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Vom Mauerblümchen zum Fußball-Leuchtturm Der Weg der Kicker des 1. FC Union Berlin seit der Wende 1989

/ 15 Minuten zu lesen

Der 1. FC Union Berlin ist oben angekommen. Als 56. Verein sind die Köpenicker in die Fußball-Bundesliga aufgestiegen. Alle einst besser platzierten Ost-Vereine haben „die Eisernen“ in den letzten drei Jahrzehnten überholt und um Längen abgehängt. Die Historie des Clubs ist arm an großen Triumphen, aber reich an Geschichten. Dass diese gerade im 30. Jahr des Mauerfalls unvergessen sind, verdankt Union vor allem seiner treuen Fangemeinde.

Auf dem Foto ist das Feiern der Union-Fans am 9. November 2019 des 1:0-Sieg in der 1. Bundesliga gegen Hertha BSC eine Woche zuvor zu sehen.

Union-Fans feiern am 9. November 2019 beim Spiel in Mainz den 1:0-Sieg in der 1. Bundesliga gegen Hertha BSC eine Woche zuvor. (© Matthias Koch)

Die formale Historie des 1. FC Union beginnt am 20. Januar 1966. Er geht aus der Sektion Fußball des TSC Berlin (Turn- und Sportclub Berlin) hervor und übernimmt auch dessen Platz in der DDR-Liga. Der neue Verein gehört damit zu zehn nunmehr selbstständigen Fußball-Clubs, die zwischen dem 20. Dezember 1965 und dem 26. Januar 1966 gegründet werden. Das bedeutet einen großen und staatlich gesteuerten Einschnitt für den DDR-Fußball. Union ist fortan ein privilegierter Verein im Osten, auch wenn es in den nächsten Jahrzehnten innerhalb der Elite gravierende Unterschiede hinsichtlich der wirtschaftlichen und sportlichen Bedingungen geben wird.

Im „VIP-Bereich“ des Fußball-Ostens

Erst einmal schafft Union 1966 den Sprung in den „VIP-Bereich“. Die Neue Fussball-Woche berichtet über den gleichlautenden Beschluss der Präsidien des Deutschen Turn- und Sportbundes (DTSB) sowie des Deutschen Fußball-Verbandes (DFV) der DDR zur Bildung von Fußballclubs. „Im Interesse der weiteren Steigerung der sportlichen Leistungen des Fußballsports in der Deutschen Demokratischen Republik werden ab 1. Januar 1966 die Fußballsektionen aus den bestehenden Sportclubs der DDR herausgelöst“, heißt es in der Verlautbarung. Zur Auflösung der Fußnote[1] Neben Union erblicken der 1. FC Lok Leipzig, FC Karl-Marx-Stadt, FC Carl Zeiss Jena, FC Rot-Weiß Erfurt, Hallescher FC Chemie, 1. FC Magdeburg, FC Hansa Rostock, BFC Dynamo und FC Vorwärts Berlin das Licht der Welt. „Es sollen noch bessere Leistungen geschaffen werden, um das Niveau und die Leistungen der DDR-Oberligamannschaften zu heben und der Entwicklung der DDR-Auswahlmannschaften ein noch breiteres und festeres Fundament zu geben“, ist weiter im Beschluss zu lesen. Zur Auflösung der Fußnote[2]

Die Veränderungen zielen auf eine Konzentration im Fußball ab. Die meisten Clubs werden seitens des Fußballverbandes gegenüber den Betriebssportgemeinschaften bevorzugt – insbesondere bei der Delegierung von Talenten und renommierten Spielern. Bis zur Wiedervereinigung kommen die Meister inklusive der Saison 1990/91 fast ausschließlich aus dem Kreis der Clubs. Nur die eine Sonderrolle einnehmende SG Dynamo Dresden bricht sieben Mal in diese Phalanx ein.

Kein Vorzeige-Verein während der Teilung

Unions sportliche Entwicklung bis 1989 eignet sich nicht für die Bestenliste, wenn man vom sensationellen FDGB-Pokal-Finalsieg von 1968 gegen Meister Jena (2:1) absieht.

Auf dem Bild ist das Denkmal zu sehen, das seit Juli 2018 vor der Haupttribüne im Union-Stadion An der Alten Försterei an die Pokalsieger von 1968 erinnert.

