1989 – Ein europäisches Jahr
Das Jahr 1989 lässt sich ohne Zweifel als eines der ereignis- und folgenreichsten Jahre der Zeitgeschichte beschreiben, nicht nur mit Blick auf Deutschland, sondern auch auf Europa: Erstens hinsichtlich der geographischen Reichweite und damit auch bezogen auf die Zahl der Länder, die von den Umbrüchen 1989 direkt oder indirekt betroffen waren. Neben dem Mauerfall jährten und jähren sich 2019 beispielsweise die ersten halbfreien Wahlen in Polen im Juni, das Paneuropäische Picknick an der österreichisch-ungarischen Grenze und die grenzübergreifende Menschenkette im Baltikum im August zum 30. Mal. In ihrer Summe trugen solche Ereignisse zu einem meist gewaltfreien Wandel im östlichen Teil Europas bei. Bis heute verfügen sie über eine hohe symbolische und emotionale Wirkungsmacht. 1989, so könnte man argumentieren, betraf dabei nicht nur den östlichen Teil des Kontinents, sondern war zugleich die Voraussetzung für die Schaffung eines freien und friedlichen Gesamteuropas.
Zweitens war der Umbruch von 1989 nicht nur in seiner Summe, sondern auch in den transnationalen Verflechtungen ein europäisches Jahr. Die oben genannten Ereignisse waren grenzübergreifend wirksam, Dissidenten und oppositionelle Gruppen pflegten über den nationalen Rahmen hinaus Kontakte. Bürgerinnen und Bürger verschiedener Länder fühlten sich durch die Entwicklungen in anderen Ländern ermutigt, auf die Straße zu gehen oder das eigene Land zu verlassen. All diese Verflechtungen beförderten das, was heute häufig als Dominoeffekt bezeichnet wird – eine grenzüberschreitende Dynamik, welche schließlich nicht nur zum Ende nationaler Regierungen, sondern zur Implosion des gesamten kommunistischen Einflussbereichs und schlussendlich zum Ende der Sowjetunion im Jahr 1991 führte. Aber auch für die westeuropäischen Staaten änderten sich durch 1989 grundsätzliche politische, ökonomische und soziale Koordinaten, sei es durch machtpolitische Verschiebungen, neu zugängliche Märkte oder einsetzende Migrationsbewegungen. Neue Begegnungsräume, aber auch neue Grenzziehungen entstanden – sowohl aus westlicher als auch aus östlicher Perspektive.
Positiver Bezugspunkt oder umstrittener Einschnitt?
Im historischen Vergleich steht 1989 als Chiffre für einen Wandel, der von den Mitlebenden zunächst überwiegend positiv wahrgenommen und erinnert wurde. Dies stellt insofern eine Besonderheit in der europäischen Zeitgeschichte dar, als sich die westeuropäischen Länder nach dem Zweiten Weltkrieg hauptsächlich im Bestreben nach einer Abgrenzung zur Vergangenheit und unter dem Ziel eines Nie wieder zusammengeschlossen hatten. Zur Auflösung der Fußnote[1] Die Europäische Integration sollte nicht Altes bestärken, sondern Feindseligkeit, Krieg, Völkermord und Vertreibung in Zukunft verhindern. 1989 dagegen ließe sich als ein europäischer Knotenpunkt betrachten, verbinden sich mit dem Jahr doch Schlagworte wie Friedliche Revolution, Demokratisierung, Befreiung oder Grenzöffnung. Als gemeinsamer europäischer Erinnerungsort hätte die Zäsur 1989 das Potenzial, den Zusammenhalt der europäischen Gesellschaften zu stärken. Blickt man in die Debatten der vergangenen Jahre und aktuell in das Gedenkjahr 2019, so trifft man jedoch zahlreiche kritische Stimmen. Dem transnationalen, positiven Erfahrungsjahr 1989 steht zunehmend eine Erinnerung gegenüber, die nicht von dem Gedanken der Annäherung, sondern von einer nationalen Verengung und einer Distanzierung zu den damaligen Ereignissen gekennzeichnet ist. Die Kritikpunkte reichen hierbei in mehreren europäischen Ländern – etwa in Polen, Rumänien, in Ungarn und Deutschland, aber auch in Russland – von der nicht angemessenen Aufarbeitung des Kommunismus über das west-östliche Machtgefälle im Transformationsprozess bis hin zu Fehlern bei der ökonomischen Umgestaltung. Diese Themen dienen jedoch weniger einer sachlichen Auseinandersetzung, sondern werden argumentativ eingesetzt, um gesellschaftliche Abgrenzungen zu untermauern – sowohl innerhalb der Nationalstaaten als auch auf europäischer Ebene. Sie stehen in Verbindung mit der Wiederbelebung nationaler Stereotype sowie Forderungen nach einer protektionistischen Wirtschafts- oder einer restriktiven Migrationspolitik – also grob verallgemeinert einem Rückgängigmachen derjenigen Werte, für welche die Zäsur 1989 in Europa bisher symbolisch stand.
