Todesopfer des DDR-Grenzregimes. Eine Recherche
Todesfälle an der innerdeutschen Grenze 1949 bis 1989
Jochen StaadtDr. Jan KostkaJochen Staadt / Jan Kostka
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Schon vor dem Mauerbau 1961 kamen Menschen an der innerdeutschen Grenze gewaltsam ums Leben. Weitere Todesopfer gab es innerhalb der Grenztruppen der DDR. Der Forschungsverbund SED-Staat an der Freien Universität Berlin ist dabei, alle Todesfälle zu erfassen, die zwischen 1949 und 1989 direkt oder indirekt durch das DDR-Grenzregime verursacht wurden. Zunächst wurden in einem Buch 327 Schicksale von Männern, Frauen und Kindern beschrieben, die an der Westgrenze der DDR ums Leben kamen. Ein Überblick von Dr. Jochen Staadt und Dr. Jan Kostka.
2017 erschien das biografische Handbuch des Forschungsverbundes SED-Staat an der FU Berlin “Die Todesopfer des DDR-Grenzregimes an der innerdeutschen Grenze 1949-1989“. Die 682 Seiten umfassende Publikation wurde Ende 2017 auch in der bpb-Schriftenreihe (Band 10119) veröffentlicht. Das Projekt dokumentiert mit Forschungsstand vom 1. Januar 2017 die Lebensgeschichten und Todesumstände von 327 Männern, Frauen und Kindern, die dem DDR-Grenzregime im Zeitraum von Oktober 1949 bis Oktober 1989 zum Opfer fielen. Dabei handelt es sich um 238 Todesfälle im innerdeutschen Grenzgebiet, um 25 im Dienst getötete DDR-Grenzer, um 21 Todesfälle im kausalen Zusammenhang des DDR-Grenzregimes sowie um 43 Selbsttötungen von Grenzpolizisten und Grenzsoldaten, die aus Sicht des Forscherteams einen dienstlichen Bezug aufweisen.
Die meisten Todesfälle an der innerdeutschen Grenze sind der Anwendung von Schusswaffen durch sowjetische Grenzstreifen, die DDR-Grenzpolizei und seit 1961 die NVA-Grenztruppen geschuldet.
Schon unmittelbar nach der Aufteilung Deutschlands in Zonen hatte die sowjetische Besatzungsmacht mit der Kontrolle ihrer Westgrenze begonnen und in der Sowjetischen Besatzungszone (SBZ) eine deutsche Grenzpolizei aufgestellt, in der über 10.000 Männer ihren Dienst verrichteten. Mit Staatsgründung der DDR am 7. Oktober 1949 erhöhte die DDR-Regierung den Stellenplan der „Hauptverwaltung Deutsche Grenzpolizei“ kontinuierlich. Der erste Todesfall durch einen Schusswaffeneinsatz der Deutschen Grenzpolizei nach der DDR-Gründung ereignete sich am 16. Oktober 1949. Grenzpolizisten schossen an diesem Tag auf Karl Sommer aus Thüringen, der für seine Familie in Bayern Lebensmittel besorgt hatte und sich auf dem Rückweg in seine Heimatstadt Haselbach befand. Karl Sommer erlag den Folgen seiner Schussverletzung noch auf bayerischem Gebiet.
Das jüngste aus dem Archivgut ermittelte Todesopfer war ein im Juli 1977 im Kofferraum eines Fluchtfahrzeugs ersticktes sechs Monate altes Baby. Das älteste Todesopfer an der innerdeutschen Grenze war ein 81-jähriger Bauer aus dem niedersächsischen Landkreis Lüchow-Dannenberg, der im Juni 1967 irrtümlich in ein Minenfeld geriet. Er verblutete vor den Augen eines DDR-Regimentsarztes, der sich nicht in den verminten Grenzstreifen wagte. Der letzte Todesfall durch eine Schusswaffenanwendung an der DDR-Westgrenze ereignete sich am 25. Januar 1984 nahe Benneckenstein im Harz. Ein gemeinsamer Fahndungstrupp des Grenzregiments Halberstadt und der Volkspolizei stieß dort in einem Wald auf den bewaffneten 20-jährigen sowjetischen Deserteur Nikolai Gal, den ein Volkspolizist nach eigenen Angaben in Notwehr erschoss.