Seit Juli 2018 steht vor der Haupttribüne im Stadion An der Alten Försterei ein Denkmal für die Pokalsieger von 1968. (© Matthias Koch)

Union pendelt regelmäßig zwischen Oberliga und zweitklassiger DDR-Liga und gilt als Fahrstuhl-Mannschaft. Jeweils fünf Mal steigt der Verein auf und ab. In der ewigen Tabelle der DDR-Oberliga rangieren die Wuhlheider nur auf dem 14. Platz.

Obwohl der Verein während der deutschen Teilung kein Vorzeigeverein ist, genießt er eine große Popularität. Die Fangemeine ist auch in den 1980er Jahren weitaus größer als die von Rekord-Meister BFC Dynamo.1985/86 passieren nach dem Wiederaufstieg durchschnittlich 12.692 Besucher die Kassen zum Stadion An der Alten Försterei.

Die Menschen genießen es, für ein paar Stunden dem Alltag zu entfliehen. Sie brüllen trotzig „Eisern Union“. Der legendäre Schlachtruf ist schon bei Mit-Union-Vereinsvorläufer Union Oberschöneweide in den 1920er oder 1930er Jahren zu hören. Abgesehen von den üblichen Parteitags-Parolen wirkt Union im letzten Jahrzehnt der DDR unpolitisch. Union-Anhänger organisieren beispielsweise ab der Spielzeit 1981/82 eine eigene Fanclub-Liga. Unabhängig von Staat und Verein machen sie ohne Schiedsrichter ihr Ding. Einen professionelleren Anstrich erhält die Union-Liga durch Thomas Koerner, der ab 1985 als hauptberuflicher Union-Verantwortlicher für Kultur, Bildung und Öffentlichkeitsarbeit auch für die Fanbetreuung zuständig ist. Körner kümmert sich seit Anfang der 80er Jahre im Rahmen seiner Tätigkeit im von der FDJ-Bezirksleitung geförderten Union-Jugendclub auch um den Fanclub-Fußball. Politik steht dabei nicht im Vordergrund. Die Annahme, dass der Verein ein Dach für Oppositionelle oder gar Oppositionsgruppen bildet, ist indes nicht haltbar. „Union war kein Club von Widerstandskämpfern, aber wir mussten immer wieder gegen viele politische und ökonomische Widerstände ankämpfen. Kraft holten wir uns von unseren Fans“, sagt Unions Ehrenpräsident Günter Mielis. Zur Auflösung der Fußnote[3]Für heranwachsende Halbstarke ist es schon eine Form des Protests mit langen Haaren und grünem West-Parka ins Stadion zu gehen.

Das Foto bildet eine Plakatwand zum Derby in der 1. Bundesliga gegen Hertha BSC am S- und U-Bahnhof Frankfurter Allee ab.

Von Union initiierte Plakatwand zum Derby in der 1. Bundesliga gegen Hertha BSC am S- und U-Bahnhof Frankfurter Allee. (© Matthias Koch)

Ein Zeitdokument über die damalige Sub-Kultur der Fanszene Unions ist der Dokumentarfilm „Und freitags in die ‚Grüne Hölle‘“ von 1989. Zur Auflösung der Fußnote[4] Die Bilder und Interviews geben für die damalige Zeit überraschend ungefilterte Einblicke in das Leben von Union-Anhängern in den 1980er Jahren. Schlachtrufe wie „Tod und Hass dem BFC“ sind zu hören. Der im Mittelpunkt stehende Fan Andreas Schwadten ist vor Wimpeln des West-Berliner Vereins Hertha BSC zu sehen. Schwadten bedauert offen, dass man nicht in den Westen fahren könne. „Die Filmleute haben mir damals signalisiert, dass ich hart an der Grenze war“, sagte Schwadten 2013, der bis heute Union die Treue hält. Zur Auflösung der Fußnote[5]

Der Film zeigt auch Randale-Szenen bei einem Auswärtsspiel bei Lok Leipzig. Minutenlang sind verbale und körperliche Auseinandersetzungen zwischen Lok- und Union-Fans und der Volkspolizei zu sehen. Ein Union-Anhänger berichtet, dass Polizisten gegen Union-Fans Gummi-Geschosse eingesetzt hätten. Vielleicht sind die Gewaltszenen ein Grund dafür, dass der Film in der untergehenden DDR kaum öffentlich gezeigt wird.

