Braune Wurzeln?
Thesen zu den Erfolgen des Rechtspopulismus im Osten
Christian Booß
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Umfragen deuten daraufhin, dass die rechtspopulistische AfD bei den anstehenden Landtagswahlen 2024 in Deutschlands Osten ihren Stimmanteil nochmals erhöhen könnte, auf teilweise über 30 Prozent. Schon bei den Wahlen 2019 erhielt sie zwischen 23,5 Prozent in Brandenburg und 27,5 Prozent in Sachsen, darunter war ein beträchtlicher Zuwachs durch bisherige Nichtwähler. Ganz neu sind solche Ergebnisse am extrem rechten Rand in Deutschlands Osten nicht. Auch andere Rechtsaußen-Parteien konnten dort nach der Wiedervereinigung bereits überproportional Erfolge erzielen - auffallenderweise häufig dort, wo früher auch Hitlers NSDAP viele Stimmen holte. Dazu Thesen von Christian Booß, im Deutschland Archiv erstveröffentlicht am 4. September 2019.
Vorweg gesagt: es geht im Folgenden nicht darum, Wähler der Alternative für Deutschland (AfD) und AfD-Wählerinnen mit denen der Nationalsozialistischen Deutschen Arbeiterpartei (NSDAP) vor mehr als 80 Jahren gleichzusetzen, oder gar die AfD mit der NSDAP. Gleichwohl macht ein vergleichender Blick auf aktuelle Wahlergebnisse und Wahlumfragen in AfD-Hochburgen und zu Beginn der 30er Jahre auf NSDAP-Stimmanteile Parallelen deutlich. Es ergeben sich zahlreiche Indizien für ein tief verwurzeltes extrem rechts wählendes Milieu im Osten Deutschlands - nicht nur seit dem Wahlsonntag vom 1. September 2019 bei den letzten Landtagswahlen in Brandenburg und Sachsen.
Während CDU, SPD und Linke zum Teil starke Verluste hinnehmen mussten, erzielte die AfD in Sachsen Zugewinne in Höhe von 17,7 Prozent und kam dort auf 27,5 Prozent der Zweitstimmen hinter der CDU mit 32,1 Prozent. In Brandenburg gewann die AfD 11,3 Prozent hinzu und landete als nunmehr zweitstärkste Partei auf 23,5 Prozent hinter der SPD mit 26 Prozent. Vor allem Männer zwischen 25 und 60 votierten für die Rechtspopulisten, in Sachsen vorrangig Arbeiter und Arbeitslose, in Brandenburg außerdem viele Selbständige und Angestellte. Den größten Zulauf erhielt die Partei aus dem bisherigen Nichtwählerspektrum. Besonders hoch fielen die AfD-Zugewinne in „abgehängten“ Regionen aus, also dort, wo sich Einwohner infrastrukturell und wirtschaftlich benachteiligt fühlen, zum Beispiel in Brandenburgs Südosten. Dort holte die AfD in Landkreisen wie Frankfurt (Oder) oder Cottbus I und II sowohl das Direktmandant als auch die meisten Zweitstimmen; ebenso in sächsischen Wahlkreisen wie Görlitz III und Bautzen IV.
Als Motiv für ihre Wahlentscheidung nannten 53 Prozent der AfD-Wählenden in Brandenburg bei einer Befragungen durch die ZDF-Forschungsgruppe Wahlen, den anderen Parteien „einen Denkzettel“ verpassen zu wollen - in vollem Bewusstsein über die politische Ausrichtung der Partei. 66 Prozent der Befragten in Brandenburg und 63 Prozent in Sachsen stimmten laut Forschungsgruppe Wahlen der Aussage zu, dass „rechtsextremes Gedankengut in der AfD weit verbreitet ist“.
Die neuerlichen Zugewinne der AfD im Osten Deutschlands kommen nicht unerwartet. Meinungs-Umfragen im Vorfeld der Landtagswahlen vom 1. September 2019 hatten die Rechtspopulisten zeitweise sogar als stärkste Partei gesehen, auch jetzt vor den Wahlen in 2024 ist das erneut der Fall. Aber schon seit den Bundestagswahlen 2017 gilt „Mitteldeutschland als AfD-Hochburg“. Die rechtspopulistische AfD überflügelte damals in Sachsen knapp die regierende CDU und nahm in den Flächenländern Ostdeutschlands erdrutschartig den zweiten Platz im Parteigefüge ein.