Der sozialen Zusammensetzung nach handelte es sich bei den Opfern des DDR-Grenzregimes überwiegend um junge Arbeiter, Bauern und Handwerker. Etwa 50 Prozent davon gehörten zur Altersgruppe zwischen 18 und 25 Jahren, weitere rund 30 Prozent zur Altersgruppe zwischen 25 und 35 Jahren. Auch 19 Kinder und Jugendliche unter 18 Jahren starben an der innerdeutschen Grenze. Unter den dort ums Leben gekommenen Zivilisten lag der Frauenanteil bei etwas über zehn Prozent. In 303 Fällen stammten die erfassten Todesopfer aus der DDR, in 19 Fällen aus Westdeutschland, fünf Todesopfer waren ausländischer Herkunft.
Opfer des DDR-Grenzregimes schon vor dem Mauerbau
Bis in die frühen 1950er Jahre gehörte es zum Alltag an der damals so genannten Zonengrenze, dass sich Einwohner des Grenzraums das Recht auf einen „kleinen Grenzverkehr” nahmen, um auf der anderen Seite der Grenze Lebensmittel und andere Waren zu kaufen oder zu tauschen sowie Verwandte oder Freunde zu besuchen. Auch wohnten im DDR-Grenzgebiet noch Personen, die einer Erwerbstätigkeit auf der Westseite nachgingen. Aus DDR-Sicht war ein solcher Grenzübertritt bereits illegal, außerdem verwies die SED-Propaganda immer wieder auf vermeintliche Spione, Saboteure und Schmuggler unter den Grenzgängern.
Die thüringische Grenzpolizei erfasste bereits zwischen Dezember 1946 und Oktober 1947 insgesamt 146.872 aus ihrer Sicht „illegale Grenzübertritte”. Bei der überwiegenden Zahl der Todesfälle an der innerdeutschen Grenze handelte es sich in den ersten Jahren nach Gründung der DDR um „Grenzgänger”, die aus unterschiedlichen Gründen ohne Interzonenpässe die Demarkationslinie zwischen Ost- und Westdeutschland überquerten. Aus den Berichten der DDR-Grenzpolizei an die sowjetische Kontrollkommission in Wünsdorf gehen für das IV. Quartal 1951 und die ersten drei Quartale 1952 die Größenordnungen dieses Grenzverkehrs und die damit verbundenen Risiken für die Betroffenen hervor. So nahm die Grenzpolizei der DDR im IV. Quartal 1951 insgesamt 30.070 Personen vorläufig fest, davon 7.407 „aus der Westzone”. Weiterhin beschlagnahmte die DGP Lebensmittel im Wert von 208.706,84 DM, Industriewaren im Wert von 211.616, 99 DM und Valuta in Höhe von 705.538,65 DM.
DDR-Grenzpolizisten gaben in diesem Zeitraum 2.134 Schüsse aus ihren Karabinern ab, davon waren 1.693 Warnschüsse. Mit Pistolen schossen DDR-Grenzpolizisten 282 mal, wobei die Zahl der Warnschüsse mit 162 angegeben ist. Zwei Personen kamen durch die Schusswaffenanwendung im IV. Quartal 1951 ums Leben, acht erlitten Verletzungen. Die für dieses Quartal genannten Zahlenangaben finden sich in ähnlicher Größenordnung auch in den Quartalsberichten für 1952. Zwar sanken die Schusswaffenanwendungen auf 687 Fälle, jedoch erhöhte sich die Zahl erschossener „Grenzverletzer” drastisch auf 19 und der durch Schusswaffenanwendung Verletzten bis zum Ende des III. Quartals 1952 auf 42. Zur Bewachung der DDR-Grenze kamen zu diesem Zeitpunkt in der DGP 1.149 Offiziere, 3.591 Unteroffiziere und 16.163 Mannschaftsdienstgrade zum Einsatz.
