Ost-West-Migration zur Zeit der deutsch-deutschen Teilung
Im Zeitraum zwischen der Gründung der DDR im Oktober 1949 bis zur Grenzöffnung im November 1989 verließen dreieinhalb bis vier Millionen Menschen die DDR in Richtung Westen.
Die meisten DDR-Emigrantinnen und Emigranten flüchteten noch in den 1950er Jahren nach West-Berlin und in die Bundesrepublik. Nach der Errichtung der Berliner Mauer im August 1961 und dem nachfolgenden Ausbau der Grenzschutzanlagen verlagerte sich der Schwerpunkt der Wanderungsbewegung von der illegalen Flucht auf die bürokratisch geregelte dauerhafte Ausreise. Allerdings gab es dafür bis Ende 1988 keinerlei gesetzliche Grundlage. Der Begriff Ausreiseantrag kursierte jedoch schon seit Mitte der 1970er Jahre in der Bevölkerung: Auch wenn die zuständigen Behörden dies negierten, erfuhren Ausreisewillige immer häufiger von Gleichgesinnten, die in die Bundesrepublik emigriert waren.
Diese hatten sich auf ihr Recht auf Freizügigkeit berufen und mit der UNO-Erklärung über die Allgemeinen Menschenrechte (1948) und der KSZE-Schlussakte von Helsinki (1975) argumentiert: In Letzterer wurden, wenn auch ohne rechtliche Verbindlichkeiten, „Direktbeziehungen, menschliche Kontakte, Familienzusammenführungen, Erleichterungen von Eheschließungen"
Polizei, Ministerium für Staatssicherheit (MfS) und Sozialistische Einheitspartei Deutschlands (SED) reagierten mit Verhaftungen und Abschiebungen in den Westen, zeigten sich aber zunehmend machtlos gegenüber der neuen Massenbewegung, die 1989 noch 50.000 Ausreisegenehmigungen erstritt und wesentlich zum Niedergang der DDR beitrug.
Dass das Recht auf Ausreise in den 1980er Jahren zunehmend häufiger von Familien mit minderjährigen Kindern beansprucht wurde, ist bislang kaum bekannt.
Im Rahmen der Interviews wurde den ehemals Ausgereisten auch die Frage gestellt, wie sie die „Wende“ erlebt hatten. Die Befragten reagierten darauf sehr unterschiedlich – sowohl was die Länge der Erzählung, deren Inhalt als auch die sie begleitenden Emotionen betraf. Nahezu alle Interviewten waren sich aber darin einig, dass der Mauerfall keinesfalls erwartbar war. „Das war nicht absehbar!“ hieß es in den Interviews immer wieder.
Die Montagsdemonstrationen
In der biographischen Retrospektive wird die individuelle Chronik der „Wende“ stets als eine Geschichte erzählt, die langsam, aber sicher auf einen dramatischen Höhepunkt zuläuft. Den Spätsommer und den Frühherbst 1989 beschreiben die Interviewten als eine flirrende Zeit der äußeren Unruhe und inneren Anspannung.
So erzählt Ruth Weger
Auch Clara Kowalski erinnert sich noch gut an diese Zeit: „Es hat sich ja dann so zugespitzt, dass du gewusst hast, es passiert irgendwas. […] Wir haben ständig Nachrichten gehört. Und der Hans ist ja auch noch nach Leipzig gefahren und hat dort mitdemonstriert.“
Ihr Ehemann, der die gelockerten Einreisebestimmungen zur Leipziger Messe-Zeit genutzt hatte, erzählt begeistert: „Das Bild werde ich nie vergessen, wie ich dann da am Straßenrand stand, und die zogen vorbei mit hochintelligenten Transparenten, […] und ich dachte: 'Die Leipziger, das sind meine Ossis!' Wie mutvoll und euphorisch die dort gesprochen haben! […] Und das war gerade die Demo, wo‘s Spitz auf Knopf war, wo die ganze Kampfgruppe und NVA, [wo alle] schon eingekesselt waren, und die Aufrufe von dem Masur, dem Dirigenten, über [Lautsprecher]: 'Bitte keine Gewalt, wir laden euch zum Dialog ein'. Und es kam nicht zum Kampf! Das war der Umbruch. Dann hatte die DDR verloren. Oder, wie dann ein Stasi-General gesagt hat: 'Wir waren auf alles vorbereitet, aber nicht auf Kerzen.'“