Dagegen holten die Rechtspopulisten bei der Bundestagswahl vor zwei Jahren in den Ländern der Altbundesrepublik im Durchschnitt nur knapp über zwölf Prozent. Im Osten deutlich mehr, zwischen 18,6 und 27 Prozent. Auch das einst zweigeteilte Berlin zeigte sich in der AfD-Frage west-ost-gespalten. Die Wahlen zum Europaparlament 2019 bestätigten diesen Befund, nur geringfügig abgeschwächt.
In den Spuren von DVU und NPD
Ganz neu ist dieser Rechtsdrall in den neuen Bundesländern nicht. Durch Wahlabsprachen gelang es Ende der 1990er Jahre der rechtspopulistischen Deutschen Volksunion (DVU) zweimal bei Wahlen in Brandenburg über die Fünf-Prozent-Hürde zu kommen, in Sachsen-Anhalt 1998 sogar mit satten 12,9 Prozent. Die NPD konnte 2004 in den Landesparlamenten von Sachsen und ab 2006 in Mecklenburg-Vorpommern Fuß fassen, in Sachsen-Anhalt scheiterte sie mit 4,6 Prozent der Stimmen 2011 nur knapp.
Im Osten baute die Rechtsaußenpartei auf Strukturen auf, die unmittelbar nach dem Mauerfall von Neonazis aus Ost- und Westdeutschland gelegt wurden. Das Potenzial verunsicherter Menschen im Vereinigungsprozess mit seinen sozialen und wirtschaftlichen Verwerfungen versprach ein großes Wählerpotenzial, dazu kam die aufkeimende Fremdenangst angesichts der erstmaligen Zuweisung von Asylbewerbern in ostdeutsche Kommunen. Schon bald nach der Wiedervereinigung hatte dies zu pogromähnlichen, ausländerfeindlichen Szenen durch Neonazis in Orten wie Hoyerswerda (1991) und Rostock-Lichtenhagen (1992) geführt, bei denen Umstehende Beifall klatschten.
Nicht nur in Teilen Mecklenburg-Vorpommerns und Sachsens bauten in dieser Zeit neonazistische Kameradschaften eine rechtsradikale Parallelkultur auf, insbesondere in der Sächsischen Schweiz. Zeitgleich entwickelte der rechtsterroristische Nationalsozialistische Untergrund (NSU) seine Wurzeln im Geflecht derartiger Gruppierungen in Thüringen. Ausländerfeindliche Gewalttaten gehör(t)en bis in die Gegenwart zum Alltag, im Jahr 2015/16 war ihr Anteil im Osten mehr als doppelt so hoch wie im Westen Deutschlands.
Als 2015 die Zahl von nach Deutschland Flüchtenden rapide wuchs, schürten Rechtspopulisten und Rechtsextremisten erneut Fremdenängste. Allerdings ist es keineswegs selbst erklärend, warum daraus ein rechts-konnotiertes Protestverhalten herrührt, das sich zudem gegen eine in Ostdeutschland eher kleine Minderheit richtet.
Auf der Suche nach historischen politisch-kulturellen Faktoren
Daher ist die Frage berechtigt, ob nicht auch andere, wie historische politisch-kulturelle Faktoren die politische Grunddisposition mitprägen, die bisher weniger beachtet wurden. Die Münchener Wissenschaftler Davide Cantoni, Felix Hagemeister und Mark Westcott überrascht diese Entwicklung nicht. In ihrer erstaunlich wenig beachteten Untersuchung „Persistence and Activation of Right-Wing Political Ideology“, vorgestellt in der ZEIT vom 15. Februar 2019, zeigen sie auf, dass regionale Erfolge der AfD in ganz Deutschland mit einstigen Wahlerfolgen der NSDAP korrelieren. Es zeigt sich ein signifikanter Zusammenhang zwischen dem regionalen historischen Wahlverhalten zugunsten der extremen Rechten und heutigen Erfolgen der AfD. Dieser Zusammenhang ist in der ehemaligen sowjetischen Zone deutlich höher, als in den ehemals amerikanischen und britischen. Auch Faktoren wie die Arbeitslosen- und Ausländerrate sowie die wirtschaftliche Situation in der Region wurden als Variablen in die statistische Auswertung einbezogen. Doch nicht nur sie, sondern auch die historische Tradition wurde zum Kriterium für den Befund, den Davide Cantoni in seinem ZEIT-Gespräch wie folgt zusammenfasste:
„Wo die NSDAP erfolgreich war, ist es heute die AfD. Das erklärt natürlich nicht den ganzen Wahlerfolg der AfD. Aber es ist ein wichtiger Faktor, ähnlich wichtig wie andere Erklärungen, die man bislang oft hören konnte: Arbeitslosigkeit, Verlust von gut bezahlten Jobs im Industriesektor, Unsicherheit wegen der Zuwanderung […] Unsere Hypothese, dass da eine kulturelle Tradition von rechtsgerichtetem, rechtspopulistischem Denken eine Rolle spielt, ist ein Teil zur Lösung dieses Puzzles. Nicht das größte Teil, aber ähnlich wichtig wie die anderen genannten Faktoren“.
