„Ein glückliches Ereignis“, so bezeichnete am 10. November 1989 der französische Präsident, bei einem Besuch Kopenhagens, die Öffnung der Berliner Mauer am Vortag. Er fügte aber hinzu, dass die Geburt eines „neuen Gleichgewichts … schwierig“ sein werde. Als Mitterrand nach Paris zurückkam, erhielt er einen Anruf von Helmut Kohl, der die „unvorstellbare“ Stimmung in Berlin beschrieb. Der Bundeskanzler zeigte sich jedoch vorsichtig: er schilderte einen „Entwicklungs-“ Prozess, nicht einen „revolutionären“, und er versicherte ihm, dass „unser Ziel nicht ist, die Lage zu destabilisieren“. Der französische Präsident bat ihn, seine besten Glückwünsche an das deutsche Volk zu übermitteln, das offensichtlich „bewegende Stunden durchlebte“. Mitterrand verglich später die Ereignisse in der DDR mit der Revolution von 1789, deren zweihundertsten Jahrestag Frankreich gerade groß gefeiert hatte.
Die ersten Reaktionen Mitterrands legten die Vermutung nahe, dass er sich über die Entwicklung in der DDR freute. Im Übrigen hatte er selbst im Frühling 1989 die deutsche Wiedervereinigung innerhalb der nächsten zehn Jahre vorausgesagt. Im Juli 1989 erkannte er die „Legitimität“ des deutschen Strebens nach Einheit an. Er stellte aber vier Bedingungen, die er nie aufgeben werde: die Wiedervereinigung sollte „friedlich und demokratisch“ verlaufen; sie sollte mit dem Einverständnis aller betroffenen Länder geschehen; sie sollte sich in die Europäische Gemeinschaft integrieren; sie sollte Michail Gorbatschow, den Generalsekretär des Zentralkomitees der Kommunistischen Partei der Sowjetunion (KPdSU), nicht „stürzen“. Am Ende des traditionellen bilateralen Gipfels, der am 3. November 1989 in Bonn stattfand, fragte ein deutscher Journalist den französischen Präsidenten, ob er die Wiedervereinigung fürchte. Da die Übersetzung auf sich warten ließ, beugte sich ein angespannter Kohl in Mitterrands Richtung und flüsterte ihm zu: „Das ist eine wichtige Frage. Alle müssen ihre Antwort hören“.
Mitterrand erwiderte ruhig: „Ich habe keine Angst vor der Wiedervereinigung“. Die Antwort befriedigte den Kanzler, der keine Gelegenheit ausließ, sie zu zitieren, während sich die Beziehungen zwischen den beiden Ländern in den folgenden Wochen abkühlten. Sechs Tage später fiel die Mauer.
Mitterands Einstellung zur Wiedervereinigung war ambivalent
Zunächst bestätigte Mitterrand seine Unterstützung für die Bundesrepublik. Gorbatschow gegenüber, der ihn am Abend des 10. November vor „übersteigerter Begeisterung“ und „unkontrollierbaren Auswirkungen“ warnte, drückte er sein Verständnis für die Deutschen aus, und betonte, dass „dass Frankreich ein Freund der Bundesrepublik sei“. Das entsprach auch der Einstellung der Mehrheit der französischen Bevölkerung: Eine Umfrage desselben Tages zeigte, dass mehr als 62 Prozent der Franzosen die Perspektive der Wiedervereinigung guthießen.