An einer Montagsdemonstration hat auch Johannes Becker teilgenommen, der als 24-Jähriger im Herbst 1989 auf Besuch in Leipzig war. In seiner Erzählung klingt allerdings noch deutlich die Angst vor Verhaftung und Internierung durch: „Da hat mich ein Kumpel mitgeschleppt, und ich hab das so bereut, weil […], die haben da die Leute eingekesselt, die Polizei, und ich wusste genau: Wenn die mich erwischen! Bei der Demo! Brauche ich nicht mehr ausreisen. Kann ich völlig vergessen. Die haben ja alle auch Kameras gehabt! […] Und mein Freund, der hat mich dann so richtig an die Kirche rangedrängelt, durch die ganzen Leute durch, damit ich aus dem Hauptgeschehen… Weil, die haben ja immer Transparente hochgehalten, und dann kamen sofort Zivil-Stasi-Leute und haben das weggerissen, richtig brutal, haben die weggeschleppt, also festgenommen. (…) Und wenn sie mich erwischt hätten, die hätten mich ja nicht mehr rausgelassen, als Anstifter vielleicht oder westlicher Agitator oder sowas.“
Diese bemerkenswerten Erfahrungsberichte haben empirischen Seltenheitswert, denn die meisten Übersiedlerinnen und Übersiedler hatten in der DDR Einreiseverbot. Die dramatischen Geschehnisse vom Herbst 1989 konnten sie nur im (westdeutschen) Fernsehen mitverfolgen. Tito West erinnert sich noch an seine damalige Fassungslosigkeit: „Ich hab immer gesagt: Der Mut von den Leuten auf der Straße, ja? […] Wenn man nicht weiß, was passiert! Die hatten ja erst mal reingeprügelt, oder du bist weg vom Fenster, dann kommst du ins Gefängnis und jahrelanger Prozess, oder die schlagen dich tot... Das hätte doch keine Sau interessiert!“
Der 9. November 1989
Wie andere generationenspezifische Epochenmarker (etwa die Mondlandung 1969, das Attentat auf die israelische Mannschaft während der Olympischen Spiele in München 1972 oder der 11. September 2001) stellt auch der 9. November 1989 einen mental-emotionalen Erinnerungsort dar: Viele Zeitzeuginnen und Zeitzeugen erinnern sich bis heute daran, wie sie vom Fall der Berliner Mauer erfahren haben und welche Reaktionen diese Nachricht bei ihnen auslöste.
Für die DDR-Übersiedlerinnen und -Übersiedler hatte dieses historische Ereignis jedoch eine besondere biographische Bedeutung, schließlich waren sie jahrelang davon ausgegangen, dass ihre Ausreiseentscheidung unwiderruflich sei und sie ihr Herkunftsland niemals wiedersehen würden. Entsprechend deutlich haben die Befragten auch noch den Abend des Mauerfalls vor Augen.
Clara Kowalski erzählt: „Wir hatten [beim sozialen Träger unserer Einrichtung] Mitglieder-Versammlung, […] und wir hatten im Vorstand einen CSU-Stadtrat. Und der ging auf einmal ans Mikrofon und sagte, er möchte die Versammlung unterbrechen, er hat gerade die Information erhalten, in Berlin ist die Mauer gefallen [Stimme bricht]. Ich saß dort, ich war wie vom Donner gerührt. Und mir schossen sofort die Tränen in die Augen.“
Johannes Becker verfolgte live im Fernsehen mit, wie der DDR-Oberst Günter Schabowski die sofortige Reisefreiheit bekannt gab: „Da hab ich gedacht: Das ist jetzt irgendwie gespielt. Das kann nicht sein. (…) Und dann die nächsten Tage und Stunden, die waren der Hammer! Ich […] hab nur Fernsehen geguckt und immer gedacht: Das kann nicht sein! Da musste man ständig heulen, wenn man diese Szenen da gesehen hat...“ In den erzählten „Mauerfall“-Erinnerungen ist immer wieder von großen Emotionen die Rede. Vielfach wurden Tränen vergossen – Tränen der Freude, der Erleichterung, der Rührung: „Ich hab heulend am Fernseher gesessen“, sagt Rosa West, „weil das kein Mensch für möglich gehalten hätte. Dass so ein System mal so zusammenbricht.“
Jedoch waren keineswegs alle Übersiedlerinnen und Übersiedler vom Mauerfall begeistert. Vielmehr gibt es auch Interviewpassagen, aus denen Empörung, Wut und das Gefühl des Betrogen-Seins sprechen – angesichts der Tatsache, von der Geschichte überholt worden zu sein.