Auf die Frage, was AfD-Wähler gewählt hätten, bevor die AfD als Partei kandidierte, antwortete Cantoni:
„Gar nicht. Ein großer Teil der AfD-Stimmen kommt von Nichtwählern. Auch da sehen wir eine Korrelation. Orte, die in den Dreißigerjahren Nazihochburgen waren, hatten lange Zeit eine eher niedrige Wahlbeteiligung. In diesen Orten ging die Wahlbeteiligung dann zwischen 2013 und 2017 hoch, zugunsten der AfD, während in Deutschland als Ganzes die Wahlbeteiligung eher abnahm“.
Auch der Journalist Sven Felix Kellerhoff folgt neuerdings dieser Spur. Er beschrieb am 12. Mai 2019 in der WELT, wie die NSDAP in Sachsen bei der Reichstagswahl vom 12. Mai 1929 als Protestpartei ihren Stimmanteil verdreifachen konnte und zitiert den damaligen SPD-Reichstagsabgeordneten Carlo Mierendorff:
„Die NSDAP mobilisiert vor allem Nichtwähler, ja sie ist geradezu die ,ideale‘ Partei der Nichtwähler.“
In Interviews mit jungen Rechten Verweise auf Haltung der Großelterngeneration
Ich selbst führte 1995 im Auftrag der Redaktion „Klartext“ des Ostdeutschen Rundfunks Berlin Brandenburg (ORB) im Zuge einer Reportagereise durch Ostbrandenburg Interviews mit jungen, rechtsextremen Skinheads, aus denen sich deutliche Indizien ergaben, dass Einstellungen der Großelterngeneration, verstärkt durch Vertriebenen-Erfahrungen bei Kriegsende im Familiendiskurs stark auf die Enkel „abgefärbt“ hatten.
Schon damals wiesen wir darauf hin, dass in der Region des heutigen Brandenburg Ende der Weimarer Republik, abgesehen von einigen sozialdemokratisch geprägten Arbeiterzentren, die Parteien rechts der Mitte schon 1932 sehr erfolgreich waren. Nimmt man die Spur wieder auf, zeigt sich, dass regionale Schwerpunkte der AfD-Wahlerfolge wie in Südost-Brandenburg, dem Erzgebirge oder in Ostsachsen auffällig mit damaligen Erfolgen der NSDAP bzw. der Harzburger Front aus NSDAP, DNVP und nationalistischen Kampfverbänden korrelieren, die Anfang 1933 an die Macht kam. Dies zeigen besonders deutlich die Sommerwahlen vom Juni 1932, die Hitler nach der Weltwirtschaftskrise auf dem Weg zur „Machtergreifung“ einen erdrutschartigen Erfolg brachten.
Sogar im vorgeblich „roten“ Sachsen“, erzielte die NSDAP damals 41,3 Prozent der Stimmen. Die NS-Bewegung war in diesem bevölkerungsstarken Land sogar erfolgreicher als in der NS-Hochburg Franken. Schon früh war Sachsen eines der „wichtigsten regionalen Zentren“ der noch jungen NS-Bewegung, beim Versuch sich von Bayern her auf das Reich auszudehnen. Zu fragen ist daher, ob die politischen Mentalitäten aus der Zeit vor 1933, in freilich deutlich modifizierter Form, bis heute weiter wirken.
Veraltetes Klischee vom „roten Mitteldeutschland“.
Dass die Fragen nach möglichen historischen Kontinuitäten von Rechtstendenzen in Ostdeutschland spät aufkommen, ist auch Folge von vorurteilsähnlichen Klischees wie dem „roten Mitteldeutschland“, aber auch der Forschungsentwicklung.