Um diese Entwicklung zu verstehen, ist es sinnvoll, erstens genauer zu betrachten, wie sich die Erinnerung an 1989 in den letzten 30 Jahren entwickelt hat. Zweitens lohnt ein Blick auf die aktuellen Äußerungen vor allem der neueren populistischen Bewegungen, welche diese kritischen Positionen in mehreren europäischen Ländern lautstark vertreten. Damit stilisieren sie 1989 zu einem negativen Gründungsmythos ihrer eigenen, häufig nationalistisch zu verortenden Bewegungen.
Europäische Deutungen in den 1990er Jahren
Zwar überwogen zunächst in den meisten Ländern Europas die Euphorie ob des überraschend friedlich verlaufenen Wandels und das Gefühl der Befreiung von bisherigen Unterdrückungssystemen. Die Kritik an den Entwicklungen seit 1989 ist allerdings kein neues Phänomen. In Polen etwa war die Frage nach der Härte, mit der gegen die kommunistischen Eliten vorgegangen werden solle, von Beginn an politisch stark umstritten. Andere Länder, wie zum Beispiel Estland und Lettland, hatten weniger mit heterogenen Positionen zur jüngsten Vergangenheit durch politische Lager, sondern durch nationale Minderheiten zu kämpfen. Zur Auflösung der Fußnote[2] Am stärksten litten sicherlich die Nachfolgestaaten Jugoslawiens unter den Folgen des macht- und geopolitischen Umbruchs um 1989. Zur Auflösung der Fußnote[3] Auch in Deutschland war der Weg zur Einheit nicht unumstritten: So kamen schon früh Visionen eines sogenannten Dritten Wegs und auch alternative Szenarien bezüglich einer Vereinigung der beiden deutschen Staaten auf. Diese wurden jedoch durch die zügige Entscheidung für eine Deutsche Einheit nach Art. 23 GG rasch aussichtslos und verloren dadurch lange an Aufmerksamkeit. Zur Auflösung der Fußnote[4]
Rückblickend zeigen solche unterschiedlichen Einstellungen allerdings die ursprüngliche Offenheit des Transformationsprozesses, der nachträglich oft vereinfachend und verfälschend als alternativlose „Rückkehr des Ostens nach Europa“ im Sinne einer Anpassung an das westliche Modell dargestellt worden ist.
Diese sehr vereinfachende Sichtweise hat ihre Ursache auch darin, dass alternative Positionen auf offizieller Ebene der eben erst gegründeten Europäischen Union und vieler westlicher Regierungen kaum wahrgenommen wurde. Geschichtspolitisch betonte der Westen vor allem das glückliche Ende des Kalten Krieges und stellte dies in einen Zusammenhang mit dem Ende des Zweiten Weltkriegs: Während Westeuropa 1945 befreit worden wäre, sei der Osten des Kontinents 1989 nachgefolgt. Diese Sichtweise, dass der Osten 1989 nachgeholt habe, was im Westen schon lange erreicht worden war – individuelle Freiheit, Demokratie, Modernisierung – dominierte die Deutung von 1989 vor allem die ersten 15 Jahre. Sie überlagerte bestehende Deutungskonflikte gerade in den ostmitteleuropäischen Staaten, welche auch dort aufgrund der Westorientierung im Rahmen der EU-Beitrittsperspektive zunehmend an Gewicht verloren.
