutschen Staaten ein zentraler Ort gegeben.
Neue Sichtbarkeiten und ein „monströses Krippenheer“
Erst Mitte der 1950er Jahre änderte sich dies – im Westen. Getrennt nach Behinderungsformen schlossen sich in rascher Folge Eltern-und Expertenverbände zusammen, deren bekanntester die Lebenshilfe ist. Sie resultierten aus lokalen Vernetzungen, oft mit dem Ziel, Kindern mit Behinderungen eine (Sonderschul-)Bildung und Berufskarriere zu ermöglichen. Ihre politische Interessenarbeit nahm mit der starken Medienpräsenz des Contergan-Skandals Fahrt auf. Vor dem Hintergrund einer versäumten Medikamentenprüfung sahen einzelne Eltern erstmals ihre Chance, den Staat in die Pflicht zu nehmen. In unzähligen Briefen hoben sie Versorgungslücken hervor: „Nach meinen bisher gemachten Erfahrungen kam ich zu der Auffassung, daß alle Sorgen und Kosten für ein solches Kind nur in der Hand der leidgeprüften Eltern liegen.“ Es pflegten weiterhin vornehmlich Frauen, die nun ebenfalls die Härten des Pflegealltags politisierten: „Wir Mütter wollen nichts den das seelische Leid wo wir bihs jetzt mitgemacht haben das kann man nicht mit Geld bezahlen. Wenn Sie etwas für die Mütter tun wollen so geben Sie Ihr ein paar hundert Mark damit wir mit unsrer Familien einmal Urlaub machen können und aus dem Leid heraus kommen.“ Allerdings wurden Mütter nicht entlastet, sondern das weibliche Aufgabenspektrum erweiterte sich. In den Reihen westdeutscher Elternverbände dominierte nicht nur ein bürgerliches Familienbild, Heilmediziner adressierten Mütter als ausführendes Organ neuer Haustherapien. Während verheiratete Frauen zunehmend auf (Teilzeit-) Anstellungen drängten, beschrieben Fachleute die Abwesenheit der Mütter von Kindern mit Behinderungen als höchst gefährlich. Die Auswirkungen konnten vermeintlich jenseits der Mauer beobachtet werden: „Mit Sorge blickt deshalb der sozialhygienisch orientierte Arzt in den Osten unseres Landes, in dem aus einer kurzsichtigen Fehleinschätzung des Fetisches ‚Arbeitsproduktivität‘ ein monströses Heer an Kinderkrippen errichtet wurde, um die jungen Mütter systematisch aus den Familien in die Fabriken zu bringen. 1967 betrug das Angebot an Krippenplätzen für die Kinder bis zu 3 Jahren in der DDR 538 auf 1000 Neugeborene bzw. für je 1000 Neugeborene eines Jahrganges 174 Plätze. Es lag damit gegenüber der Bundesrepublik mit 3 Plätzen auf 1000 Kinder eines Geburtsjahrganges fast 60mal höher.“ Tatsächlich erlebte in der DDR die Zahl an Einrichtungsformen und -plätzen einen Anstieg, der sich in den 1970er Jahren noch besonders intensivierte. Dies lag auch daran, dass das Konzept einer gänzlichen „Förderungsunfähigkeit“ von Menschen mit schweren geistigen Behinderungen zunehmend hinterfragt wurde, ohne aber gänzlich aufgegeben zu werden. Eine flächendeckende Versorgung wurde gleichwohl nicht erreicht. Das Jahr 1971 mit dem Machtwechsel zu Honecker und seinen sozialpolitischen Auswirkungen eröffnete Eltern von Kindern mit Behinderungen neue Argumentationsmöglichkeiten. Der gesteigerte staatliche Anspruch auf bessere Lebensstandards, humanistisch-sozialistische Fürsorge und Integration von Menschen mit Behinderungen konnte für individuelle Forderungen adaptiert und mit gestärktem Selbstvertrauen vorgebracht werden.
So auch in der eingangs zitierten Eingabe mit explizitem Verweis auf den VIII. SED-Parteitag: Besagte Mutter formulierte die Weigerung regulärer Krippen, ihren Sohn wegen seiner Behinderung aufzunehmen, als Einschränkung ihres sozialistischen Grundrechts auf Arbeit: „Ich konnte wegen Andreas über 3 Jahre nicht arbeiten gehen, da man ihn nicht in einer Krippe aufgenommen hatte (wegen seiner Krankheit).“ Ihre permanente Fürsorgetätigkeit gefährde außerdem die Beziehung zu ihrem Gatten und schränke ihre Lebensqualität stark ein: „Seit dem Jahr 1966 sind wir verheiratet und konnten in unserer jungen Ehe (d.h. mein Mann ist 30 Jahre und ich bin 28 Jahre alt) aufgrund unseres Sohnes noch nicht einmal in den Urlaub fahren.“ Eine breite elterliche Politisierung, verbandliche Organisation und umfassende Interessenvertretung blieb dennoch unmöglich. Ferner fehlte neben der um 1970 in Westdeutschland einsetzenden Anstaltskritik auch der Katalysator Contergan – das Medikament wurde in der DDR nicht zugelassen. Im Gegenteil, die DDR-Presse externalisierte diese körperliche Schädigung und die oft schlechte finanzielle Absicherung der Familien als Resultat kapitalistischer Hybris.