Vor der deutsch-deutschen Wiedervereinigung galt das Interesse der altbundesrepublikanischen Geschichtswissenschaft lange vor allem Wähler-Hochburgen der nationalsozialistischen Bewegung in Schleswig-Holstein, Teilen von Niedersachsen und Franken. Der Blick galt nicht so sehr den östlich der Elbe- und Harzlinie gelegenen Regionen, obwohl von den fünf Ländern, in denen die NSDAP schon vor 1933 an der Regierung beteiligt war, drei im heutigen Ostdeutschland lagen: Anhalt, Mecklenburg-Strelitz und der „Mustergau“ Thüringen.
Das wahre Ausmaß des Rechtsrucks gegen Ende der Weimarer Republik wird im damaligen Mitteldeutschland zudem erst deutlich, wenn man den Fokus auch auf den wichtigsten Bündnispartner in der Harzburger Front legt, die im Westen nur relativ schwach vertreten war. Dagegen konnte die Deutsch-Nationale Volkspartei (DNVP) in der Mitte und im Osten des Deutschen Reiches stark punkten. Die Partei war gegen Ende der Weimarer Republik durch ihre völkischen, antidemokratischen, antimarxistischen und antisemitischen Positionen so weit nach rechts gerückt, dass sie wie die NSDAP zur extremen Rechten zu zählen ist. Mit einer eher als Honoratiorenpartei agierenden DNVP und der militanteren, jüngeren und „moderneren“ NSDAP gewann die Rechte 1932 fast überall im heutigen Ostdeutschland.
Erst in ihrer Summe „kippten“ bei der Wahl im Sommer 1932 beide Rechtsparteien einige Wahlkreise. Mitte 1932 holten die Nazis beispielsweise in Sachsen mit 28,4 Prozent deutlich mehr als die SPD, aber weniger als die beiden Arbeiterparteien (SPD und KPD) zusammen (45,8 Prozent). Mit der Deutsch-Nationalen Volkspartei gemeinsam gelang es, in Sachsen eine, wenn auch hauchdünne, Mehrheit gegenüber den Arbeiterparteien zu erzielen. Auch im Wahlkreis Merseburg kam die NSDAP allein nur auf 42,6 Prozent, zusammen dominierten die beiden Parteien der Harzburger Front mit 50,6 Prozent. Von den 18 Wahlkreisen im Reich, in denen die NSDAP mit ca. 39 Prozent bis ca. 50 Prozent am erfolgreichsten war, lagen acht im heutigen Ostdeutschland: Pommern, Frankfurt/Oder, Chemnitz-Zwickau, Merseburg, Magdeburg, Mecklenburg, Thüringen, Dresden-Bautzen.
Gemeinsam gewann die Harzburger Front bei den Sommerwahlen 1932 auf dem Gebiet des heutigen Ostdeutschland Mitte 1932 sogar alle Wahlkreise bis auf Berlin, Potsdam II, Leipzig, und Dresden-Bautzen. Prozentual am Erfolgreichsten war die Rechte im Deutschen Reich nicht in Schleswig-Holstein, sondern mit 63,7 Prozent im dünn besiedelten Pommern, einer DNVP-Hochburg (15,8 Prozent). Hier hatte die Rechte die langanhaltende Agrarkrise mit vielen Hofkonkursen per professioneller Landagitation als Folge der „jüdischen Zinsknechtschaft“ umgemünzt. Auch die Nähe zu Polen, die Konkurrenz zu polnischen Landarbeitern und die Gegnerschaft zur linken Arbeiterbewegung und kommunistischen Agitation und wirkte hier.
Das Bild vom einstigen 'roten Mitteldeutschland' hat lange den Blick auf diese braunen Traditionen in Mitteldeutschland verstellt. Das heutige Ostdeutschland war damals stärker industrialisiert als Deutschland im Durchschnitt, hier stand die Wiege der Arbeiterbewegung, sowohl der sozialdemokratischen als auch der kommunistischen. Industrielle Ballungszentren wie Berlin, Leipzig, Chemnitz, Magdeburg und das Chemiedreieck zwischen Halle, Merseburg und Bitterfeld galten auch als Hochburgen der Arbeiterbewegung. Allerdings ist heute gut belegt, dass es der NSDAP Anfang der 1930er Jahre gelang, auch zu gut einem Viertel in die Arbeiterschaft einzudringen. Regionale Vergleiche legen die Vermutung nahe, dass sich Gegenden wie beispielsweise der Raum Leipzig mit seiner länger wirkenden Arbeiterkultur als resistenter erwiesen.