Schusswaffengebrauchsordnung aus dem August 1948
Aus den historischen Polizeiberichten geht hervor, dass es zum Schusswaffengebrauch kam, wenn Grenzgänger versuchten, ihrer Festnahme zu entgehen, indem sie die Weisungen von Grenzpolizisten ignorierten, sich versteckten oder davonliefen. Vereinzelt reagierten Festgenommene den Grenzpolizisten gegenüber mit Handgreiflichkeiten. Bei den damals im Zusammenhang mit dem jeweiligen Todesfall obligatorisch angesetzten Ermittlungen der ostdeutschen Mordkommissionen wurde in der Regel dem Todesopfer ein schuldhaftes Verhalten angelastet. Die Grenzpolizisten konnten sich beispielsweise auf die „Instruktion für die Grenzpolizeiorgane zum Schutz der Grenze und der Demarkationslinie der SBZ Deutschlands“ vom August 1948 berufen. Demnach sollten sie von der Schusswaffe „bei Flucht des Grenzverletzers“ Gebrauch machen, wenn alle anderen Möglichkeiten der Festnahme (Haltruf, Warnschuss) erschöpft sind“. War offensichtlich, dass diese Voraussetzungen nicht erfüllt waren (etwa wenn der erste abgefeuerte Schuss tödlich traf), so behaupteten die Schützen zumeist, dass sie bei der Abgabe eines Warnschusses gestolpert seien oder der tödliche Treffer durch einen Querschläger erzielt wurde. Es war in den 1990er-Jahren der Zentralen Erfassungsstelle für Regierungs- und Vereinigungskriminalität (ZERV) bei der Staatsanwaltschaft Berlin nicht möglich, diese Behauptungen juristisch einwandfrei zu widerlegen.
Mit der „Polizeiverordnung über die Einführung einer besonderen Ordnung an der Demarkationslinie“ vom 26. Mai 1952 wurde das Prinzip der Gebietssicherung eingeführt, womit unter anderem die Einrichtung eines 10-Meter-Kontrollstreifens, eines 500-Meter-Schutzstreifens und einer 5-Kilometer-Sperrzone gemeint war. Die Bewohner des Grenzgebietes mussten mit dem Entzug des Aufenthaltsrechtes rechnen, wenn staatliche Instanzen sie als unzuverlässig einstuften. Im Rahmen der „Aktion Ungeziefer“ organisierte die SED mit ihren Sicherheitsorganen die Zwangsaussiedlung von 3.056 Familien mit 10.141 Personen ins Landesinnere. Die Abriegelung der Grenze und die damit verbundene Unterbindung eines „kleinen Grenzverkehrs“ für die Grenzlandbewohner, führten zu einem Anwachsen der Fluchtbewegung aus dem „Zonenrandgebiet“.
Von 1953 an änderte sich der bürokratische Sprachgebrauch, statt „Grenzgängertum“ hieß das Delikt nun „Republikflucht“ und es wurden zunehmend Personen, die aus Unzufriedenheit mit den politischen und wirtschaftlichen Verhältnissen die DDR verlassen wollten, zu Opfern des Grenzregimes. Ab 15. September 1954 regelte das „Paß-Gesetz der Deutschen Demokratischen Republik“ explizit, dass für jeden Grenzübertritt ein im Pass eingetragenes Visum erforderlich sei und legte ein Strafmaß fest. Wer „ohne Genehmigung das Gebiet der Deutschen Demokratischen Republik nach dem Ausland verlässt oder aus dem Ausland betritt“, werde „mit Gefängnis bis zu drei Jahren bestraft“, hieß es in § 8.
Nach Abstimmung mit der sowjetischen Besatzungsmacht und entsprechenden Beschlüssen der SED-Führung übernahm die Deutsche Grenzpolizei 1955 die alleinige Verantwortung für die Bewachung der DDR-Grenze. Es begann von da an auch eine zunehmende militärische Absicherung der Grenze gegen die eigene Bevölkerung. Allerdings gelang es trotzdem nicht den Flüchtlingsstrom zu stoppen. Für das Jahr 1956 verzeichnet die Statistik der Deutschen Volkspolizei 316.028 „Republikflüchtlinge“. Insgesamt verließen zwischen 1949 und 1989 mehr als vier Millionen Menschen die DDR.