Union muss sich aber auch arrangieren, weil für den Verein nichts ohne die Sozialistische Einheitspartei Deutschlands (SED) läuft. „Alle Vorsitzenden waren SED-Mitglieder“, sagte Unions Vereinsarchivar Gerald Karpa der Berliner Morgenpost. Zur Auflösung der Fußnote[6] Auch bei Unions Erzrivalen BFC Dynamo und dem FC Vorwärts Berlin, der 1971 nach Frankfurt (Oder) umgesiedelt wird, gibt die Partei den Ton an. Bei diesen Vereinen, die im Gegensatz zu Union regelmäßig im Europacup spielen, war die Förderung durch die Staatssicherheit beziehungsweise die Volksarmee allerdings noch größer. Union gilt in diesem Trio als ziviler Fußballverein – mit klaren Nachteilen.

Etliche seiner besten Nachwuchs- und Oberligaspieler darf Union zum BFC „delegieren“. Die bekanntesten von ihnen sind Nationalspieler Reinhard Lauck (1973) sowie Detlef Helms (1977), Waldemar Ksienzyk und Oskar Kosche (beide 1984). Union muss sich dagegen mit aussortierten BFC-Spielern begnügen, wobei beispielsweise Mittelfeldmann Olaf Seier (1983) und Stürmer Ralf Sträßer (1984) über Jahre sportlich positiv prägend sind. Hinsichtlich der Einzugsgebiete für Neuverpflichtungen und Nachwuchstalente, die in der DDR fast schon penibel aufgeteilt sind und bei Nichtbeachtung zu Streitigkeiten auf bezirkspolitischer Ebene führen, muss sich Union auf kleine Territorien wie die Stadtbezirke Köpenick, Mitte und Pankow beschränken. Als Club zweiter Klasse hat Union zudem eine geringere Lobby bei Schiedsrichtern, gerade wenn der Gegner BFC Dynamo heißt. Zudem werden Stammkräfte des Vereins wesentlich häufiger zum Dienst bei der Nationalen Volkarmee (NVA) einberufen. Zwischen 1984 und 1988 verliert der Verein allein sechs etablierte Fußballer auf diese Weise und damit die meisten aller 14 Vereine, die 1988/89 in der höchsten DDR-Spielklasse kicken. Zur Auflösung der Fußnote[7]

Dennoch profitiert Union insgesamt vom Sportsystem der DDR. Finanziert wird der Verein auch in den 1980er Jahren von volkseigenen Betrieben. Quasi-Hauptsponsor Kabelwerk Oberspree (KWO) übernimmt bis zu seiner Abwicklung im Sommer 1991 große Teile der Spielergehälter. Unions Rekordspieler Lutz Hendel, der bis 1993 insgesamt 421 Pflichtspiele bestreitet, ist beim DTSB angestellt. An der Werkbank oder im Büro tauchen die Kicker jedoch gar nicht oder nur äußerst selten auf. Die Spieler bekommen in der Regel zwischen 800 und 1.500 Ost-Mark überwiesen, ohne einer Erwerbsarbeit nachzugehen. Zudem können sie durch Mitarbeiter der SED-Bezirksleitung auf Sonderlisten gesetzt werden, durch die man schneller an Autos oder Wohnungen herankommt. Zur Auflösung der Fußnote[8] Davon kann ein Normalbürger ohne Beziehungen seinerzeit nur träumen.

Nur zweitklassig im Wendejahr

1988 schafft der 1. FC Union mit einem Last-Minute-Sieg in Karl-Marx-Stadt zum letzten Mal den Klassenerhalt in der DDR-Oberliga. Im Sommer 1989 steigen die Eisernen sang- und klanglos als Tabellenletzter ab. Als sich in Europa und Deutschland die politischen Veränderungen anbahnen, ist der Verein nur zweitklassig. Die wenig glamourösen Gegner heißen Chemie Velten, Aktivist Schwarze Pumpe, Schiffahrt Hafen/Rostock oder Lok Armaturen Prenzlau. Die Mannschaft von Trainer Karsten Heine ist ausgerechnet in der Zeit des Mauerfalls nicht gut genug. Spektakuläre Transfereinnahmen wie beim BFC Dynamo, der für den Wechsel von Nationalstürmer Andreas Thom zum westdeutschen Bundesligisten Bayer 04 Leverkusen mindestens 2,5 Millionen DM einnimmt, gibt es nicht.