Unter den Wählern der NSDAP: Kleinbürger, Landbevölkerung und Protestwähler
Dagegen gelang es der Rechten in der im 20. Jahrhundert schnell gewachsenen lange unruhigen Chemieregion Merseburg Erfolge zu erzielen; ebenso in Regionen mit Heimarbeit und kleinindustrieller traditioneller Fertigung. Kleinbürgerliche und ländliche Wähler dominierten zwar das Wählerpotential der NSDAP, dennoch wird sie eher als „Volkspartei des Protestes“ charakterisiert, der es mit vergleichsweise modernen Wahlkampfmethoden gelang, breite Schichten zu mobilisieren.
Offenbar war es auch die Frontstellung gegenüber dem „marxistischen“ Lager, das den Rechtstrend begünstigte. So lagen Hochburgen der Harzburger Front in Anhalt, Thüringen und Westsachsen in der Nähe zur mitteldeutschen Chemie- und Bergbauregion, in der radikale und kommunistische Kräfte, angestachelt aus Moskau, 1921 versuchten, einen Räteputsch zu organisieren. Parallelen gibt es beim „roten Berlin“, dessen ländliches Unland zu schwarz-braun tendierte; ebenso im damaligen „Manchester des Ostens“, in Chemnitz. In der Industriestadt selbst dominierten auch 1932 weiterhin die Arbeiterparteien, während schon einige Kilometer südlich, Richtung Erzgebirge, die NSDAP Spitzenwerte erzielte. Dort waren die Betriebsgrößen kleiner, Heimarbeit verbreitet, die Industrie veraltet, die Arbeitslosigkeit höher, und sie dauerte länger als im Reichsdurchschnitt, so dass die Region zum „Notstandsgebiet“ erklärt werden musste. In Orten wie Annaberg, Marienberg, Plauen erzielte die NSDAP über 50 Prozent, in Auerbach sogar 58 Prozent.
Ist es, so muss man fragen, nur ein Zufall, dass auch heute im Erzgebirgskreis I Hochburgen der AfD wie Annaberg, Schwarzenberg, Tannenberg, Aue, Johanngeorgenstadt oder Deutschneudorf liegen, wo die AfD bei der sächsischen Landtagswahl 2019 sogar 39,5 Prozent der Stimmen errang. Dieser ländlich-kleinstädtische Erzgebirgskreis rangierte schon bei den Bundestagswahlen 2017 über dem Landesdurchschnitt der AfD, während die Städte Chemnitz und Zwickau darunter liegen, ein Muster, das dem in den 1930er Jahren ähnelt.
Natürlich wirft die These, dass frühere rechte Prägungen in einer Region bei heutigen Wahlergebnissen noch eine gewisse Rolle spielen könnten, Fragen auf.
Viele AfD-Wähler verwahren sich dagegen, mit „Nazis“ gleichgesetzt zu werden. Natürlich unterliegen Einstellungen im Laufe der Zeit einem Wandel. Die politischen Vorstellungen der NSDAP-Wähler von 1932 dürfen zudem nicht ahistorisch mit unserem heutigen Wissen über den Fortgang des NS-Staates gleichgesetzt werden. Hitler ließ damals freilich nicht über den Holocaust und den zweiten Weltkrieg abstimmen. Er fand Widerhall mit einer eher diffusen, regional unterschiedlich akzentuierten, völkisch-nationalistischen, antimarxistischen, antisemitischen und gegen das „System“ gerichteten Haltung, die bei vielen gut ankam, die kein Vertrauen mehr in die erst eineinhalb Jahrzehnte währende Demokratie hatten. In dieser Diffusität gibt es dann doch zumindest „Wahl“-Verwandtschaften zu betont nationalen, ethnozentristischen, ausländerfeindlichen und pauschal „System“-kritischen Haltungen, wie sie heute von Rechtspopulisten vertreten werden.