Mauerbau als Einschnitt 1961
Mit dem Bau der Mauer am 13. August 1961 endete für DDR-Bürger die letzte Möglichkeit, ohne Lebensgefahr in die Bundesrepublik zu gelangen. Dennoch versuchten Flüchtlinge auf verschiedenen Wegen, die bereits mit Zäunen und Wachtürmen gesicherte Grenze zu überwinden. Von 1961 an verlegten Pioniereinheiten der Nationalen Volksarme (NVA) entlang der Grenze Bodenminen. Ab 1971 erfolgte die Aufrüstung der vorderen Streckmetallzäune an der DDR-Grenze mit Selbstschussanlagen, die bei der Berührung eines Signaldrahtes eine Vielzahl scharfkantiger Stahlwürfel abfeuerten. Selbst in der Ära der 1969 von der Bundesregierung Brandt/Scheel eingeleiteten Entspannungspolitik verschärfte das SED-Regime fortlaufend die Überwachung und militärische Absicherung der innerdeutschen Grenze. Der Ausbau der Grenzanlagen und die Erweiterung der Grenzüberwachung in das Innere der DDR hielten zur Flucht entschlossene überwiegend junge Leute nicht davon ab, das lebensgefährliche Wagnis einer Grenzüberwindung einzugehen. Vom Mauerbau bis zum Mauerfall gelang über 40.000 DDR-Bürgern auf verschiedenen Wegen die Flucht aus dem SED-Staat. Die Zahl der verhinderten Fluchtversuche belief sich alljährlich auf 3.000 bis 4.000 Fälle.
Die politische Verantwortung für die Verminung der Grenze und die Schusswaffenanwendung im Grenzgebiet der DDR lag in den Händen der SED-Führung, die durch ihre Entscheidungen bis 1989 die Grundsätze des DDR-Grenzregimes festlegte. Sie war Herr des Verfahrens und hob bei Bedarf auch den Schießbefehl zeitweilig auf. Das geschah zum Beispiel vor wichtigen politischen Anlässen wie 1977 anlässlich der Belgrader Konferenz über Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa oder dem Besuch Erich Honeckers in der Bundesrepublik 1987.
Schusswaffengebrauch und Minen
Den Schusswaffengebrauch regelten von 1949 bis 1982 eine Vielzahl interner Anweisungen und Dienstverordnungen. Vom 25. März 1982 an rechtfertigte § 27 des „Gesetzes über die Staatsgrenze der DDR“ die Schusswaffenanwendung zur Verhinderung von Fluchtversuchen. Es sah die Anwendung der Schusswaffe vor, „um die unmittelbar bevorstehende Ausführung oder die Fortsetzung einer Straftat zu verhindern, die sich den Umständen nach als ein Verbrechen darstellt“. Da der „Ungesetzliche Grenzübertritt“ laut § 213 des DDR-Strafgesetzbuchs vom 12. Januar 1968 als Straftat galt, ermächtigte das Grenz-Gesetz die Soldaten zu Schüssen auf Flüchtlinge, wenn eine „körperliche Einwirkung ohne oder mit Hilfsmitteln erfolglos blieb oder offensichtlich keinen Erfolg verspricht“. Hinzu kam der Einsatz von eingegrabenen Minen im DDR-Grenzstreifen. Das Ausmaß der Verminung im Grenzgebiet geht aus einer internen Analyse des Kommandeurs der Pioniereinheiten der DDR-Grenztruppen aus dem Jahr 1979 hervor. Diese Analyse enthält folgende Angaben über die seit 1961 errichteten Minensperren:
• 1961: Minensperren Typ 61 POMS auf ca. 150 km,
• 1962–1965: Minensperren Typ 62 PMD-6 auf 800 km,
• ab 1966: Minensperren Typ 66 PMN, PMP-71, PPM-2 auf 300 km,
• ab 1970: Minensperren SM-70 Splitterminen auf 470 km.
In den Minensperren der Typen 61, 62 und 66 bis 1979 wurden insgesamt 1.125.000 Minen neu verlegt und 665.000 alte Minen auf 1017,4 Kilometern geräumt. Seit 1976 wurden ca. 400.000 Minen zusätzlich in solchen Grenzabschnitten neu verlegt, die durch Flüchtlinge überwunden worden waren. Zwischen 1962 und 1979 erlitten 101 DDR-Grenzsoldaten Minenverletzungen – wobei in dieser Zahlenangabe MfS-Mitarbeiter und Grenzer, die nur leichte Verletzungen davontrugen, nicht enthalten sind. Nach dieser Aufstellung des Chefs der Pioniertruppen ereigneten sich beim Minenräumen:
• eine tödliche Verletzung,
• 33 schwere Verletzungen (Amputation von Gliedmaßen, Verlust des Augenlichts),
• 67 mittlere und leichte Verletzungen.