So erzählt Heidemarie Lieb: „Und dann, kaum waren wir drüben, fiel die Mauer, ne? Wir sind am 13. August ausgereist, '89, und ein paar Monate später war sie... Ich saß dann in Schweden und hörte das, und dann hab ich gedacht: Das darf doch wohl nicht wahr sein. Da haben die uns zweieinhalb Jahre für nichts und wieder nichts geknebelt.“
Zu guter Letzt gibt es noch Fälle wie den von Dieter Fürst, der schlichtweg keine Worte mehr für seine Gefühle findet: Zu hoch waren die emotionalen Kosten der Ausreise, zu dicht ist der Nebel der Erinnerung, zu unzugänglich das Terrain der Vergangenheit:
Interviewerin: Ich würde Sie gerne noch fragen, wie Sie die Wende erlebt haben?
Dieter Fürst: Also, ich bin von einem Cousin meiner Frau angerufen worden: 'Wir sind jetzt in Westberlin.' Ich sag: 'Was?' – 'Ja, die Mauer ist gefallen.' Das war alles, wir […] haben kein Fernsehen geguckt, wir haben nichts mitgekriegt, wurden da angerufen und von außerhalb, wenn man‘s so will, informiert. […] Und da hab ich dann erstmal den Fernseher angemacht und hab geguckt.
Interviewerin: Und was ist Ihnen da so durch den Kopf gegangen?
Dieter Fürst: Das weiß ich nicht mehr, ehrlich. [Lange Pause]
Die erste Zeit nach dem Mauerfall
Die verbreitete Fassungslosigkeit und Euphorie ob des Geschehens korrespondierte im Herbst 1989 vielfach mit dem Bedürfnis nach aktiver Teilhabe. Maria Fink erinnert sich: „Das war ne unglaubliche Freude, das war einfach nicht zu fassen. […] Eigentlich hätt‘ ich müssen gleich nach Berlin fahren, so von meinem Gefühl. […] Als ich die dort hab die Mauer hochkrabbeln sehn, hab ich gedacht: Eigentlich müsstest du jetzt dabei sein.“
Maria Fink ist nicht die Einzige, die hin und weg ist vom Geschehen um den 9. November – oder vielmehr: weg und hin will zum Geschehen. Jedoch korrespondierte das gefühlte „Ich muss dahin, muss mal eben nach Berlin“ oft mit einem realen Verhaftet-Bleiben. Die Gründe dafür waren vielfältig; im Interview zeigte sich vielfach ein Art Rechtfertigungszwang: Etwaige Notwendigkeiten des Alltags im Westen (Die Arbeit! Die Abiturprüfungen!) wurden ebenso angeführt wie ein subtiles Unbehagen gegenüber der ostdeutschen Herkunftsregion und ihrem Grenzregime.
Jan Becker, der damals 20 Jahre alt war, sagt: „Ich fand das eine bedrückende Vorstellung, an die Grenze zu reisen und das nochmal zu sehen. […] Besonders, nachdem nochmal deutlicher wurde, wie viele Menschen [da] gestorben sind. Konnte ich mich in dem Moment nicht dazu überwinden, dorthin zu fahren und zu feiern.“ Mittelfristig leisteten viele Übersiedlerinnen und Übersiedler am jeweiligen Herkunftsort Habitus-spezifische „Entwicklungshilfe“: So organisierte das kirchlich engagierte Ehepaar Kowalski Kopiergeräte für ein neu gegründetes katholisches Magazin; die Krankenschwester Ruth Weger schulte Kolleginnen im Umgang mit Diabetes; und die Psychologin Ulrike Becker organisierte Treffen ost- und westdeutscher Frauengruppen. Im Zuge der materiellen und instrumentellen Hilfen wurden wechselseitig Kompetenzen und Wissensbestände angeeignet und vermittelt; vor allem aber trugen die sozialen Begegnungen dazu bei, sich über Gemeinsamkeiten und Unterschiede in den gelebten Biographien zu verständigen. Dass dabei immer auch Bitterkeit respektive Scham angesichts der unterschiedlichen Lebensverhältnisse zum Vorschein kam, veranschaulichen die Erzählungen ebenfalls auf beeindruckende Art und Weise.