Trotz seiner öffentlichen Erklärungen zeigte François Mitterrand eine gewisse Ambivalenz: „In Mitterrands Brust kämpfen zwei Seelen“. In Wirklichkeit fürchtete er eine Umwälzung durch die Wiederherstellung der Deutschen Einheit. Er wiederholte ständig, dass Europa am Rande des Abgrunds stehe, so wie 1913. Er fürchtete ein mächtigeres Deutschland, das sich von der Viermächte-Aufsicht emanzipiert und seine volle Souveränität zurückgewinnt und, dass ein Balanceakt zwischen Ost und West beginnt. Letztendlich würde sich das Gleichgewicht des Kontinents verändern und die Vormachtstellung Frankreichs in Westeuropa in Frage gestellt. Mitterrand wusste aber auch, dass er die deutsche Wiedervereinigung nicht verhindern konnte. Er versuchte, sie in sichere Bahnen zu lenken, und ihr Tempo zu kontrollieren, weil er überzeugt war, dass dieser Prozess nicht „irgendwie“ und irgendwann“ zustande kommen darf. Er äußerte: „Frankreich würde sowieso nicht in der Lage sein, die Wiedervereinigung zu vereiteln, wenn diese sich ereignete. Man kann doch nicht einen Krieg gegen Deutschland führen, um seine Wiedervereinigung zu verhindern! Das einzige, was Frankreich tun kann, ist darauf zu beharren, dass gewisse Prinzipien zu respektieren sind.“
Obwohl er es bestritt, nahm Mitterrand eine Haltung ein, die glauben ließ, dass er den Wiedervereinigungsdrang zu bremsen versuchte. Jedoch ging er nicht so weit wie die britische Premierministerin, Margaret Thatcher, die ihn bat zu helfen, „die Wiedervereinigung zu stoppen oder zu verlangsamen“. Während des europäischen Gipfels in Straßburg im Dezember 1989 nahm Thatcher eine Karte aus ihrer Handtasche, die verschiedene Konfigurationen des deutschen Territoriums in der Geschichte darstellte. Sie zeigte diese Mitterrand und sagte zu ihm: „Das ist für die Zukunft nicht beruhigend“. Die „Eiserne Lady“ glaubte, Zweifel bei ihm zu erkennen und hoffte ihn dazu zu bewegen, mit ihr gemeinsam „den deutschen (Vereinigungs-)Drang auskontern“ zu können. Der französische Präsident schien dem Angebot gegenüber offen, aber er wollte letztendlich nicht den weiteren Aufbau Europas einer hypothetischen anglo-französischen Allianz opfern.
Sorge vor übereilter Wiedervereinigung
Mitterrands Absicht war es nicht, einen Prozess zu blockieren, den er selber als legitim und unabwendbar ansah. Er wollte aber vermeiden, dass sich diese Entwicklung zu schnell und unkontrolliert vollzog. In diesem Sinne unternahm er mehrere diplomatische Initiativen (Besuche bei Gorbatschow und Bush sowie die Reise in die DDR), die von Misstrauen geprägt schienen. Er war außerdem von den Bedenken Gorbatschows beeinflusst, der ihm mitteilte, dass er in der UdSSR womöglich zwei Stunden nach der Wiedervereinigung von einem Marschall ersetzt werde. Um über die „Stabilisierung“ der deutschen Situation zu diskutieren, traf Mitterrand sich mit Gorbatschow am 6. Dezember 1989 in Kiew. Der Generalsekretär der sowjetischen KPdSU war immer noch wütend aufgrund des Zehn-Punkte-Programms zur Überwindung der Teilung Deutschlands, das Helmut Kohl eine Woche zuvor dem Bundestag vorgelegt hatte. Darin sicherte der Bundeskanzler der DDR Unterstützung für humanitäre und wirtschaftliche Notlagen zu. Im Gegenzug sollte es einen Wandel des politischen und wirtschaftlichen Systems der DDR geben. Kern des Programms war das Ziel, konföderale Strukturen zu schaffen. Damit sollte die Deutsche Einheit vorbereitet werden. Um Vorbehalten entgegenzutreten, sollte der Einigungsprozess in eine Weiterentwicklung der Europäischen Union integriert werden. Gorbatschow nannte diesen Plan Kohls ein „Diktat“ und hielt „Kohl für einen Elefanten im Porzellanladen“. Mitterrand war ebenfalls unzufrieden mit diesem Programm, über das er im Vorhinein nicht informiert worden war. Bitter enttäuscht bekam Mitterrand einen „Wutanfall“: „Kohl hat mir nichts gesagt! Das werde ich nie vergessen! Gorbatschow wird zornig sein. Er wird sich das nicht gefallen lassen, das ist unmöglich! Ich brauche das nicht zu verhindern, die Sowjets werden es für mich tun.“ Gorbatschow war ebenfalls wütend, gab jedoch zu, dass „die Frage der Wiedervereinigung sich eines Tages stellen wird“. Die beiden Staatsmänner einigten sich, Kohls Elan zu bremsen.