Etwa die Hälfte der Verletzungen entstand bei der Entfernung von Bodenminen des Typs PMN. Durch die Explosion von Erdminen, die in einer Bunkeranlage bei Sassnitz eingelagert waren, starben im November 1986 vier weitere Soldaten. Unbekannt ist nach wie vor die Zahl der durch Minen und die zeitweise installierten Selbstschussanlagen verletzten Flüchtlinge.
Kosten des Grenzsystems
Dem Minister für Nationale Verteidigung der DDR lag am 1. Oktober 1982 eine vom Chef der Grenztruppen, Generalleutnant Klaus-Dieter Baumgarten, unterzeichnete „Konzeption über den derzeitigen Stand und für den weiteren pionier- und signaltechnischen Ausbau der Staatsgrenzen der DDR zur BRD, zu Berlin (West) sowie zur Volksrepublik Polen und ČSSR” vor. Darin wurde der hohe Kostenaufwand für die Minen kritisiert und darauf hingewiesen, dass vom 1. Dezember 1974 bis zum 30. Mai 1982 durch Wild, Blitzschlag oder Fremdströme 52.794 Splitterminen detoniert waren. „Der Anteil der detonierten Minen, ausgelöst durch Grenzverletzer“, betrage 0,3 Prozent. Der Wert der detonierten Minen betrug über 9,5 Millionen Mark. „Die Festnahme bzw. das Bergen von Verletzten aus Minensperren 66 ist kompliziert, mit einem hohen Kräfte- und Mittelaufwand verbunden und in der Regel durch den Gegner einsehbar bzw. beeinflussbar.” Die in Berlin bereits auf 27,2 Kilometer verwendete Grenzmauer 75 sei dagegen „ein kostenintensives Sperrelement, wartungsarm, formschön und besonders in Kfz-gefährdeten Abschnitten wirksam.”
Baumgartens kritisches Fazit: „Die Sperranlagen mit Splitterminen und die Minensperre 66 als ausschließlich eingesetztes vorderes Sperrelement sind sowohl aus politischer Sicht als auch vom konstruktiven und optischen Aufbau her als unzweckmäßig einzuschätzen. Ihr planmäßiger Abbau ist unter Beachtung des Pkt. (6) dieser Konzeption notwendig.” Mit dem Hinweis auf Punkt 6 waren die Grenzzäune I und II ohne Minen gemeint, aber mit einer neu kombinierten Grenzsicherungsanlage, die eine Grenzsignalzaunanlage (Alarmanlage) enthielt und zum Teil schon erprobt worden war. Die Entscheidung zur Beseitigung der Erd- und Splitterminen fiel somit bereits vor dem 1983 vom damaligen bayerischen Ministerpräsidenten Franz Josef Strauß (CSU) eingefädelten Milliardenkredit an die DDR.
Minenopfer
Bis zur endgültigen Demontage der Minen 1983/84 kam es zu 36 Todesfällen durch Erd- und Splitterminen; 17 Personen starben durch die Auslösung von Erdminen, 14 Flüchtlinge und ein Grenzsoldat erlagen den Verletzungen durch die Selbstschussfalle SM 70. Bei den ersten beiden durch Erdminen getöteten Personen handelte es sich um die Bundesbürger Erich Janschke (21) und Klaus Körner (23), die aus unbekannten Gründen am 15. November 1962 von Hessen kommend bei Untersuhl versuchten, über die Grenzanlagen in die DDR zu gelangen. Die in der Nähe stationierten DDR-Grenzer vernahmen zwar eine Detonation, meinten jedoch, es handele sich um eine der häufigen Minenauslösungen durch Wildtiere. Die Leichen von Erich Janschke und Klaus Körner wurden erst am 14. Dezember 1962 von den DDR-Grenztruppen entdeckt und geborgen. Bei dem letzten am 22. März 1984 durch eine Sprengfalle SM 70 getöteten Flüchtling handelte es sich um den Landarbeiter Frank Mater (20), der bei Kleintöpfer (Thüringen) versuchte, die DDR-Grenze nach Hessen zu überwinden.