Aufbrechen der Narrative nach der EU-Osterweiterung
Das änderte sich im neuen Jahrtausend: Besonders seit 2004 kamen neue geschichtspolitische Strategien und – zum Teil alte – miteinander konkurrierende Deutungsangebote zur Zäsur 1989 an die Oberfläche. Sie lassen sich in zwei Stränge unterteilen: Einerseits in die offizielle Geschichtsdeutung der EU sowie der proeuropäisch eingestellten Regierungen unter den EU-Mitgliedstaaten. Demnach habe besonders die Osterweiterung, so der Historiker Stefan Troebst, eine „dramatisch intensivierte geschichtspolitische Debatte auf gesamteuropäischer Ebene“ ausgelöst und unter anderem zur „Konzipierung einer EU-Geschichtspolitik im Kontext des grenzübergreifenden Identitätsmanagements Brüssels“ geführt. Zur Auflösung der Fußnote[5] Dieses propagierte das Jahr 1989 einerseits als erfolgreiches Jahr der Befreiung Osteuropas, Zur Auflösung der Fußnote[6] zugleich war die Sicht Brüssels von einer stark asymmetrischen und häufig als arrogant oder ignorant empfundenen Wahrnehmung geprägt, die östliche Perspektiven wie auch eine westliche „Kotransformation“ (Philipp Ther) vernachlässigte. Die EU-Geschichtspolitik zur Zäsur 1989 hat in den ostmitteleuropäischen Mitgliedstaaten deshalb auch immer wieder zu Protesten geführt. Zur Auflösung der Fußnote[7] Andererseits traten nun die neuen Mitgliedstaaten aus dem Osten nach ihrem Beitritt zur EU selbstbewusster auf, auch in ihrer geschichtspolitischen Positionierung. Besonders die nationalkonservativen Stimmen, etwa aus Polen und Ungarn, positionierten sich nicht nur offensiv kritisch zu europapolitischen Sachfragen, sondern auch zur dominierenden Sichtweise bezüglich der Zäsur 1989. Sie formulierten alternative historische Deutungsangebote, die mittlerweile in vielen europäischen Ländern, auch in Deutschland geäußert werden. Sie argumentieren dabei nicht im Sinne einer europäischen Annäherung sondern vertreten in der Regel eine nationale, häufig sogar nationalistische Verengung der Erinnerung an 1989 und werden geschichtspolitisch zur Legitimation des eigenen Machtanspruchs genutzt.
Populistische Abgrenzungen zur jüngsten Vergangenheit
Die Kritik der populistischen Bewegungen in Europa richtete sich in der Regel gegen die Art der Transformation seit 1989 und konkreter gegen die politischen Machthaber der unmittelbaren Nachwendezeit – sowohl auf nationaler als auch auf EU-Ebene. In Polen, wo es durch den Runden Tisch zu einem „Verhandlungssieg“ (Andrzej Paczkowski) unter Einbeziehung der kommunistischen Machthaber gekommen war, wurden die Deutungskonflikte markant: „Behaupteten die einen“, so die Historiker Piotr Buras und Burkhard Olschowsky, „der Runde Tisch hätte die Solidarność-Revolution erst zu einem glücklichen Ende gebracht, entgegneten ihnen die anderen, der Pakt mit den Kommunisten hätte die Umgestaltung des öffentlichen Lebens und den Umbau des Staates in Wirklichkeit weitgehend verhindert.