Wer war Opfer des DDR-Grenzregimes?
Wie lässt sich die Zahl der Mauertoten ermitteln? Und die Opferzahl am Eisernen Vorhang? Ansichten zu einem umstrittenen Thema
Holger Kulick
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Eine Studie des Forschungsverbunds SED-Staat hat 2018 eine Kontroverse ausgelöst. Wer war Opfer des DDR-Grenzregimes? Nur Flüchtlinge, die auf ihrer Flucht ihr Leben verloren? Oder auch Grenzer, die im Dienst Selbstmord begangen? Ein Historikerstreit im Deutschland Archiv. Und eine kontinuierlich fortdauernde Opfererfassung.
Wissenschaftler*innen streiten, ob auch Menschen, die schon vor dem Mauerbau beim Passieren der innerdeutschen Grenze aus unterschiedlichen Gründen gewaltsam zu Tode kamen, "Opfer des DDR-Grenzregimes" sind. Diskutiert wird auch, wie der Tod von Grenzern zu bewerten ist, die im direkten oder indirekten Zusammenhang mit ihrem Dienst an der Grenze ihr Leben verloren oder sich das Leben nahmen.
Daher gibt es bislang keine abschließende Berechnung, wie viele Menschen durch das Grenzregime zu Tode gekommen sind, zumal auch viele Todesfälle von SED und Stasi Interner Link: vertuscht oder verschleiert wurden oder die Quellenlage bis heute unzureichend ist. 2021 wurde laut Externer Link: Bundesregierung von "mindestens 260" Todesopfern an der innerdeutschen Grenze und "mindestens 140" an der Berliner Mauer ausgegangen, die mit eindeutigem Bezug zum Grenzregime ihr Leben verloren, hinzuzurechnen sind weitere DDR-Flüchtlinge, die bei Fluchtversuchen in der Ostsee starben und am Eisernen Vorhang (in Bulgarien, Polen, Rumänien, der CSSR).
Gibt es aber noch mehr Fallkategorien, die diskutiert werden müssten? Davon geht ein Autorenteam aus dem Forschungsverbund SED-Staat an der Freien Universität (FU) Berlin aus, das schon 2017 bei seiner Zählung auf nicht 260, sondern 327 Todesopfer kam, die im Zusammenhang mit dem innerdeutschen Grenzregime ihr Leben verloren.
Zitat
Inzwischen, Stand 15.11.2023, gibt es aktualisierte Zahlen des Forschungsverbands, die auch einbeziehen, wie viele Ostseeflüchtling aus der DDR (135), und wie viele DDR-Flüchtlinge nachweisbar am Eisernen Vorhang in osteuropäischen Nachbarstaaten der DDR ums Leben kamen (58). Insgesamt wurden somit bislang 429 Todesfälle von DDR-Bürgerinnen und Bürgern bei Fluchtversuchen erfasst, das Durchschnittsalter der Betroffenen betrug 25 Jahre. 89 Prozent von ihnen waren männlich. Gesamtzahlen über die bei Fluchtversuchen Verletzten oder Verhafteten gibt es noch nicht. Interner Link: Hier die derzeit aktuellste Statistik (PDF), mit Stand vom 15.11.2023.
Möglicherweise lässt sich auch unter WissenschaftlerInnen nie auf einen absolut gemeinsamen Nenner kommen, wer genau in welche Opferkategorie und Statistik gehört, die Frage ist auch, hilft die Suche nach der absoluten Zahlen-Präzision wirklich weiter? Denn unmenschlich war das DDR-Grenzsystem allemal, nicht nur gegenüber Fluchtwilligen, sondern auch gegenüber Grenzern, die einem enormen autoritären Druck ausgesetzt waren, im Zweifel auf Mitmenschen schießen zu müssen. Nur hartgesottene Feindbildträger hielten das seelisch aus.
Entsprechend mehr Differenzierung ist für die Gesamtanalyse der DDR-Grenzsicherung wichtig, wenn es darum geht deren Grundfunktion herauszuarbeiten. Schlichtweg Angst sollte einschüchternd und abschreckend erzeugt werden, das denjenigen, die flüchten wollten, eine harte Bestrafung drohte, bis hin zum Tod. Insofern war das Grenzsystem ein zentrales Instrument zum Machterhalt der SED, in gewisser Weise ähnlich wie die Geheimpolizei Stasi, deren "größte Macht", so der Liedermacher Wolf Biermann, "die Angst der Leute war, die sie vor ihr hatten". Stasi und Grenzregime waren somit disziplinatorische "Angsterzeuger", und damit von grundlegender Funktion zur Stabilisierung des SED-Herrschaftssystems – zwei bewusst hässliche Säulen der Macht.