Weitere Verdachtsfälle
Im Zuge der Überprüfung von 1.492 durch den Forschungsverbund SED-Staat an der Freien Universität Berlin erfassten Verdachtsfällen aus verschiedenen Überlieferungen und Zeitzeugenhinweisen bestätigten sich 803 Todesfälle (inklusive der Todesfälle in den Grenztruppen), die sich räumlich an der innerdeutschen Grenze ereignet hatten oder in einem kausalen Zusammenhang mit dem DDR-Grenzregime standen. Bei den Verdachtsfällen, die diesen Kriterien nicht entsprachen, handelte es sich um Todesfälle außerhalb des innerdeutschen Grenzgebietes. Weiterhin waren darunter identifizierte und nicht identifizierte Wasserleichen, die aus Grenzgewässern geborgen worden waren, ohne feststellbaren Fluchthintergrund und ohne dass ein Bezug zum DDR-Grenzregime festgestellt werden konnte.
Im Zuge der Überprüfung weiterer Verdachtsfälle, die sich in den Überlieferungen westlicher Dienststellen fanden und auf Beobachtungen des DDR-Grenzraumes durch Zollbeamte, den Bundesgrenzschutz, die Polizei oder auf Aussagen von DDR-Flüchtlingen beruhten, belegten Parallelüberlieferungen der DDR-Seite sowohl Fehlinterpretationen von Schusswaffenanwendungen und Minenexplosionen wie auch durch Hörensagen übermittelte angebliche Todesfälle, die nicht den Tatsachen entsprachen.
Es kam im Minengürtel häufig zu Minenauslösungen durch Wildtiere oder Witterungseinflüsse. Auch von Jägern abgegebene Schüsse fanden als mutmaßliche Schusswaffenanwendung gegen Flüchtlinge Eingang in das Berichtswesen von Zoll und Bundesgrenzschutz. Ferner unternahm die Einsatzkompanie der MfS-Hauptabteilung I Täuschungsmanöver in nicht verminten Grenzabschnitten. Die MfS-Mitarbeiter brachten dort Übungsmunition zur Explosion, anschließend wurde um Hilfe gerufen, ein Sanitätsfahrzeug raste zur Grenze. Mit den simulierten Minenexplosionen sollte der Bevölkerung in grenznahen Ortschaften suggeriert werden, dass die DDR-Grenze in diesem Gebiet bereits vermint sei.
Fahnenfluchten, Befehlsverweigerung und Abversetzungen in den DDR-Grenztruppen
Im Laufe der Recherchen der Forschungsgruppe in den einschlägigen MfS- und Grenztruppenüberlieferungen fanden sich zahlreiche Hinweise auf die Verweigerung des Schusswaffengebrauchs durch junge Grenzsoldaten.
Entgegen der früheren westdeutschen Wahrnehmung dienten zahlreiche junge Männer nur mit Widerwillen in den Grenztruppen der DDR. Viele Wehrpflichtige hofften ihre Dienstzeit ohne eine Schusswaffenanwendung auf Menschen beenden zu können. Der ehemalige Kommandant des Ausbildungsregiments Glöwen der DDR-Grenztruppen, Horst Jüttner, rechtfertigt in seinen Erinnerungen das DDR-Grenzregime zwar nach wie vor als „Friedensdienst“ aus seiner Sicht, gesteht jedoch ein, dass sehr viele Wehrpflichtige dies anders sahen: „Etwa ein Drittel lehnte den Einsatz der Waffe gegen Grenzverletzer offen ab, ein weiteres Drittel meldete Vorbehalte an und der Rest wollte gemäß Situation und Befehl handeln.“ Dieser Befehl, der bei der sogenannten täglichen „Vergatterung“ vor dem Grenzeinsatz mündlich erteilt wurde, beinhaltete den Auftrag, Grenzdurchbrüche auf keinen Fall zuzulassen. „Grenzverletzer“ seien zu stellen oder bei Fluchtfortsetzung „zu vernichten“.
Aus diversen Statistiken des MfS geht für die Zeit vom Mauerbau 1961 bis zum Mauerfall 1989 eine Zahl von 1.933 geglückten Fahnenfluchten aus den Grenztruppen hervor. Etwa dreimal höher lag die Zahl der im Vorfeld verhinderten Fahnenfluchten. Stichproben in den Meldungen der MfS-Hauptabteilung I legen nahe, dass in den späten 1980er Jahren zwischen zwei und neun verdeckte „Abversetzungen“ täglich erfolgten. So sorgte der Staatssicherheitsdienst 1985 dafür, dass insgesamt 850 für die Grenztruppen gemusterte Soldaten wegen „Fahnenfluchtäußerungen” und anderer Unsicherheitsmomente nicht an der Grenze zum Einsatz kamen und 535 Soldaten aus grenzsichernden Einheiten abgezogen wurden. Zusammengenommen fehlten den Grenztruppen demnach 1.385 Soldaten, im Vorjahr waren es 1.150, und im folgenden Jahr 1986 erhöhte sich die Zahl der nicht eingesetzten bzw. abgezogenen Grenzsoldaten auf 1.506.