“ Zur Auflösung der Fußnote[8] Besonders die rechtskonservative Partei Recht und Gerechtigkeit (PiS) vertritt bis heute die letztere Position und verbindet die Kritik an 1989 mit dem „Mythos des Antikommunismus“, indem sie einen klaren Bruch mit der Vergangenheit vor und nach 1989 suggeriert. Zur Auflösung der Fußnote[9] Aufgrund der Uneinigkeit in der Deutung der Ereignisse von 1989 erinnerten die politischen Lager in Polen im Juni 2019 sogar getrennt an die Demokratisierung des Landes. Zur Auflösung der Fußnote[10]
Eine ähnliche geschichtspolitische Strategie verfolgt die AfD und überträgt die Kritik auf gegenwärtige Problemlagen: Das aktuelle System ähnele dem Unterdrückungssystem des Kommunismus, gegen den die Bevölkerung 1989 aufbegehrt hätte. So verkündete etwa die Berliner AfD am 9. November 2017 über den Kurznachrichtendienst Twitter: „Wer am 9.11.89 ‚Wir sind das Volk‘ rief, ruft es auch heute. Damals – wie heute – werden diese Regierungskritiker bekämpft.“ Zur Auflösung der Fußnote[11] Die parlamentarische Demokratie wird so diskreditiert und in Anlehnung an 1989 als undemokratisch und elitenfreundlich beschrieben. „Die Mechanismen“, so die Berliner AfD weiter, „sind identisch. Kanzler, die eigenmächtig handeln. Regierungstreue Medien. Illegal handelnde Justizminister. Korrupte Regierungspolitiker. Schikanieren der eigenen Bürger. Verfassungsfeindliche Politik... etc.“ Zur Auflösung der Fußnote[12] Auf diese Kritik folgt nicht selten auch die Stärkung des Begriffs der sogenannten Wendeverlierer. Häufig wird diese Perspektive mit europa-, migrations- oder sozialpolitischen Themen in Verbindung gebracht. So erklärte beispielsweise AfD-Bundessprecher Alexander Gauland in der Fernsehsendung Lanz im ZDF Anfang September 2019, der Erfolg seiner Partei ließe sich vor allem durch die Fehler der anderen politischen Akteure erklären, die im Zuge der deutschen Einheit gemacht worden seien und die dazu geführt hätten, dass sich Ostdeutsche als Bürger zweiter Klasse behandelt fühlten. Die Wahrnehmung der Ostdeutschen deutete er folgendermaßen: „Die Flüchtlingspolitik von Angela Merkel nimmt ihnen (nach 1989, Anm. der Autorin) zum zweiten Mal die Heimat.“ Zur Auflösung der Fußnote[13]
Ähnliche Argumentationsmuster finden sich auch bei der österreichischen FPÖ, welche die Zäsur 1989 und den EU-Beitritt 1995 in einen direkten Zusammenhang mit einer zunehmenden Zuwanderung, der Entstehung von sozialer Verunsicherung, Arbeitslosigkeit sowie ökonomischen Abstiegsängsten bringt. Zur Auflösung der Fußnote[14] Solche Deutungen führen nicht zuletzt dazu, dass sich die Gruppe der Unzufriedenen im Land in ihrer Eigenverantwortung entlastet sieht: Schuld an ihrer Lage seien demnach die äußeren Umstände, konkreter die politischen und ökonomischen Eliten, welche ihre Machtpositionen zum eigenen Vorteil ausgenutzt hätten.