Kurz danach berichtete der französische Präsident seinem amerikanischen Pendant über seinen Besuch in Kiew. Unter der Sonne der Karibik-Insel Saint-Martin erzählte er dem US-amerikanischen Präsidenten George Bush, dass Gorbatschow von den West-Mächten erwartete, dass sie die Begeisterung des Bundeskanzlers dämpfen sollten: „Er will, dass man ihm hilft, die Entwicklung zu bremsen. Er ist gegen die Wiedervereinigung. Ich nicht. Ich stimme aber mit ihm überein, dass man langsamer vorgehen soll. Die deutsche Regierung beschleunigt zu stark.“
Wie Mitterrand später einem französischen Journalisten sagte, war er enttäuscht, dass die UdSSR nicht erreicht hatte, den Mauerfall und den Einigungsprozess stärker zu beeinflussen: „Der Fall der Mauer hat uns überrascht. Mich, aber auch Bush. Das ist Gorbatschows Schuld, der versprochen hatte, den Prozess der deutschen Wiedervereinigung zu verlangsamen. Er hat nichts verhindert. Im Gegenteil. Als ich ihm dies vorgeworfen habe, hat er mir einfach geantwortet: ‚Ich hatte keine Mittel dazu‘.“
Unter sowjetischem Druck stimmten die drei Westmächte schließlich dafür, dass eine Sitzung der amerikanischen, britischen und französischen Botschafter in der Bundesrepublik mit ihrem sowjetischen Kollegen in der DDR am 11. Dezember 1989 in Berlin tagen sollte. Diese Besprechung fand im alten Gebäude des Alliierten Kontrollrates statt, das seit fast vierzig Jahren nicht genutzt worden war. Während Großbritannien diese Konfiguration des Treffens begrüßte, brachte das Zurückgreifen auf diese Viermächte-Konstellation die Vereinigten Staaten und Frankreich in Verlegenheit: Sie wollten nicht den Eindruck erwecken, die Bundesregierung ausschließen zu wollen. Auch wenn diese Konferenz zu nichts Konkretem führte, irritierte sie die Bundesregierung durchaus. Noch mehr empörte das Bundeskanzleramt wenig später die Bekanntgabe einer geplanten Reise Mitterrands in die DDR. Mehrere Wochen lang herrschte zwischen Paris und Bonn deshalb Verstimmung.
Mitterrands DDR-Reise belastete Beziehung mit der Bundesrepublik
Theoretisch handelte es sich bei Mitterrands Reise um einen Gegenbesuch zum Besuch des DDR-Staatschefs Erich Honecker im Januar 1988 in Paris. Anlässlich des vierzigsten Jahrestags der DDR am 7. Oktober 1989 schickte Mitterrand am Vorabend eine übliche Gratulation an Honecker. Dieser nutzte die Gelegenheit, um Mitterrand erneut in die DDR einzuladen. Mitterrand nahm diesmal das Angebot an. Obwohl sich die politische Situation dort zunehmend verschlechterte, sah Mitterrand nicht ein, warum er nicht in die DDR reisen sollte. Beide Seiten beeilten sich ein Datum zu finden, und am 21. November gaben sie bekannt, dass der Besuch einen Monat später stattfinden sollte, vom 20. bis zum 22. Dezember 1989. Doch in der Zwischenzeit wurde Honecker gestürzt, Egon Krenz wurde für kurze Zeit sein Nachfolger als Generalsekretär der SED und der neue Staatschef, der „farblose“ Manfred Gerlach, der „ein Wendehals par excellence“ war, bekleidete die Funktion nur provisorisch.
Vor seiner Abreise bat Mitterrand die französische Diplomatin Caroline de Margerie, die Lage in der DDR zu analysieren. Sie riet ihm nachdrücklich ab, diese Reise in einen Staat zu unternehmen, in dem man einen „seltsamen Eindruck von Irrealität“ spüre: Es schien ein Staat in Auflösung zu sein. Mitterrand hielt trotzdem an dieser Reise fest. Warum? Er brachte selbst zwei Gründe vor: Erstens war er interessiert, eine Region kennenzulernen, wo sich das Schicksal Europas entscheiden sollte; zweitens wollte er den demokratischen Übergang unterstützen. Wollte er auch einen historischen Moment nicht verpassen?