Generell erscheint die unmittelbare Nachwende-Zeit in den Interviews immer auch als eine Zeit der biographischen Selbstverortung und Reflexion. Angehörige beider familialer Generationen von Übersiedlerinnen und Übersiedlern suchten nun verstärkt den gedanklichen respektive den realen Ort ihrer Herkunft auf und konfrontierten sich so aktiv mit ihren DDR-Erinnerungen. Manche von ihnen taten dies eher situativ und punktuell – etwa, wenn sie bei Besuchen aus „Insider-Sicht“ (Foto-)Essays über die ehemalige „DDR“ verfassten; andere setzten sich aktiv über einen längeren Zeitraum mit dem Herkunftsland auseinander, indem sie nach Ostdeutschland remigrierten bzw. Berlin als „dritten Ort“ zum Lebensmittelpunkt machten.
Generell fällt bei der analytischen Materialdurchsicht auf, dass das Erzählen über die „Wende“ immer auch bedeutet, soziale Positionierungen vorzunehmen und zwar in mehrerlei Hinsicht: In Bezug auf die eigene Zugehörigkeit zu „Ost“ oder „West“; in Bezug auf die im Osten zurückgelassenen Herkunftsfamilien; und in Bezug auf den „biographischen Sinn“ der Migration. Diese drei Aspekte sollen abschließend noch kurz beleuchtet werden.
Ossi, Wessi oder was? Kulturelle Zugehörigkeiten
Als im November 1989 die Berliner Mauer fiel, hatten sich die meisten der interviewten Familien gerade mühsam ein Fundament für ihre neue Existenz in Westdeutschland geschaffen. Nach einer langen Zeit des Übergangs, die von diversen Abhängigkeiten und hohem Anpassungsdruck gekennzeichnet war, verfügten sie endlich wieder über ein eigenes Zuhause, hatten sich beruflich und schulisch neu orientiert und bescheidene materielle Absicherung erlangt. Zudem waren sie einigen, wenigen Menschen begegnet, die sich für ihre Migrationsgeschichten und die Verhältnisse in ihrem Herkunftsland interessierten.
Dass die DDR für die meisten Westdeutschen in den 1980er Jahren weit weg war, hatten die Übersiedlerinnen und Übersiedler schon bei ihrer Ankunft in der Bundesrepublik erfahren – etwa durch naive Fragen wie „Spricht man dort Russisch?“. Dieser Eindruck bestätigte sich nun im Kontext des Mauerfalls.
So erzählt Clara Kowalski: „Als der [Stadtrat] sagte, […] in Berlin ist die Mauer gefallen, (…) da saß neben mir ne Kollegin (…), und dann sagte die zu mir: 'Du, das gibt ne Steuererhöhung.' Das werde ich nie vergessen! Sie hat ja Recht gehabt. Aber die hat das sofort... Das war so ne richtige Münchnerin, die überhaupt keinerlei… Die wusste zwar… Aber sie hat gesagt: 'Du warst für mich total hier eingebunden, ich hab nie gedacht, dass du ne Beziehung zur DDR hast.'“
Neben zweifelhaften Komplimenten wie diesem, das an positiven Rassismus erinnert und exemplarisch das Hierarchiedenken vieler Westdeutscher widerspiegelt, erfuhren die Übersiedlerinnen und Übersiedler im Kontext der „Wende“ neue Fremdzuschreibungen: „[Da] war man plötzlich wieder der DDR-Bürger bei vielen“, erzählt Rosa West, die in einem schwäbischen Dorf lebt, „und dann fingen manche erst an, sich zu interessieren. Oder es auch nicht so toll zu finden, dass die dann […] alle gekommen waren. […] In Gesprächen [hieß es dann] so: ‚Die sollen mal alle drübenbleiben. Die nehmen uns das bisschen Arbeit hier auch noch weg.‘ Das war nie so persönlich, weil man ja lange genug da war. Aber das Thema war schon so ein bisschen... Vielleicht war man auch empfindlich, aber man hat‘s anders gehört.“
Die Übersiedlerinnen und Übersiedler reagierten unterschiedlich auf die Stereotypen und Ressentiments der Westdeutschen: Befremden, Resignation oder ironische Distanzierung lassen sich ebenso aus den erzählten Erinnerungen ablesen wie das Bedürfnis nach „Aufklärung“.