Aktivistische Herausforderungen im Westen, Lokalinitiativen im Osten
Gegen die Erwartung lückenloser Hauspflege von Menschen mit Behinderungen rebellierten in Westdeutschland Pflegende und Gepflegte. Dies taten sie allerdings nicht gemeinsam, sondern neben- und gegeneinander, denn die Frauen- und Behindertenbewegungen entzweiten sich über Reproduktionsrechte, vor allem über Abtreibungen potentiell behinderter Kinder. Die neugegründeten Frauenreihen großer Publikumsverlage nahmen in den späten 1970er Jahren Erlebnisberichte von Müttern unter ihren ersten Veröffentlichungen auf. In diesen wiesen Mütter Therapieanforderungen zurück und stilisierten sich als kompetentere Expertinnen für die Kindeserziehung im Vergleich zu den meist männlichen Medizinern. Einzelne Betroffene erzählten von täglicher Ausgrenzung, aber nicht minder von Ehezerwürfnissen und fehlender Pflegebereitschaft ihrer Partner. 1980 berichtete eine West-Berliner Mutter eines Kindes mit Trisomie 21 der feministischen Courage vom Ende ihres von Teilzeitarbeit, Grundpflege und Fahrten zur Tagesstätte geprägten Alltags: „Ewig gibt es Streitereien wegen Oliver. Wenn er abends im Bett ist, bin ich völlig entkräftet und will meine Ruhe haben. Ja, aber Oliver gehört nicht nur mir alleine. Ist denn kein anderer aus der Familie für ihn da?“ Vertreterinnen und Vertreter der westdeutschen Behindertenbewegung sahen elterliche Pflege als Hemmnis der Persönlichkeitsentfaltung und ersten Schritt zur permanenten Institutionalisierung. Angehörige der sogenannten „Krüppelbewegung“ sprachen polemisch gar vom „Risiko, nichtbehinderte Eltern zu bekommen“. Einzelne Kritikerinnen und Kritiker griffen Eltern sowie Journalistinnen und Journalisten für publikumswirksame Ratgeber an, die ein Bild von Behinderung als familiärer Belastung transportieren würden. Vor der Wiedervereinigung hatten Eltern wie Behindertenaktivistinnen und -aktivisten sich in der westdeutschen Öffentlichkeit erfolgreich positioniert. Im Osten formulierte der IX. SED-Parteitag 1976 nochmals nachdrücklicher und umfangreicher Ansprüche auf dem Gebiet der Rehabilitation und Integration von Menschen mit Behinderungen, etwa bei Kultur und Freizeit. Ab den 1970er Jahren entstanden vermehrt Lokalinitiativen Angehöriger. Eine dem Westen vergleichbare Präsenz gewannen in der DDR jedoch weder Behindertenaktivistinnen und -aktivisten noch Elternvertreterinnen und -vertreter.
Epilog: Das Echo deutsch-deutscher Pflegegeschichte
Die transformierte Bundesrepublik trägt eine doppelte familiale Care History in sich. Erwerbsarbeit und Haussorge waren in DDR und Bundesrepublik verschieden besetzt, was unterschiedliche Tagesstättenstrukturen hervorbrachte. Seit den 1990er Jahren werden diese auch in den alten Ländern ausgebaut, gelten aber als historisch spezifisch ostdeutscher Emanzipationsfaktor. Dort werden Krippen weiterhin deutlich öfter genutzt.
Der Blick auf die Pflege von Kindern mit Behinderungen in Familien zeigt allerdings, dass private Rollenverteilung nicht direkt an Angebotsstrukturen abgelesen werden kann. Denn gemein war beiden deutschen Gesellschaften, dass sie Pflege ungebrochen weiblich dachten. Dies verdeutlicht erneut die Begrenztheit der DDR-Emanzipationsrhetorik. Die Lebenswelten beiderseits der Mauer waren von finanzieller Unsicherheit geprägt. Dennoch entwickelte sich der Erfahrungsraum der Pflegenden und Gepflegten unterschiedlich. Im Osten galt Behinderung lange als primär kapitalistisches Phänomen, wie Contergan zu belegen schien. Wie Heranwachsende mit Behinderungen verwiesen auch ihre Mütter auf das sozialistische Arbeitsrecht, um staatliche Unterstützung zu erwirken. Ihre Anliegen nahmen jedoch keine dröhnenden Echokammern analog zu westdeutschen Elternverbänden auf. Die Pflege von Menschen mit Behinderungen gehörte im Osten anders als weibliche Erwerbstätigkeit auch nicht zu den Eckpfeilern des Staatsbildes. Lücken zwischen sozialistischem Ideal und Lebensrealität wurden diesen Familien vielleicht besonders bewusst. In den Alltagseinschränkungen mehrfach belasteter Mütter von Kindern mit Behinderungen offenbart sich eine Spannung zwischen emanzipatorischem Anspruch und autoritärer Praxis der DDR, die Konrad Jarausch mit dem Begriff „Fürsorgediktatur“ umfasst.
Im Westen entsponnen sich öffentliche Deutungskämpfe über Pflegepraktiken zunächst zwischen kirchlichen Vertreterinnen und Vertretern, Medizinerinnen und Medizinern, bürgerlichen Familienverbänden und später Aktivistinnen und Aktivisten der Behinderten- und Frauenbewegungen. Doch: In Ost und West protestierten Eltern und behinderte Menschen bei staatlichen Stellen, wenn auch in unterschiedlicher Form und Taktung. Sie politisierten ihr Privatleben, indem sie die jeweiligen Familienideale als Argumentationshilfe nutzten. Allerdings blieben eben nicht nur Strukturen, sondern vor allem Sagbarkeitsregeln deutlich anders gelagert. Davon unberührt teilten west- und ostdeutsche Pflegende und Gepflegte die gleichen Grundprobleme, die auch im vereinten Deutschland fortwirken: Selbstbestimmung und Sicherheit.
Zitierweise: "Pflege als Alltagsphänomen - Familien behinderter Kinder in der Bundesrepublik und DDR“, Pia Schmüser und Raphael Rössel, in: Deutschland Archiv, 3.12.2019, Link: www.bpb.de/301429