In Bonn wurde die Bekanntgabe dieser Reise mit Unverständnis, sogar mit Bestürzung, aufgenommen. Im Bundeskanzleramt zeigte man sich darüber verärgert, und die westdeutsche Presse wunderte sich. Die französischen Medien berichteten über die Reaktionen in der Bundesrepublik, wo eine große populäre Zeitung fragte, ob der französische Präsident dem Bundeskanzler nicht „einen Stoß in den Rücken“ versetze. Eine linke Wochenzeitschrift verglich ihn mit dem ehemaligen österreichischen Diplomaten und Gegenpart Napoleons Klemens Wenzel Fürst von Metternich und warf Mitterrand vor, ein Gegenbündnis zu suchen, um Deutschland einzukreisen. Mitterrand sprach am 9. Dezember in Straßburg das Thema im Gespräch mit Kohl an. Ein Mangel an Vertrauen und Offenheit machte sich deutlich bemerkbar: Kohl traute sich nicht, ihn zu bitten, auf diesen „anachronistischen“ Reiseplan zu verzichten; Mitterrand lehnte es ab, diesen unausgesprochenen Wunsch Kohls zu erfüllen.
Erster und letzter DDR-Besuch eines französischen Staatschefs
Am 10. Dezember bestätigte der französische Präsident im Fernsehen, dass er die DDR zehn Tage später besuchen würde. Am 20. Dezember 1989 traf Mitterrand dort ein, während Kohl aus der DDR ausreiste, nach einem triumphalen Erfolg in der dortigen Öffentlichkeit. Die Ankunft des Franzosen war ein Glücksfall für das kommunistische Regime. Dieses klammerte sich an die trügerische Hoffnung, dass Mitterrands Reise die Souveränität und Legitimität des zerfallenden Staates garantieren könnte. Das Zentralorgan der SED, Neues Deutschland, kündigte mit Stolz den Besuch des „ersten westlichen Staatschefs“ an. Die Reise hatte nur zwei Stationen: Ost-Berlin und Leipzig als Zentrum der Protestbewegung. In Ost-Berlin betonte Mitterrand den Viermächte-Status der Stadt. Obwohl Frankreich nie Ost-Berlin als Hauptstadt der DDR anerkannt hatte, erklärte der französische Präsident während des Banketts, dass „die Deutsche Demokratische Republik und Frankreich noch viel zusammen vorhaben“. Und tatsächlich unterzeichneten die beiden Staaten fünf bilaterale Abkommen, die für die nächsten fünf Jahre gelten sollten! Außer der Besprechung mit dem reformwilligen DDR-Regierungschef Hans Modrow, traf Mitterrand Oppositionsführer und vor allem Studierende der Leipziger Karl-Marx-Universität. Mitterrand versuchte die Stimmung der Ostdeutschen zu begreifen. Er traf aber hauptsächlich mit Politikerinnen und Politikern, Intellektuellen und Dissidentinnen und Dissidenten zusammen, die nicht die Stimmung der allgemeinen Bevölkerung widerspiegelten, welche immer lauter die Vereinigung der beiden deutschen Staaten verlangte. In Leipzig traf Mitterrand in der Thomaskirche den Dirigenten Kurt Masur, der eine wichtige vermittelnde Rolle während der dortigen großen Demonstrationen im Oktober 1989 gespielt hatte. Dann besuchte er die Nikolaikirche, die der Mittelpunkt der Protestbewegung war. Schließlich redete er in der Leipziger Universität. Eine große Menge wartete dort auf ihn, sodass er Schwierigkeiten hatte, sich einen Weg bis zum Podium zu bahnen. Da das Amphitheater zu klein war, bat er die Studierenden, die draußen warteten, sich auf den Boden der Gänge oder direkt vor das Podium zu setzen. Die jungen Leipzigerinnen und Leipziger zeigten sich neugierig, einen führenden westlichen Politiker, und gar noch einen französischen, zu treffen und anzuhören.