So versuchte der damals 20-jährige Paul West, der die ad hoc einsetzende massenhafte Ost-West-Wanderung selbst skeptisch verfolgte („Mein erstes Gefühl bei der Wende war: Muss ich jetzt noch weiter Richtung Westen? Schließlich haben meine Eltern so viel Aufwand betrieben, sich vor diesen Leuten zu retten, die jetzt alle hierherkommen.“), die Vorurteile der westdeutschen Gleichaltrigen zurückzuweisen, indem er die Erfahrung des ehemals geteilten Alltags und die damit verbundenen Wissensbestände für sich reklamierte: „Nach der Wende hab ich immer gesagt: Ich darf die Ostler hassen, […], weil ich weiß, was das für Lumpenhunde sind. Aber als dann hier jeder schimpfte auf die Ostler, da hab ich gesagt: Nee, nee, so einfach isses auch nicht!“
Die als ambivalent empfundene Haltung gegenüber „den“ Ostdeutschen ist kein Einzelfall. Denn viele ehemals Ausgereiste sind davon überzeugt, dass die Menschen in Ostdeutschland in den „Wende“-Jahren von „Westlern“ übervorteilt und massiv gedemütigt wurden: Der seit 1989 zu beobachtende „Import“ von als inkompetent wahrgenommenen „Besser-Wessis“ sowie der Export von materiellem Kulturerbe („Die Holländer haben damals in Leipzig anhängerweise die Antiquitäten weggekarrt.“) und die Zerschlagung gewachsener Strukturen rufen bei den ehemals Ausgereisten bis heute Empörung hervor und tragen nachhaltig zur Solidarisierung mit den im Herkunftsland Verbliebenen bei. Zugleich wird aus den Narrationen aber auch immer wieder deutlich, dass den Befragten „die“ Menschen in Ostdeutschland teilweise bis heute fremd sind. In den Interviews manifestieren sich diese Fremdheitsgefühle
in der Irritation über den ostdeutschen Normal-Lebenslauf: „Da bin ich heilfroh, dass ich diesen Weg nicht [gehen] musste. […] Dass ich mich nicht so früh für einen Beruf entscheiden musste. Oder heiraten, weil man dann zusammenziehen kann! Schrecklich!“
in der Wut über die fehlende Auseinandersetzung mit der SED-Vergangenheit: „Dann hab ich gedacht: Jetzt ist die Luftblase geplatzt, und jetzt ist alles nicht wahr? Es war keiner bei der Stasi, es war keiner in der SED? Was ist das denn?“
im Unverständnis über die weitverbreitete Unzufriedenheit: „Also ich kenne niemand, der nicht auf die Füße gefallen ist. Aber es gehört ja zum guten Stil im Osten, zu meckern. Obwohl‘s denen saugut geht! Im Verhältnis zu früher!“
in der Abscheu vor der sogenannten Ostalgie: „Die Leute, die so eine DDR-Nostalgie haben – das bringt mich um den Verstand! […] Die haben aus meiner Sicht einen Rückschaufehler. Denen wünsch ich dann, dass es einen Knall gibt und es ist wieder, wie’s war, mit allem Furchtbaren.“
Vereinigtes Land, gespaltene Familien? Positionierungen im familialen Kontext
In der biographischen Rückschau beschreiben viele Übersiedlerinnen und Übersiedler die „Wende“ auch als einen Kulminationspunkt der innerfamilialen Dynamiken: Stellte sich doch durch den Mauerfall und die damit veränderten Rahmenbedingungen des Alltagslebens die Frage, wer von den familialen Akteuren nun wo stand – ideologisch, moralisch, sozial und ökonomisch – und die biografisch „richtigen“ bzw. „falschen“ Entscheidungen getroffen hatte.
In vielen Familien brachen zur „Wende“-Zeit latente familiale Konflikte wieder auf. In den Interviews zeigt sich dies an beiläufig zitierten, von Neid zeugenden Bemerkungen zurückgelassener Familienmitglieder: „Ihr seid ja wohl die Sieger der Geschichte!“ bekam etwa eine Familie zu hören, die noch im November 1989 ausgereist war und im Westen Fuß gefasst hatte, bevor die massenhafte Ost-West-Migration und der Niedergang der ehemaligen DDR eingesetzt hatten.