Auch die EU-Institutionen und andere westliche Akteure der Nachwendezeit – in Deutschland etwa die Treuhandanstalt – geraten zunehmend in Kritik. Sie hätten, so der Vorwurf, die ostmitteleuropäischen Staaten nicht gleichberechtigt behandelt. Das daraus abgeleitete neue Aufbegehren gegen westliche Vorgaben machte der ungarische Ministerpräsident Viktor Orbán in einer Rede in Bálványos im Juli 2018 deutlich, in der er verkündete: „Vor dreißig Jahren haben wir noch gedacht, Europa sei unsere Zukunft, und heute denken wir, dass wir die Zukunft Europas sind.“ Zur Auflösung der Fußnote[15] Orbáns Haltung spitzt eine Unzufriedenheit zu, wie sie seit 1989 immer wieder von verschiedenen Politikvertretern aus Ostmitteleuropa geäußert worden war. Sie kann als Reaktion auf eine vom Westen vorgegebene und einseitige Anpassungspolitik nach 1989 betrachtet werden. Sie verschleiert jedoch auch die Eigenverantwortlichkeit der ostmitteleuropäischen Staaten und verkürzt komplexe europäische Entscheidungsprozesse auf Machtfragen zwischen Nationalstaaten. Die Vertreter dieser Position stellen sich selbst in der Regel dennoch als europafreundlich dar, indem sie die EU zwar kritisieren, diese jedoch zugleich von der Identität des „Europäers“ trennen, welche nach wie vor positiv besetzt bleibt. Zur Auflösung der Fußnote[16]
Vereinnahmung der Revolution und Inszenierung einer „neuen Wende“
Diese Deutungen von 1989, wie sie in Europa in den vergangenen Jahren entstanden sind, sind nicht nur mit dem Ziel formuliert, die bestehenden Ordnungen zu delegitimieren, sondern vor allem das eigene politische Programm als Utopie einer „wahren Wende“ zu stilisieren. Mit Blick auf die AfD haben Greta Hartmann und Alexander Leistner dieses Vorgehen als aktualisiertes „Widerstandsnarrativ von ‚1989’“ Zur Auflösung der Fußnote[17] gedeutet, das Protestierende gegen das bestehende System mobilisieren soll. Auch die PiS nahm explizit Bezug auf 1989, indem sie etwa 2015 das eigene Programm unter dem Schlagwort dobra zmiana („guter Wandel“) der Zeit von 1989 gegenüberstellte. Zur Auflösung der Fußnote[18] Demnach sei die alte, schlechte Zeit nicht 1989, sondern erst mit der Regierungsverantwortung der PiS-Partei zu Ende gegangen.
In Russland inszeniert sich Wladimir Putin ebenfalls als Heilsbringer der Erneuerung in Abgrenzung zu den alten Eliten, allen voran Michail Gorbatschow und Boris Jelzin, die Russland in den 1990er Jahren in chaotische Zustände gebracht hätten, Zur Auflösung der Fußnote[19] wohingegen Putin nun „auf die Wiederherstellung der Weltmacht Russland“ abziele. Zur Auflösung der Fußnote[20] Der positive Freiheitsmythos von 1989 tritt so zunehmend in Konkurrenz zur Deutung von 1989 als negativem Gründungsmythos neuer Bewegungen. In vielen ostmitteleuropäischen Ländern reiht sich diese Sichtweise in eine lange historische Kontinuität der Unterdrückung und Fremdbestimmung ein und wendet sich sowohl gegen sogenannte innere als auch äußere Feinde. Der Erfolg populistischer Bewegungen, die häufig Externalisierungsstrategien mit der Propagierung klarer Feindbilder verbinden, Zur Auflösung der Fußnote[21] schlägt sich somit auch im Erinnerungsdiskurs über 1989 nieder.
Erklärungsversuche
Worin gründet die grenzübergreifend erfolgreiche Kritik an 1989, 30 Jahre nach dem Ende des Kalten Krieges? Als ein Erklärungsansatz gilt sicherlich, dass die in den vergangenen 30 Jahren dominierende Sichtweise auf die Zeit um 1989 zu einseitig und zu undifferenziert gewesen ist. Stimmen, die sich kritisch mit den Ereignissen und vor allem mit den Folgen von 1989 und der Rolle des Westens auseinandersetzten, wurden innerhalb der Nationalstaaten, gerade aber auch auf europäischer Ebene zu lange überhört und erfahren erst langsam verstärkte Aufmerksamkeit. Dies wird auch von Vertretern der gemäßigten Parteien wahrgenommen. So erklärte etwa Angela Merkel in einem Interview zu Beginn dieses Jahres ihre Sichtweise auf die neuen Deutungen zu 1989:
„Und jetzt, nach einer gewissen Zeit und mit Abstand, sind wir wieder in einer Phase, in der man zurückschaut. Oft denke ich, es ist ein wenig, wie es 1968 im Westen war, denn auch damals wurde bohrend nachgefragt: Wer seid ihr vor 1945 gewesen? Und wie seid ihr danach damit umgegangen? So befragen wir uns heute mit Blick auf den Zeitenwechsel von 1989 auch. Das ist ein selbstverständlicher, gar nicht außergewöhnlicher Prozess, den man zulassen muss. Zum Beispiel gibt es mit Blick auf die Treuhand viele Fragen, die die Menschen nun einfach stellen wollen. Das ist legitim, auch wenn natürlich die Zeiten vor 1945 und nach 1989 in keiner Weise vergleichbar sind.“ Zur Auflösung der Fußnote[22]
Zweitens passt die zunehmend kritische Sicht auf die Transformationszeit nach 1989 in das große Krisennarrativ Europas, das spätestens seit 2007 durch Finanz- und Eurokrise, neue Kriege und Terrorismus, Zuwanderungsdebatten bis hin zum Brexit aufkam und weiter anhält. Auch wissenschaftliche Publikationen zu 1989 schlossen sich diesem Krisennarrativ an und schrieben nicht mehr vom „Triumph of Hope“ (John Lewis Gaddis), sondern vom „Aufbruch der entsicherten Gesellschaft“ (Heinrich Best und Everhard Holtmann), dem „Preis der Freiheit“ (Andreas Wirsching), „The Burdens of Freedom“ (Padraic Kenney) oder von der „Übernahme“ des Ostens durch den Westen (Ilko-Sascha Kowalczuk).