Die zweite gravierende Frage könnte lauten, ob es neben dem Wandel, den historisch-politischen Zäsuren, überhaupt Einstellungs-Kontinuitäten wirken können. Schließlich liegen zwischen der Juni-Wahl von 1932 und heute fast 90 Jahre und gleich drei Systemumbrüche. Neben diesen politischen Veränderungen gab es große Migrationsbewegungen. Zum einen schuf die DDR neue industrielle Zentren wie beispielsweise Hoyerswerda. Zum anderen verlor sie, allein vor dem Mauerbau mehrere Millionen Einwohner, die in den „Westen“ gingen. Diese Abwanderung wurde in der sowjetischen Besatzungszone (SBZ) beziehungsweise der DDR durch Flüchtlinge aus den ehemals deutschen Ostgebieten kompensiert, die nicht selten auf dem Weg Richtung Westen auf dem Gebiet des heutigen Ostdeutschland verblieben. Dies war ein Bevölkerungsteil, der nicht nur ein Vertreibungstrauma erlebt, sondern 1932 mehrheitlich mindestens ebenso rechts gewählt hatte wie die Mitteldeutschen. Unter den zwölf Wahlkreisen mit den meisten Anhängern der Harzburger Front befanden sich 1932 alle bis auf einen östlich der Elbe-Harzlinie: in Pommern, Schlesien, Ostpreußen und Frankfurt/Oder. Nur das katholische Ostschlesien wich von diesem Befund ab. Die Ostflüchtlinge, Übersiedler genannt, waren in der DDR fast ein Tabu-Thema, aber sie hinterließen deutlich Spuren.
Als 1953 beispielsweise die Arbeiter auf der Großbaustelle am künftigen Stahlstandort Eisenhüttenstadt streikten, forderten sie auch die Rücknahme des Görlitzer Vertrages. Die DDR hatte bekanntlich kurz zuvor gegenüber Polen die Oder-Neiße-Linie und damit den Verlust ehemals deutscher Ostgebiete anerkannt. Auf der Baustelle in Sichtweite zu Polen arbeiteten aber in großer Zahl Heimatvertriebene, die sich mit der „Verzichtspolitik“ der SED nicht abfinden wollten.
Fortgesetzte Familiennarrative aus dem Dritten Reich?
Auch in meiner anfangs erwähnten Fernsehreportage Mitte der 1990er Jahre konnte ich in den Gesprächen mit rechtsextremen Skinheads entlang der Oder-Neiße-Linie in Brandenburg feststellen, wie sehr die Erfahrungen von Krieg und Vertreibung noch ihre Familiennarrative beeinflussten. Versuche der DDR-Führung, eine ritualisierte Form der Aussöhnung „von oben“ mit den polnischen Nachbarn zu pflegen, waren vor diesem Hintergrund weitgehend abgeprallt. Bereits Formulierungen wie „der Russe“ oder „der Pole“ in den Interviews waren Indizien für einen gespaltenen Diskurs, bei dem im dörflichen Milieu anders gesprochen wurde, als es die damalige Regierung eigentlich verordnet hatte.
Auch die Autorin Ines Geipel hat jüngst auf die Bedeutung der Sozialisation durch die Familie in der DDR hingewiesen. Trotz Migration und dem Wandel des politischen Systems und sozialer Veränderungen dürften, das wäre genauer zu untersuchen, durch familiären oder privaten Austausch ältere Haltungen tradiert worden sein. Dass nationalsozialistische Prägungen 1945 nicht einfach verschwanden, sondern trotz des antifaschistischen Anspruches der regierenden Kommunisten auch in der DDR weiterlebten, ist heute vielfach nachgewiesen. Hier nur eine Auswahl:
In der Nationalen Volksarmee (NVA) mussten immer wieder neonazistische Vorfälle registriert werden. Schändungen von jüdischen Friedhöfen gab es in der DDR zahlreich, wenn auch lange nicht publik. Von den 361 Meldungen wegen staatsfeindlicher Hetze, die das MfS zwischen 1986 bis 1988 in der Zentrale aufbereitete, hatten rund 20 Prozent (absolut 73) einen rechtsradikalen und/oder xenophoben Hintergrund.
Selbst Eingaben der Bevölkerung an die SED-Führung, enthielten nicht selten Formulierungen oder Symbole, die auf einen rechtsradikalen oder ausländerfeindlichen Hintergrund der Briefeschreiber schließen ließen. Rechtsradikale Tendenzen wurden in der DDR bekanntermaßen lange verschwiegen, bis Publikationen in Samisdat- und Kirchenblättern und ein spektakulärer Skinhead-Überfall 1987 in Ostberlin, die SED-Führung zum Umdenken zwangen. Fortan wurden demonstrativ harte Strafen gegen rechte Jugendgruppierungen verhängt.