Erste ausführliche Forschungsberichte 2017
Aber zurück zum "Zahlen- und Kategorisierungsstreit". Mit dem Recherchestand vom 1. Januar 2017 hatten Professor Klaus Schroeder und Dr. Jochen Staadt eine Studie unter dem Titel "Die Todesopfer des DDR-Grenzregimes an der innerdeutschen Grenze 1949-1989" erarbeitet. Dieses 684-seitige Buch des FU-Forschungsverbundes SED-Staat mit seinen (damals) 327 Fallbeispielen erschien Ende 2017.
Die ausführliche Falldokumentation wurde finanziell unterstützt durch die Bundesbeauftragte für Kultur und Medien und mehrere Bundesländer, und wurde auch in das Diskussionsangebot der bpb zu diesem Themenfeld aufgenommen.
Die wesentlichen Inhalte fassten im August 2019 als Auftakt zu dieser Debatte im Deutschland Archiv Dr. Jochen Staadt und Dr. Jan Kostka zusammen, sie gaben darin einen Interner Link: Überblick, wer aus Sicht des Externer Link: Forschungsverbundes der Freien Universität Berlin Aufnahme in die Studie "Die Todesopfer des DDR-Grenzregimes an der innerdeutschen Grenze 1949-1989" fand, inzwischen ergänzt durch ein Webprojekt von Uni-Greifswald und dem Forschungsverbund SED-Staat der FU, das getötete DDR-BürgerInnen entlang des "Eisernen Vorhangs" erfasst (Externer Link: www.eiserner-vorhang.de).
Doch die Zählweise des Forschungsverbunds SED-Staat weckte Widerspruch, denn ein Teil der aufgeführten Fallbeispiele war und ist aus Sicht anderer Wissenschaftler umstritten. Dies machte 2018 die rbb-Journalistin Gabi Probst zum Thema. Sie wollten wissen, ob in der Zeit von 1949 bis 1989 wirklich 327 Menschen im Zusammenhang mit dem Grenzregime der DDR gestorben sind, wie es in der Studie hieß. Ihre Recherchen mündeten im November 2018 in einem Beitrag im ARD-Mittagsmagazin Externer Link: "DDR-Grenztote: Muss Zahl nach unten korrigiert werden?". Ein Externer Link: Folge-Beitrag wurde im April 2019 ausgestrahlt. Er berichtete von einer Veranstaltung mit der damals amtierenden Kulturstaatsministerin Monika Grütters zu der Studie.
Wissenschaftliche Interner Link: Kritik formulierte im August 2019 Dr. Michael Kubina ("Eine andere Sicht") im Deutschland Archiv, der anfangs kurzzeitig an der Erarbeitung der Studie beteiligt war. Auf dessen Kritik folgte im November 2019 Interner Link: eine Entgegnung des Kritisierten, Dr. Jochen Staadt ("Nicht nur Heldengeschichten beschreiben"). Daraufhin erfolgte im April 2020 eine Interner Link: weitere Kritik Dr. Kubinas ("Begriffliche Unklarheiten") und im Mai 2020 eine Interner Link: erneute Reaktion von Dr. Staadt, der diese Kritik zurückwies ("Es geht um Schicksale, nicht Begriffe").
Die Redaktion des Deutschland Archiv setzt diese Debatte fort und führte gemeinsam mit der Stiftung Berliner Mauer Ende Mai 2024 eine rein wissenschaftliche Fachtagung zu diesem Thema im 35. Jahr des Mauerfalls durch. Ziel ist es, aus allen vorliegenden Forschungsarbeiten einen Grundkonsens zu erarbeiten, welche Kategorisierungen und Opferzahlen am verlässlichsten sind. Über die Beratungen und das Ergebnis werden wir hier demnächst ausführlich berichten. (hk)
Journalist und ehemaliger Mitarbeiter der Öffentlichkeitsarbeit des Bundesbeauftragten für die Stasi-Unterlagen (BStU), Berlin. Seit 2020 Redakteur beim Deutschland Archiv.
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