Bald kann auch das KWO nichts mehr „zuschustern“, das 1992 an eine englische Firma verkauft wird. „Sie waren bis 1992 auf der Brust und der Betrieb hat uns in der Wendezeit noch sehr stark geholfen“, erzählte der damalige Union-Manager Pedro Brombacher. Zur Auflösung der Fußnote[9] Auch mit dem maroden Stadion, dessen Ausbau zu einer wirklich tauglichen Spielstätte fast zwei Jahrzehnte dauern wird, kann Union nicht punkten. Das seit 1920 genutzte Areal hat kein Dach. Die Fans stehen bei Wind und Wetter ungeschützt da. Den fehlenden Service sind die Anhänger gewohnt. Das können sie durch die Liebe zum Verein ab. Doch sportlich läuft es nicht. Im Rennen um den Aufstieg setzt sich zunehmend der große Rivale FC Vorwärts Frankfurt (Oder) ab. Union verbleibt in der Zweitklassigkeit. Trainer Heine verliert im März 1990 vorzeitig seinen Job.

Bevor Union sportlich noch mehr zum Mauerblümchen wird, erleben Heine und Co. aber noch die Annäherung an Hertha BSC. Während der deutschen Teilung gab es nur ein unsichtbares Band, das manche Fans der beiden populärsten Vereine in West- und Ost-Berlin miteinander verband: Hertha-Anhänger besorgten Unionern Eintrittskarten für Spiele westlicher Mannschaften im sozialistischen Ausland. Die Unioner feuerten die Hertha an, wenn diese wie 1977 bei Slovan Bratislava oder 1978 bei Dynamo Dresden antrat. Hertha-Fans besuchten im Gegenzug Union-Heimspiele. Durch den Mauerfall können sich alle offen sehen.

Das Bild zeigt einen Ausschnitt von der Tribüne während des Freundschaftsspiel zwischen Hertha BSC und dem 1. FC Union Berlin am 27.01.1990. Die Partie endete mit einem 2:1 (1:1) für Hertha.

Über 50.000 Zuschauer aus beiden Teilen Berlins sind am 27.01.1990 ins Olympiastadion zum Freundschaftsspiel zwischen Hertha BSC und dem 1. FC Union Berlin gekommen. Die Partie endete mit einem 2:1 (1:1) für Hertha. (© picture-alliance/dpa, dpa)

Am 27. Januar 1990 findet ein Freundschaftsspiel zwischen Hertha und Union im Olympiastadion statt. 51.270 Zuschauer erleben einen 2:1-Erfolg der Hertha. Das Ergebnis steht jedoch nicht im Vordergrund. „Hertha schlug Union – aber alle fühlten sich als Sieger“, titelt die West-Berliner B.Z. So nah wie an diesem Tag sind sich Hertha und Union auf Fan-, Funktionärs- und Spielerebene nie wieder. Das „Rückspiel“ im Stadion An der Alten Försterei am 12. August 1990, das Union mit 2:1 gewinnt, wollen nur noch 3800 Zuschauer sehen. In den folgenden Jahren wird die Distanz zwischen beiden Vereinen immer größer.