Die Entwicklung zeigt drittens, dass die Komplexität der Zäsur 1989 gerade in ihrer Vieldeutigkeit lange unterschätzt worden ist. 1989 endete nicht einfach eine Zeit der Unterdrückung. Das Jahr warf und wirft in seinem auslösenden Charakter auch zahlreiche Fragen auf, die zudem nicht in allen Ländern gleichermaßen und gleich schnell angegangen wurden. Das zeigt beispielsweise die noch längst nicht abgeschlossene justizielle Aufarbeitung der gewaltsamen Revolution vom Dezember 1989 in Rumänien, die erst kürzlich zur Anklage des ehemaligen Präsidenten Ion Iliescu geführt hat. Zur Auflösung der Fußnote[23]
Pluralisierung der Erinnerung?
Neben allen problematischen Entwicklungen im politischen Diskurs lässt sich der neue Umgang mit 1989 in Europa möglicherweise auch als Chance begreifen. So stellt er zunächst einmal eine Pluralisierung der Erinnerung an eine tatsächlich vieldeutige Zeit dar. Dass sich das Akteursspektrum im geschichtspolitischen Streit um 1989 geweitet hat und sich damit auch die Perspektiven auf die jüngste Vergangenheit ausdifferenziert haben, könnte sich auch hin zu einem verstärkten Dialog und einem demokratischen Streit um das heutige Selbstverständnis Europas entwickeln. Zur Auflösung der Fußnote[24] Der Rekurs auf 1989 in der heutigen Zeit sollte aber in Anbetracht der zunehmenden populistischen Vereinnahmung auch als Aufforderung zu einer verstärkten Professionalisierung der Erinnerung verstanden werden.
Noch zu häufig legitimieren sich die „Aufarbeiter“ von 1989 durch ihre persönliche und politische Biographie und nicht durch ihre berufliche Ausbildung. Zur Auflösung der Fußnote[25] Auch das befördert eine nationale Sichtweise der Erinnerung, schließlich waren viele Erfahrungsräume – häufig notgedrungen – auf die nationalen, manchmal sogar auf regionale Grenzen beschränkt. Eine professioneller Blick auf 1989 und die nachfolgende Zeit könnte dagegen grenzübergreifende Gemeinsamkeiten in der europäischen Erinnerung an 1989 herausstellen, beispielsweise durch die Erforschung und Vermittlung von vergleichbaren Wahrnehmungen, von west-ost-übergreifenden Verunsicherungen, Hoffnungen oder Enttäuschungen – ohne sich dabei auf nationale Abgrenzungen zurückzuziehen oder ein vereinfachendes Bild vom befreiten Kontinent zu überzeichnen.
Zitierweise: "Das Jahr 1989 und sein Stellenwert in der europäischen Erinnerung - Zwischen Befreiungseuphorie, populistischer Vereinnahmung und Pluralisierung“, Angela Siebold, in: Deutschland Archiv, 20.9.2019, Link: www.bpb.de/297806