Suizidfälle im Grenzdienst
Aufgrund der psychischen Belastung im Grenzdienst, des militärischen Drills, der Abwesenheit von Familie und Freunden, des Fehlens von Zuwendung und Liebe, der Hänseleien und der Nichtanerkennung im Kameradenkreis sowie der Herabsetzungen durch Vorgesetzte empfanden einige Grenzsoldaten ihre Lage als derart ausweglos, dass sie ihrem Leben ein Ende setzten oder bei einem Fluchtversuch ums Leben kamen. Das Forschungsteam hat Kurzbiografien dieser DDR-Grenzer, die psychisch an den Zumutungen des Grenzdienstes zerbrochen sind, als eigene Fallgruppe in das Handbuch aufgenommen, denn letztlich wurde auch ihnen das DDR-Grenzregime zum tödlichen Verhängnis, darunter befanden sich auch Grenzsoldaten, die zunächst voller ideologischer Überzeugung ihren Dienst angetreten hatten. Für die in dem biografischen Handbuch beschriebenen Selbsttötungen von DDR-Grenzsoldaten gilt im Sinne des von den Suizidforschern Werner Felber und Peter Winiecki entwickelten „Kausalitätsgefüges von Suizidalität”, dass Selbsttötungen nur selten monokausal begründet sind, sondern dabei „komplexe Ursachen auf mehreren Ebenen zusammenwirken”.
Die Berücksichtigung von 43 Suiziden in einem eigenen Kapitel des Handbuchs führte 16 Monate nach dem Erscheinen der Untersuchung zu teilweise heftigen Diskussionen, die bis heute anhalten. Die Studie des Forschungsverbundes SED-Staat hielt sich aber absichtlich mit einer moralischen Bewertung des DDR-Grenzdienstes zurück. Über die Frage etwa, ob eine Fahnenflucht gerechtfertigt ist, ob Fahnenflüchtlinge aus den DDR-Grenztruppen selbst Verbrecher oder gewissenhafte Verweigerer verbrecherischer Befehle waren, gibt es je nach Standpunkt bis heute unterschiedliche Auffassungen. Das Forschungsteam hat die Todesfälle, die sich im Zusammenhang mit Fahnenfluchten an der innerdeutschen Grenze ereignet haben, im Handbuch sachlich beschrieben. Das gleiche gilt für die Selbsttötungen von Grenzern, die aus unserer Sicht einen dienstlichen Zusammenhang aufweisen. Eine moralische Rechtfertigung ihres Handelns oder gar eine Gleichsetzung mit Flüchtlingen erfolgt dadurch nicht. Den Leserinnen und Lesern bietet das biografische Handbuch mit seinen Fallbeschreibungen eine differenzierte Darstellung des Geschehens an der innerdeutschen Grenze und damit eine Grundlage für die eigene Urteilsbildung über das DDR-Grenzregime.
Weitere Todesfälle in den Grenztruppen
Bei Recherchen im Meldungsaufkommen der Grenztruppen und des MfS stieß das Forschungsteam auf insgesamt 454 Todesfälle in den DDR-Grenztruppen, die in keinem Zusammenhang mit Fluchtgeschehen standen und unterschiedliche Ursachen haben. Berücksichtigt man diese Zahlen, verloren weit mehr DDR-Grenzpolizisten und -soldaten an der innerdeutschen Grenze ihr Leben als Flüchtlinge. Mindestens 111 Todesfälle durch Schusswaffenunfälle wurden im Archivgut festgestellt, weiterhin mindestens 203 Suizide und mindestens 88 Soldaten starben durch Unfälle im Dienst. Diese Zahlenangaben sind jedoch unvollständig, da das Forschungsteam weder sämtliche Tagesmeldungen der Grenztruppen und Unterlagen der Militärstaatsanwaltschaft noch alle Meldungen der dafür zuständigen MfS-Hauptabteilung I auswerten konnte.