Rede in der Leipziger Universität
Mitterrand hielt eine ausgewogene Rede. Er rief zuerst mit gewisser Nostalgie seine Erinnerungen als Kriegsgefangener in Thüringen wach. Er zog dann eine Parallele zwischen den Ereignissen von 1789 und denen von 1989. Er erkannte auch an, dass die Grenze zwischen den beiden deutschen Staaten von „einer besonderen Art“ war. Der französische Präsident nutzte jedoch vorsichtige Formulierungen, um über die Wiedervereinigung zu sprechen. Zwar erklärte er, dass „die deutsche Einheit in erster Linie vom deutschen Volk abhängt“ und dass „Frankreich sich ihr nicht wiedersetzen wird“, weil sein Land „immer die Seite der Freiheit“ wähle. Er drückte aber deutlich aus, dass man „das europäische Gleichgewicht berücksichtigen“ müsse, weil es eine Angelegenheit sei, die alle Nachbarländer Deutschlands betreffe. Er unterstrich die Notwendigkeit, die deutsche und die europäische Einigung gemeinsam voranzubringen. Mitterrand erweckte den Eindruck, eine Geschichts- und Morallektion erteilen zu wollen, obwohl die Westdeutschen seit vierzig Jahren ihre demokratische Gesinnung, und die Ostdeutschen während der letzten Monate ihre Gelassenheit und ihre politischen Reife bewiesen hatten. Für den französischen Präsidenten war vor allem die Frage der Unverletzlichkeit der polnischen Grenze von großer Wichtigkeit, die wiederum die Ostdeutschen nicht besonders interessierte. Zudem hatte der Bundestag am 8. November 1989, diese Grenze nochmals mit einem Entschließungsantrag anerkannt, der vierhundert Stimmen bei vier Gegenstimmen erhalten hatte. Aus wahltaktischen Gründen verhielt sich Helmut Kohl jedoch manchmal unklug, weil er den Zuspruch der Vereine der Heimatvertrieben gewinnen wollte. Dies wiederum erregte die Ängste der Polen, was Mitterrand offensichtlich Sorgen bereitete.
Zurück in Ost-Berlin wiederholte Mitterrand in Interviews, dass die Deutschen selber über ihr Schicksal entscheiden sollten: „Möge der Wille des deutschen Volkes sich ausdrücken und geschehen!“ Obwohl 50 Polizisten für seine Sicherheit zuständig waren, schaffte er es, unauffällig in der Nacht einen Spaziergang entlang der Mauer zu machen. Schließlich reiste Mitterrand aus Ost-Berlin ab, angeblich „glücklich, diese Momente miterlebt zu haben“. Wie sein diplomatischer Berater Hubert Védrine im Rückblick gestand, sei diese Reise dennoch ein „Fehler“ gewesen. Und Mitterrand schwächte seine Position, weil er das Angebot von Kohl ablehnte, gemeinsam mit ihm und Modrow am 22. Dezember 1989 an der Zeremonie der Öffnung des Brandenburger Tores teilzunehmen. Der französische Präsident erklärte: „Das ist eine Sache zwischen den Deutschen. Ich werde an ihr nicht teilhaben. Kohl hat mich nicht im Voraus über sein Zehn-Punkte-Programm informiert. Er weigert sich, die Oder-Neiße-Grenze anzuerkennen. Und er will, dass ich seine Inbesitznahme der DDR legitimiere? Das ist zu dreist! Er kann nicht erwarten, dass ich in diese Falle tappe.“ Immer noch gekränkt hielt Mitterrand seine Anwesenheit an dieser Veranstaltung, die symbolisch das Ende der Teilung einer Stadt, eines Landes und eines Kontinents darstellte, für „inopportun“. Der Generalsekretär des Elysée-Palastes, Jean-Louis Bianco, erklärte, dass der Präsident nicht erscheinen wollte, „wie der Cousin, der sich in das Hochzeitsfoto hineindrängt“. Dies war untypisch für Mitterrand, der ansonsten symbolische Gesten durchaus verstand, wie er schon mehrmals bewiesen hatte. In Kiew etwa hatte er keine Hemmungen gezeigt, Gorbatschow vorzuschlagen, ihn in die DDR zu begleiten. Der bundesdeutsch-französische Zwist endete allerdings einige Tage später, während eines langen Spaziergangs von Mitterrand und Kohl in Latché, wo sich das Ferienhaus des Präsidenten befand. Sie klärten die Divergenzen auf und einigten sich, die deutsche Wiedervereinigung gemeinsam mit einer neuen Etappe der europäischen Integration zu verbinden, die mit dem Maastrichter Vertrag abgeschlossen werden sollte. Doch im Rückblick bleibt Mitterrands Reise in die DDR ein diplomatischer Fauxpas. Im Gegensatz zu Präsident Bush hatte Mitterrand damit eine Gelegenheit ausgelassen, sein Land als verlässlichen Freund Deutschlands zu zeigen. Die deutsch-französischen Beziehungen gingen aber auch damals wieder gestärkt aus einer Krise hervor, indem beide Staaten das gemeinsame Ziel der Vertiefung der europäischen Kooperation weiterverfolgten.
Zitierweise: "Die deutsche Regierung beschleunigt zu stark - Der umstrittene DDR-Besuch von Mitterrand im Dezember 1989“, Cyril Buffet, in: Deutschland Archiv, 01.10.2019, Link: www.bpb.de/297868