Lizenzentzug und Fast-Pleite

Die ersten Nachwende-Jahre sind bitter für Union. Der Verein ist ab der ersten gesamtdeutschen Spielzeit 1991/92 nur noch drittklassig, weil er im Sommer 1991 als Liga-Meister an der Relegation zur 2. Bundesliga scheitert. Viele Menschen kehren dem Club den Rücken zu, auch weil sie ihr eigenes Leben neu organisieren müssen: Der Job geht jetzt vor. In den drei Serien 1991/92 bis 1993/94 erscheinen in den normalen Heim-Meisterschaftsspielen im Schnitt keine 1000 Zuschauer mehr. Ab 1991 kommt es im Punktspielbetrieb auch zu ersten Partien gegen die sogenannten Multi-Kulti-Mannschaften West-Berlins. Einige Union-Fans bringen ihre Fremdenfeindlichkeit offen zum Ausdruck. Beim Landes-Pokalspiel gegen Türkiyemspor Berlin 1992 gibt es schlimme ausländerfeindliche Beschimpfungen der Gäste durch Union-Fans. Die Selbstregulierung innerhalb der aktiven Fanszene, die im ständigen Austausch mit der Vereinsführung steht, lässt dafür in den nächsten Jahren aber schon bald keinen Raum. In der Stadionordnung heißt es: „Das Recht aller Personen auf Nichtdiskriminierung, unabhängig von der geschlechtlichen Identität oder sexuellen Ausrichtung, der ethnischen Herkunft, der Religion, der Weltanschauung, des Alters, einer Behinderung oder Handicaps, wird durch die Besucher des Stadions An der Alten Försterei anerkannt.“ Zur Auflösung der Fußnote[10] Die Satzung des 1. FC Union schreibt vor, dass der Verein politisch und religiös neutral ist und sich seinem Handeln demokratischen und humanistischen Grundwerten verpflichtet. Zur Auflösung der Fußnote[11] Zuwiderhandlungen werden sanktioniert. 2013/14 erhält die unter Rechtsextremismus-Verdacht stehende brandenburgische Gruppierung Crimark vom Verein für die Alte Försterei ein Auftrittsverbot als Gruppe.

Das öffentliche Interesse in den 1990 Jahren steigt nur in den Relegationsspielen zur 2. Bundesliga. Aber auch 1992 und 1993 scheitert Union am Aufstieg in den- „wahren Profifußball“. 1993 feiern die Köpenicker nach einem 1:0-Heimsieg gegen den Bischofswerdaer FV vor 17.000 Zuschauern zwar den Aufstieg. Doch eine gefälschte Bankbürgschaft kippt den sportlichen Erfolg. Stattdessen steigt die sportlich unterlegene Mannschaft von Tennis Borussia auf. In der 1990er Jahren ist TeBe deswegen bei Union-Fans verhasst.

Beim Deutschen-Fußball-Bund (DFB) hat Union keine Lobby mehr. 1994 wird Union wieder Meister in der NOFV-Oberliga (Nordostdeutscher Fußballverband e.V.). Doch diesmal verweigert der DFB wegen einer fehlenden Bankbürgschaft die Lizenz. Stattdessen nimmt Energie Cottbus als Vizemeister an der Aufstiegsrunde teil und scheitert. Union verliert auch Frank Pagelsdorf. Der erste West-Trainer des Vereins geht wegen der Finanzmisere zu Hansa Rostock. In Unions verrückten Nachwendejahren entsteht ein neuer Mythos des unterdrückten Underdogs. Die „Erzfeinde“ heißen nun nicht mehr der BFC Dynamo und Stasi, sondern Tennis Borussia und DFB. Ausschlaggebend sind eigene Unzulänglichkeiten und die Unerfahrenheit der Vereinsführung.

Das Ende der Fahnenstange ist noch nicht erreicht. Anspruch und Wirklichkeit klaffen zwischen 1994 und 1998 weit auseinander. Geld ist in diesen Jahren oft so rar, dass mehrfach die Zahlungsunfähigkeit droht. Dennoch leistet sich der Verein den Luxus, mit Frank Engel, Hans Meyer, Eckhardt Krautzun, Frank Vogel und Karsten Heine mehrere Trainer zu verschleißen. Nach dem skandalträchtigen Ausstieg von Hauptsponsor Manfred Albrecht, dessen (nie gebauter) Sportpark den Verein eigentlich sanieren sollte, ist der Aufstieg 1996/97 kein Thema. Über Monate werden keine Gehälter mehr bezahlt. Im Februar 1997 steht der Verein vor dem Konkurs. Berliner Tageszeitungen berichten bereits über den drohenden Neubeginn in der Kreisliga C. Das ruft Union-Fans auf den Plan. Sie organisieren am 23. Februar 1997 eine Demonstration vom Alexanderplatz zum Brandenburger Tor. „Rettet Union!“, ist die Botschaft. Sie wird erhört. Das Medienecho ist groß. Union überlebt, auch weil Sportartikel-Hersteller Nike einsteigt.