Drastischer gestaltete sich die innerfamiliale Auseinandersetzung, wenn die Familien-Mitglieder explizit unterschiedliche politische Ansichten vertreten hatten – wie im Fall der „roten Schwester“ von Maria Fink: „Meine älteste Schwester war mit achtzehn Jahren Parteigenossin geworden […]. Das ist […] bis heute ein Familiendrama. […] Und wir trauen uns eigentlich bis heute nicht so richtig ranzugehen, ans Thema. Einmal sind wir darauf gekommen, da ging‘s drum, wo nach der Wende die ganzen Stasi…. Da sagt sie: Habt ihr eigentlich gedacht, dass ich bei der Stasi war? Ich sag: Naja, wir haben‘s nicht ausgeschlossen! Und da war sie sehr beleidigt. Weil, für sie war ein großer Unterschied zwischen Parteizugehörigkeit und Stasi. Sie fand halt Stasi auch schlimm, vor allen Dingen, was dann auch bekannt geworden war, und hat also glatt gesagt, dass hätte sie alles nicht gewusst. Ich sag: Das kann nicht sein! Das gibt es nicht! Du hast eigentlich mit deiner Parteizugehörigkeit das total unterstützt, dass diese ganzen Sachen abgelaufen sind!“
Von der (eigenen) Geschichte eingeholt? Zum biographischen Sinn der Ausreise
Wie bewerten die Angehörigen beider Generationen nun heute, vor dem Hintergrund des Endes der deutsch-deutschen Teilung, ihre Ausreise?
Lässt man die Interviews Revue passieren, zeigt sich auf den ersten Blick ein sehr positives Gesamtbild: Die meisten Befragten wiesen darauf hin, wie sehr die Ausreise ihrer Biographie eine positive Wendung gegeben habe. Allerdings gilt es, wie generell bei Interviews, auf Widersprüchlichkeiten und Auslassungen zu achten. Ein Beispiel dafür ist der Ausschnitt aus dem Interview mit der ansonsten eher redseligen Doris Fürst, die im Zuge eines Hauserbes in Niedersachsen für ihre Familie die Ausreise beantragt hatte. Sie wird sehr einsilbig, als die Rede auf die retrospektive Bewertung des Familienprojekts Ausreise kommt:
Interviewerin: Und dann ist die Mauer gefallen…
Doris Fürst: Aber dann hab ich trotzdem gesagt: Nein, es war schon gut, dass wir schon früher da waren.
Interviewerin: Ja?
Doris Fürst: Doch, also der Rasen, […] das war alles voller Johannisbeeren, es war höchste Eisenbahn, hier war 'ne Katze, die hat das alles so zerkratzt schon… war schon einiges im Argen, nicht? Und es war höchste Zeit, dass wir das hier übernommen haben. [Pause]
Interviewerin: Wenn diese Erbschaft nicht gewesen wäre, wären Sie in der DDR geblieben?
Doris Fürst: Dann wären… wahrscheinlich… Wahrscheinlich, mhm.
Insgesamt ist vor dem Hintergrund der Interviewaussagen deutlich geworden, dass das Erzählen über und Erinnern an die Wende aus Akteursperspektive stets mit kulturellen, sozialen und familialen Positionierungen einhergeht. Offenkundig wurde auch, dass die Wende-Erzählungen der Übersiedlerinnen und Übersiedlern nicht nur als ein Ausdruck der inneren und äußeren Auseinandersetzung mit der eigener Ost-West-Identität gelesen werden können, sondern sich darin auch die Stereotypen, kulturellen Differenzen und Abgrenzungsmechanismen der Aufnahmegesellschaft – und das Befremdet-Sein der zurückgelassenen Familienangehörigen – spiegeln: Insofern erscheint „die Wende“ in der erzählerischen Retrospektive immer auch als ein Seismograph für das subjektive Zugehörigkeits- respektive Fremdheitsgefühl der ehemals Ausgereisten.
Der Interpretation, dass ehemals Ausgereiste rund 30 Jahre nach der Ost-West-Migration (noch immer) zwischen allen Stühlen sitzen, würden die meisten Interviewten wohl widersprechen. Nicht von der Hand zu weisen erscheint jedoch der Eindruck einer leisen biographischen Verunsicherung, die sich durch alle Interviews zieht und in engem Zusammenhang mit den Geschehnissen der „Wende“ steht: Bot der Zusammenbruch des Systems doch einerseits die Option der späten Genugtuung und der moralischen Legitimation des eigenen Tuns; andererseits erschienen aber auch angesichts der offenen Grenzen und der nun massenhaft einsetzenden Ost-West-Migration die eigenen Kosten und Mühen fragwürdig und der Sinn der Ausreise nachhaltig in Frage gestellt.
Hier können Sie den Beitrag von Laura Wehr
Zitierweise: "Von der (eigenen) Geschichte eingeholt? - Die „Wende“ aus der Perspektive von DDR-Übersiedlerinnen und -Übersiedlern“, Laura Wehr, in: Deutschland Archiv, 07.10.2019, Link: www.bpb.de/298131