Der Historiker Harry Waibel hat 2013 dutzende Beispiele von ausländerfeindlichen, zuweilen gewalttätigen, sogar tödliche Attacken gegen Ausländer in der DDR dokumentiert. Erstaunlicherweise wichen Staat und Polizei nicht selten zurück, verlegten Ausländerwohnheime nach solchen „Bürgerprotesten“. Manche Anschläge sind heutigen auf Ausländereinrichtungen erschreckend ähnlich. In Niesky im Bezirk Dresden gingen 1987 ca. 30-100 Einheimische und 25 Arbeiter aus Mozambique mit Zaunlatten aufeinander los. Parolen, wie „Tod den Niggern“ tauchten auf. Als Rechtfertigung wurden von den beteiligten DDR-Bürgern Gerüchte über Vergewaltigungen durch die Schwarzafrikaner genannt. Es gab im Lande des vermeintlichen Ideologie-Monopols der SED sogar informelle rechte Zusammenschlüsse. In Westsachsen existierte in den 1960ern ein „Großdeutscher Geheimbund“, der im Raum Oelsnitz faschistische Symbole und Losungen verbreitete und sich gegen die DDR und die sowjetischen Soldaten richtete. In Radebeul bildete sich in den 1970er Jahren eine Wehrsportgruppe, in Riesa in den 1980ern eine Gruppe, die sich „Volkssturm Poesnitz“ nannte und mit dem Hitlergruß begrüßte, Parallelen zu heutigen Kameradschaften sind augenfällig.
NPD Parole Wir sind das Volk (2006)
Vorreiter von AfD und Pegida: NPD-Aufzug in Rostock 2006 mit vereinnahmter Parole aus der Friedlichen Revolution.
Vorreiter von AfD und Pegida: NPD-Aufzug in Rostock 2006 mit vereinnahmter Parole aus der Friedlichen Revolution.
Das Weiterwirken rechten Gedankengutes – trotz staatlicher Ächtung – ist also in der DDR inzwischen gut nachweisbar.
Wenn nun von weiterwirkenden politisch-kulturellen Mentalitäten ausgegangen wird, kann dies nicht bedeuten, monokausal und schematisch Hochburgen der AfD allein aus der NS-Geschichte abzuleiten. Regionale Entwicklungen und Unterschiede sind zu beachten. Die früher deutlich schwarz-braune Prignitz im Nordwesten Brandenburgs hat beispielsweise 2017 eher weniger AfD gewählt als andere Regionen in Brandenburg. Die Prignitz liegt nah am Westen, ist mit ihm gut verkehrsmäßig verbunden, was den Austausch und die Arbeitsmigration erleichtert. Auch in Mecklenburg-Vorpommern, wo die Harzburger Front 1932 auf hohe Werte kam, konnte die AfD im Jahr 2017 mit 18,6 Prozent weniger punkten, als in Sachsen, möglicherweise eine Folge des Tourismus und der vielfältigen Verkehrsverbindungen des Ostseeanrainerlandes.
Allerdings zeigen auch die Prignitz und Mecklenburg-Vorpommern bei den AFD-Ergebnissen von 2017 im Sinne einer Kontinuitätsthese Werte deutlich über dem Durchschnitt auf dem Gebiet der Altbundesrepublik. Auffällig viele ostdeutsche AfD-Hochburgen liegen in Nähe der Grenze zu mittelosteuropäischen Staaten. Wenn auch nicht eindimensional, erzielt die AfD laut einer Studie heute Erfolge vor allem in Regionen, wo die Bevölkerung durch Fortzüge oder mangelnde wirtschaftliche Prosperität ausgedünnt, handwerklich geprägt ist, und wo eine ältere, männliche Bevölkerung überproportional dominiert. Es bedarf detaillierter regionaler Studien, um zu erhärten, ob Faktoren wie Binnenmigration, lokale Themen oder Persönlichkeiten, die Nähe zum Westen, zu Grenzen oder die wirtschaftliche, soziale und Arbeitsmarkt-Situation, usw. das Wählerverhalten beeinflusst haben könnten.
Erklärungsbedürftig ist auch, warum die AfD im Osten Deutschlands durchschnittlich eine deutlich höhere Akzeptanz hat als im Westen. Dass der Rechtstrend in Mitteldeutschland schon 1932 eindeutiger war als im Westen mit seinen großen katholisch geprägten Regionen, kann allenfalls ein Faktor sein.