Der neue Präsident Heiner Bertram, der am 7. Oktober 1997 seine sechsjährige Amtszeit beginnt, kann aber erst im März 1998 aufatmen. Seit dieser Zeit engagiert sich Michael Kölmel bei Union. Der Filmrechtehändler, Investor und Fußball-Fan übernimmt die kurzfristigen Verbindlichkeiten in Höhe von 1 Million DM und eröffnet dem Verein neue wirtschaftliche Perspektiven.

Zwischen Europa-Cup und Viertklassigkeit

Union steigt mit Kölmel vom Bettelmann zum Millionär auf. Mit dem bulgarischen Trainer Georgi Wassilew und etlichen Neuzugängen wird nach Jahren wieder die 2. Bundesliga ins Visier genommen. Union holt in der Regionalliga Nordost den Meistertitel. In den Aufstiegsspielen gegen Nordmeister VfL Osnabrück gibt es den ersten Matchball. Nach dem 1:1 im Hinspiel am 28. Mai 2000 vor 15.575 Zuschauern im Stadion An der Alten Försterei ist der VfL Favorit. 1:1 endet aber auch der Rückkampf vier Tage später. Das Aus für Union kommt im Elfmeterschießen (8:9). Die Berliner scheitern auch in der Trostrunde gegen den SC Pfullendorf (3:1) und LR Aalen (1:2). Mehr Drama geht nicht.

Zwölf Monate später ist die Welt für Union „rosig“. Da es nur noch zwei Regionalligen gibt, steigt Union als Nordost-Meiser mit großem Vorsprung direkt erstmals in die 2. Bundesliga auf. Zeitgleich stürmt der Drittligist bis ins Finale des DFB-Pokals. Am 26. Mai 2001 unterliegt Union vor 73.011 Zuschauern im Berliner Olympiastadion Schalke 04 ehrenhaft mit 0:2. Durch die Champions-League-Teilnahme der Schalker spielt Union sogar im UEFA-Cup gegen den finnischen Vertreter Haka Valkeakoski (1:1, 3:0) und Litex Lowetsch (0:2, 0:0) aus Bulgarien. In der Debütsaison in Liga zwei springt der sechste Platz heraus. Das ist der Höhepunkt der Ära von Vereinsboss Bertram und Trainer Wassilew. Doch schon bald kriselt es mal wieder in Köpenick. Nach einem Machtkampf mit Bertram verliert Wassilew im Herbst 2002 seinen Posten, die Saison endet unter Nachfolger Mirko Votava mit Platz neun. Finanziell wird es aber durch ausbleibende TV-Einnahmen aufgrund der Krise des Medienunternehmens Kirch-Gruppe schon wieder ein bisschen enger. 2003/04 steigt die Mannschaft aus der 2. Liga ab. Es geht allgemein chaotisch zu. Nicht nur Trainer Votava muss gehen. Lange vorher wird noch Präsident Bertram, in dem manche einen Sonnengott sehen, vom Aufsichtsrat abgewählt. Die folgende Schlammschlacht hält den Verein über Monate in Atem. Am Saisonende ist Union plötzlich so klamm, dass die Lizenz für die Regionalliga mächtig wackelt. Bis zum 9. Juni 2004 fordert der DFB eine Liquiditätsreserve in Höhe von 1,46 Millionen Euro.

Daraufhin löst der Verein mit der „Bluten-für-Union“-Aktion eine Kampagne aus, die neben der Rettung vor dem Konkurs 1997 und dem Stadionbau 2008/09 wohl am meisten die schier unendliche und identitätsstiftende Solidaritätsbereitschaft der Union-Fanszene nach 1989 widerspiegelt. Tatsächlich geblutet wird in den vier Blutspende-Zentren Hellersdorf, Prenzlauer Berg, Marzahn und Tegel. Für jede Blutspende erhält Union 10 Euro. Geld konnte auch so gespendet oder als Darlehen geliehen werden. Tausende „Bluter-T-Shirts“ zum Preis von 15 Euro finden Abnehmer.