Dies bleibt also ein weiteres Forschungsfeld, ebenso die gescheiterten Fluchten von DDR-Bürgern im Ostseeraum und an den Grenzen der Ostblockstaaten entlang des Eisernen Vorhangs. Der letzte derzeit bekannte Fall, bei dem es zu einem Tod durch Schusswaffenanwendung kam, ereignete sich am 21. August 1989 bei Lutzmannsdorf an der österreichisch-ungarischen Grenze. Der 36-jährige Familienvater Kurt-Werner Schulz aus Weimar kam bei einem Handgemenge mit einem ungarischen Grenzposten im August 1989 durch einen Schuss ums Leben, als er sich bereits auf österreichischem Gebiet befand. Einen Monat zuvor wurde der 19-jährige Michael Weber aus Leipzig im Juli 1989 an der bulgarisch-griechischen Grenze erschossen.
Zu strafrechtlichen Ermittlungen oder Verurteilungen wegen der Tötung von Flüchtlingen an den Grenzen der ČSSR, Ungarns, Bulgariens und Rumäniens zu Westeuropa kam es in den 30 Jahren seit dem Ende des Eisernen Vorhangs praktisch nicht. Erst im Juni 2019 begann beispielsweise eine tschechisch-deutsche Ermittlungskommission mit der Untersuchung von vier exemplarischen Todesfällen von DDR-Flüchtlingen an der tschechisch-bayrischen Grenze. Ermittelt wird dabei gegen 41 Personen aus der damaligen Befehlskette, die als politische und militärische Verantwortungsträger für das ČSSR-Grenzregime zuständig waren.
Selbsttötungen nach gescheiterten Fluchten
Eine weitere – nach wie vor offene – Frage ist die Berücksichtigung der Suizide von verzweifelten Personen, deren Fluchtversuche im Vorfeld der Grenze vereitelt wurden (meist verbunden mit Inhaftierungen) oder deren Ausreiseanträge mehrfach abgelehnt worden sind.
In seinem biografischen Handbuch beschreibt der Forschungsverbund SED-Staat solche Fälle exemplarisch anhand von Nadine Klinkerfuß, Sabine Schmidt, Marlis Varschen, Dieter Krause und Werner Greifendorf. Auch ihr Schicksal erfordert eine sachliche, wissenschaftlich basierte Auseinandersetzung. Die 22-jährige Sabine Schmidt beispielsweise war Medizinisch-Technische Radiologie-Assistentin an der Charité und stellte im September 1976 einen Ausreiseantrag nach West-Berlin. Sie wollte zu ihrem dorthin geflüchteten Lebensgefährten. Ihren Antrag auf Übersiedlung begründete sie mit ihrer kritischen Einstellung zur DDR und mit ihrer "Absicht mein Leben nach meinen eigenen persönlichen Anschauungen zu gestalten, und deshalb entspricht dieser Antrag meinen reinen persönlichen sowie menschlichen Anschauungen von Freiheit". Das Ersuchen wurde abgelehnt. Als der Versuch scheiterte, mit Hilfe von Fluchthelfern nach West-Berlin zu gelangen, nahm sich Sabine Schmidt im März 1977 das Leben.
Zitierweise: "Todesopfer des DDR-Grenzregimes. Eine Recherche“, Jochen Staadt und Jan Kostka, in: Deutschland Archiv, 13.8.2019; Link: www.bpb.de/295022.
Dr. Jochen Staadt war bis 2024 langjähriger Projektleiter des Forschungsverbundes SED-Staat an der Freien Universität Berlin und Redaktionsmitglied der Zeitschrift des Forschungsverbundes SED-Staat. 1977 Dissertation über Romane der DDR an der FU Berlin. Diverse Veröffentlichungen über die westdeutsche Studentenbewegung von 1968, über die DDR und über die deutsch-deutschen Beziehungen.
Wissenschaftlicher Mitarbeiter am biografischen Handbuch über die Todesopfer des DDR-Grenzregimes, Studium der Germanistik, Neueren Geschichte und Religionswissenschaft an der Universität Potsdam. 2015 Promotion über: Das journalistische und literarische Werk von Klaus Schlesinger, 1960–1980.
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