Anders als in der DDR machten in der alten Bundesrepublik die Menschen schon frühzeitig und lange die Erfahrung, dass Weltoffenheit, Demokratie und Wohlstand für die meisten Hand in Hand ging. In Ostdeutschland gab es nach der Vereinigung 1990 zwar eindeutige Fortschritte bei Wohnen, Infrastruktur, sozialer Absicherung, usw., aber Helmut Kohls Wohlstandsversprechen wurde nach 1990 keineswegs kontinuierlich für alle Regionen, Schichten und Individuen gleichermaßen eingelöst. Die ostdeutschen Einkommen sind im Schnitt nominell nach wie vor um durchschnittlich 23,9 Prozent niedriger.
Unterschiedlich intensive Aufarbeitung des Dritten Reichs
Ein weiterer Grund für unterschiedliche Entwicklungen ist in der Art der Vergangenheitsaufarbeitung zu suchen. Die SED-Führung definierte den Faschismus als extreme Form des Kapitalismus und wähnte ihn daher auf Grund ihrer radikalen Wirtschaftsreform und einer harten, aber kurzen Phase der Entnazifizierung als ausgemerzt. Die Nazis saßen demzufolge angeblich nur im Westen. Durch diese Externalisierung des NS-Problems sprachen die herrschenden Kommunisten große Teile der eigenen Bevölkerung von persönlicher Verantwortung frei, die Hitler an die Macht gewählt und dann unterstützt hatten.
In ostdeutschen Heimatarchiven sind heute leicht Fotos von hakenkreuzgeschmückten ostdeutschen Marktplätzen zu finden oder solche von Ortsschildern, in denen sich ostdeutsche Kommunen für „judenfrei“ erklärten. In der antifaschistischen DDR blieben derartige Dokumente der Verstrickung unter Verschluss. Es war die Anpassung an die sozialistischen Gegebenheiten, die exkulpierte. Mitunter galt der Stasi eine IM-Verpflichtung ironischerweise als „Wiedergutmachung“. Auch die SED nahm zu einem nicht unbeträchtlichen Anteil ehemalige Nazis auf.
NS-Verstrickungen der Deutschen Bevölkerung und Haltungen, die den Nationalsozialismus begünstigt hatten, wurden daher eher im Westen in verschiedenen Wellen von der Frankfurter Schule, den Auschwitzprozessen bis zur Reichswehrausstellung zum Thema, wo freie Meinungsbildung und Kontroversen, auch internationale Diskurse möglich und weitgehend risikolos waren. Derartige Unterschiede blieben bei der Wiedervereinigung zunächst verdeckt. Die Friedliche Revolution adelte binnen kurzem die ostdeutsche Bevölkerung als demokratisch. Dabei wurden nationalistische Töne überhört, wie sie besonders im Süden der ehemaligen DDR auf Montagsdemonstrationen gelegentlich deutlich ertönten. Das rechte Potenzial ging damals im nationalen Überschwang auf und wurde erst sichtbarer, als die harten sozialen Folgen des Systembruchs von 1989/90 spürbar wurden.
Wenn es zutrifft, dass rechtsextremistische Tendenzen und der heutige Rechtspopulismus in Ostdeutschland neben jüngeren Ursachen auch historische Wurzeln in der Zeit vor 1945 haben, wäre dies eine Herausforderung sowohl für die Geschichtswissenschaft wie für die Aufarbeitung und die politische Bildung.
Auch die SED-Legende vom angeblich „faschistischen Putsch“ am 17. Juni 1953, erschiene möglicherweise weniger als eine reine Propagandalüge, sondern als eine vollkommen überzogene Projektion der kommunistischen Elite, die sich, selbst vom NS verfolgt, nach wie vor im alten Feindesland von 1932/33 wähnte.
Die historische Aufarbeitung, die bislang überwiegend die undemokratischen Seiten des SED-Staates aufdeckt, müsste sich fragen, ob es angesichts unbearbeiteter tiefer wurzelnder politisch-kultureller Einstellungen, nicht angebracht wäre, sich stärker der verwobenen Geschichte beider Diktaturen zu widmen.
Zitierweise: "Braune Wurzeln? Thesen zu den Erfolgen des Rechtspopulismus im Osten“, Christian Booß, in: Deutschland Archiv, 4.9.2019, zuletzt ergänzt am 19.4.2024. Link: www.bpb.de/296068
Dr. Christian Booß ist Historiker und Journalist und war bis 2018 Projektkoordinator in der Abteilung Bildung und Forschung der Stasi-Unterlagen-Behörde. Seit September 2016 ist Booß Vorsitzender des Aufarbeitungsvereins "Bürgerkomitee 15. Januar e.V." in Berlin-Lichtenberg.
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