Hinzu kommen große Benefizveranstaltungen wie die „Blutsbrüder“-Freundschaftspartie gegen den FC St. Pauli (0:0) am 2. Juni 2004 vor 5.152 Zuschauern und das Benefizkonzert der Gruppe City am 5. Juni 2004 in der Alten Försterei, für das VIP-Karten in Anlehnung an die insgesamt aufzubringende Summe 146,10 Euro kosten. Auch der FC Bayern München, der am 11. Juli 2004 zu einem Testspiel vor 15.000 Fans in Köpenick antrat, zeigt sich solidarisch. Am 4. Juni 2004 wird offiziell die Millionen-Grenze überschritten. Doch in Wahrheit hat der Verein fünf Tage vor Ablauf der Deadline viel weniger zusammen. „Deshalb haben Kölmel und ich uns darauf verständigt, dass vom Fehbetrag jeder die Hälfte übernimmt“, erinnert der damalige Aufsichtsrat Dirk Zingler 2013. Zur Auflösung der Fußnote[12]

Mit Neuhaus geht es wieder nach oben

Zingler wird am 1. Juli 2004 Präsident des Vereins. Er kümmert sich in den nächsten Jahren intensiv um den Erhalt des Stadion-Standortes Alte Försterei. Mit ihm wird der Verein wachsen wie nie zuvor. Zingler gilt bis heute als Chef mit harter Hand. Die Fans können sich aber aktiv einbringen. Sportlich steigt der Verein im ersten Jahr der Amtszeit von Zingler jedoch erstmals in die vierte Liga ab. Die neu zusammengestellte Mannschaft ist völlig überfordert. Aber in der NOFV-Oberliga Nord findet Union wieder zu sich selbst. Die Fans blieben treu. Der Zuschauerschnitt ist mit 5873 Fans höher als der in der vorhergehenden Regionalliga-Serie (4628). Zudem begleicht Union beim Wiedersehen mit einem „Erzfeind“ eine alte Rechnung. Der BFC Dynamo wird am 21. August 2005 vor über 14.000 Besuchern in der Alten Försterei mit 8:0 gedemütigt. 2006/07 spielt Union wieder in der drittklassigen Regionalliga Nord. 2007 wird mit Uwe Neuhaus ein Trainer verpflichtet, der vielleicht schon einen Union-Rekord für die Ewigkeit aufgestellt hat: Sieben Jahre lang sitzt der frühere Verteidiger an der Seitenlinie. Länger ist kein Chefcoach in der inzwischen 53-jährigen Vereinsgeschichte ununterbrochen im Amt.

2009 wird Neuhaus mit Union erster Drittligameister, obwohl der wegen der Modernisierung der Alten Försterei ein Jahr lang in den Jahn-Sportpark ausweichen muss. Mit langjährigen Union-Kickern wie Jan Glinker, Daniel Göhlert, Patrick Kohlmann, Torsten Mattuschka, Michael Parensen und Christian Stuff etabliert Neuhaus den Verein in der 2. Bundesliga. 2010/11 gelingt die umjubelte inoffizielle Stadt-Meisterschaft gegen Hertha BSC. Nach dem 1:1 in der Hinrunde in Köpenick freuen sich die Union-Fans nach dem entscheidenden Freistoßtor von Torsten Mattuschka über einen 2:1-Erfolg vor 74.244 Zuschauern im Olympiastadion.

Das Foto zeigt den Jubel von John Jairo Mosquera, Torsten Mattuschka, Santi Kolk und Karim Benyamina am 5. Februar 2011 für das Tor zum 2:1-Endstand im Zweitliga-Duell bei Hertha BSC.

John Jairo Mosquera, Torsten Mattuschka, Santi Kolk und Karim Benyamina bejubeln am 5. Februar 2011 das Tor zum 2:1-Endstand im Zweitliga-Duell bei Hertha BSC. (© Matthias Koch)

Angesichts der Mittelfeldplatzierungen zwischen 2009 und 2014 (12., 11., 7., 7., 9. Rang) kann sich die Vereinsführung während der Modernisierung des Stadions 2008/09 und der Errichtung der Haupttribüne 2012/13 aufs Bauen konzentrieren.

Bei der Erneuerung der drei Stehplatztribünen 2008/09 schreiben die Union-Fans erneut Geschichte. Über 2 000 Stadionbauer helfen ein Jahr ehrenamtlich mit. „Der Anteil der Fans betrug durch ihre freiwillige Arbeit in 140.000 Arbeitsstunden rund zwei Millionen Euro. Einen ebenso hohen Beitrag haben Unternehmen geleistet, die als Stadionpartner fungieren“, sagte Zingler. Zur Auflösung der Fußnote[13] Den Aufstieg in die 1. Liga traut der Klub Neuhaus jedoch nach einigen Jahren nicht mehr zu. 2014 muss der langjährige Trainer vorzeitig gehen. Auch seine Nachfolger Nobert Düwel, Jens Keller und André Hofschneider können Union noch nicht in die Bundesliga führen. 2017/2018 schwebt Union sogar zwischenzeitlich in Abstiegsgefahr. Erst unter dem Schweizer Trainer Urs Fischer, der den Posten im Sommer 2018 übernimmt, pirscht sich Union wieder an die Bundesliga heran. Die Saison 2018/19 bringt den dritten Platz. In der Relegation gegen den VfB Stuttgart (2:2, 0:0) setzt sich Union aufgrund der Auswärtstorregel durch.

Die 1. Bundesliga ist tatsächlich Realität. Köpenick hebt am 27. Mai 2019 ab. Es setzt ein Party-Marathon ein, der erst nach zwei Tagen endet: Empfang im Roten Rathaus von Berlin, Boots-Corso mit den Fans von der Innenstadt nach Köpenick, wo Tausende das Ufer des Luisenhains säumen. Abschlusssause im Stadion. Union nimmt alles mit.

Der Weg bis zum mutmaßlich größten Erlebnis vieler Unioner seit dem Mauerfall ist lang. Zehn Jahre lang führt er die Eisernen zuvor durch die 2. Liga. Doch Fürth, Sandhausen und Bochum steuert der Mannschaftsbus vorerst nicht mehr an. Jetzt heißen die Gegner Bayern München, Borussia Dortmund und Schalke 04. Hertha BSC wird 1:0 bezwungen, auch wenn Fans beider Lager beim ersten Berliner Bundesliga-Derby seit 42 Jahren kein gutes Bild abgeben. Hüben wie drüben brennt Pyrotechnik ab. Nach Abpfiff sprangen einige Union-Anhänger in den Innenraum, ehe sie von den eigenen Spielern zurückgedrängt wurden. Sportlich sind die Eisernen oben auf. Lässt man die bei Union-Fans regelrecht verhassten Leipziger von RB außen vor, hat sich der FCU zum Leuchtturm im Osten gemausert.

Das Foto zeigt Suleiman Abdullahi und Trainer Urs Fischer beim Jubel am 27. Mai 2019 über den Aufstieg in die 1. Bundesliga.

Suleiman Abdullahi und Trainer Urs Fischer bejubeln am 27. Mai 2019 den Aufstieg in die 1. Bundesliga. (© Matthias Koch)

Von einem Kiezverein kann man schon lange nicht mehr sprechen. Die Union-Familie wächst im Prinzip täglich. Union hat über 300 Beschäftigte und zum 27. November 2019 34.681 eingetragene Mitglieder. Seit dem Aufstieg in die Bundesliga sind es über 11.000 Neu-Eintritte. Zur Auflösung der Fußnote[14] Das Stadion An der Alten Försterei müsste dringend erweitert werden. Die nächste Ausbaustufe ist aber zumindest theoretisch in Sicht. Im Juni 2017 stellt der Verein seine Pläne vor. Das Fassungsvermögen soll auf 36.978 Besucher steigen. Für das 38-Millionen-Euro-Projekt hat Union aber noch keine Baugenehmigung. Hauptproblem ist die Verkehrsproblematik rund um die Spielstätte.

Ursprünglicher Anlass für die Erweiterung war die Forderung der Deutschen Fußball-Liga (DFL), dass Erstligastadien seit 2017/18 insgesamt 8000 Sitzplätze vorweisen müssen. Union besitzt nur 3617. Zudem ist die Kartennachfrage gewaltig. Tickets sind im Prinzip seit Jahren nur noch für Vereinsmitglieder erhältlich. Der Club ist zum Losverfahren übergangen. Das gilt auch für das von Fans initiierte Weihnachtssingen, das 2003 mit 89 Teilnehmern begann und inzwischen alljährlich am 23. Dezember 28.500 Menschen anzieht.

Zitierweise: "Vom Mauerblümchen zum Fußball-Leuchtturm - Der Weg der Kicker des 1. FC Union Berlin seit der Wende 1989“, Matthias Koch, in: Deutschland Archiv, 28.11.2019, Link: www.bpb.de/301246

Hier können gibt es den Film "Und freitags in die Grüne Hölle".

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