1989/90 begannen in den östlichen Bundesländern im Zuge der friedlichen Revolution in der DDR sowie später mit der deutschen Vereinigung vollständige Umstrukturierungen sowie auch Neugründungen von Hochschulen. Diese übernahmen ab 1990/91 nicht nur die Struktur bundesdeutscher Universitäten, sondern auch führendes Personal aus westdeutschen Bundesländern. An dieser Transformation der Universitätslandschaft auf dem Gebiet der ehemaligen DDR kritisiert etwa Peer Pasternack, Sozialwissenschaftler und Direktor des Instituts für Hochschulforschung (HoF) an der Universität Halle-Wittenberg, dass die Systemintegration der wissenschaftlichen Einrichtungen gelungen sei, aber nicht die Sozialintegration des Personals. Demnach wurden die Hochschulen in revolutionärer Geschwindigkeit umstrukturiert, die mittlere ostdeutsche Wissenschaftlergeneration blieb dabei jedoch auf der Strecke.
Die Stichprobe wurde nach folgenden sozialstrukturellen Dimensionen ausgewählt:
universitärer Status,
Geschlecht sowie
Ost- oder West-Herkunft.
In unserem Beitrag stellen wir exemplarisch anhand von vier Interviews dar, wie die Interviewten die Transformation erlebt und welche Folgen erfahrene Zuschreibungen als „ostdeutsch“ für ihr Selbstkonzept hatten. Dabei legen wir zugrunde, dass Identitäten im Rahmen gesellschaftlicher Strukturen konstruiert werden. Sie sind nicht ein für alle Mal festgelegt, vordeterminiert und schicksalhaft, sondern sie werden in Interaktionen, einem bestimmten sozialen Umfeld und über akteursspezifisches Handeln geformt. Sie sind biografisch und situativ veränderbar.
AP: außerplanmäßiger Professor VA: Verwaltungsangestellte OP: ordentliche Professorin WM: wissenschaftliche Mitarbeiterin
Akteure der Transformation ostdeutscher Hochschulen in den 1990er Jahren
„Aber du wusstest teilweise gar nicht, wohin der Hase eigentlich läuft“ Wie eingangs dargestellt, wurden die Strukturen ostdeutscher Hochschulen zwischen 1989 und 1994 weitgehend aufgelöst und dem westdeutschen System angepasst.
Die Verwaltungsangestellte VA bekam im März 1989 die Chance, im universitären Rechenzentrum ein zentrales Schreibbüro aufzubauen. „Hat alles ganz erfolgreich angefangen, dann kam die Wende, bums aus“. (Z. 89-90)
Mit der Wende wurde sie abrupt in die „Warteschleife“ versetzt bei vollem Gehalt. Nach wenigen Monaten übernahm sie in einem universitären ABM-Projekt eine ihr angebotene Stelle als Sekretärin. „Hat mir unheimlich Spaß gemacht, war ein tolles Team. War natürlich noch so ein DDR-Biotop“. (Z 132f) Auch das Institut von OP führt Ende 1989 neue Strukturen ein. Um seinen Erhalt zu sichern, orientieren sich seine Mitarbeiter/innen an westlichen Vorbildern. Zugleich wählen sie ihre Vorgesetzten basisdemokratisch, OP wird Leiterin ihres Bereichs. „Das [Institut] hat … fast ein Jahr lang … existiert, … [und] was wir damals immer noch geglaubt haben, durch die gute Evaluation noch ´ne Chance [zu] haben, das zu retten, da hatten wir keinerlei Chance, wenn ich das heute so einschätze“. (Z. 166-199)
Markierungen als Ostdeutsche
„Weil ich mich irgendwie ertappt fühlte“ In der dritten Transformationsphase wurde selten auf diese Reformbemühungen zurückgegriffen. Stattdessen wurden ab 1991 und mit der Berufung der ersten vornehmlich westdeutschen Professor/innen die Hochschulstrukturen gänzlich nach westdeutschem Vorbild eingerichtet.
Auch die Ostdeutschen unter den 29 Interviewpartnern erfuhren im Transformationsprozess an ihrer Hochschule, dass sie als nicht passend oder falsch, unterqualifiziert oder nicht zugehörig, eben als „Andere“ markiert wurden. Dabei war es nicht entscheidend, ob dies wortwörtlich an die einzelne Person herangetragen, beziehungsweise als Gerücht oder in Erzählungen zu einem Teil des Alltagswissens wurde. Diese Markierungen bewirken, dass ostdeutsche Männer wie Frauen sich in berufsbiografischen Erzählungen gezwungen sehen, ihre Position zu begründen. Das soll im Folgenden an ausgewählten Zitaten verdeutlicht werden.
AP hat die Zeit nach dem 3. Oktober 1990 als Kampf um die eigene Existenz und zugleich als Kampf zwischen Ost und West erlebt. Er artikuliert Zuschreibungen als „Ossi“, „Indio“ oder „Hilfsassistent“, mit denen er sich auseinandersetzt: „Als ich [von einem Fellowship 1994]dann wiederkam, hab ich dann `nen Vertrag für sechs Jahre gekriegt. Ja? […]Und dann haben die wieder versucht, mich rauzuschmeißen […] Und dann haben zwischendurch Professoren versucht, eben wie überall sozusagen, Ossis wie […] ich sag´s mal politisch unkorrekt… den Indio [zu behandeln], ja. Kamen also Leute an, plus Mikrofon, die also 20 Jahre lang nur in Westdeutschland auf Drittmittelprojekten waren und die wurden jetzt hier Professor. Und die dachten jetzt, die können uns behandeln wie ihre Hilfsassistenten.“ (Z. 116-128)
Ihm wurde kundgetan, dass die Universität Beheim kein Platz mehr für ihn sei. Obwohl ursprünglich einheimisch, fühlt er sich als Fremder und wird zum Objekt institutioneller Diskriminierung gemacht. Dennoch sieht er sich nicht einfach als Opfer dieser Prozesse, sondern stellt heraus, dass er aktiv um seine Chance gekämpft hat. Trotz aller Widrigkeiten und Versuche, ihn zu entlassen, bleibt er an der Universität Beheim. Teil seines Widerstandes gegen die Opferrolle ist es, seine „Gegner“ zu diskreditieren, also diejenigen Westdeutschen, die von ständigen Drittmittelprojekten aus Professuren bekamen.
Die Professorin OP ist in dieser Frage ambivalent. Einerseits empfindet sie anfangs „Berührungsängste“ gegenüber westdeutschen Kolleg/innen, andererseits erschreckt sie die „Rivalität zwischen“ ostdeutschen Kolleg/innen um universitäre Positionen. Sie selbst will als Individuum und als Wissenschaftlerin gesehen werden. Das gelingt nur bedingt, wie in ihrem späteren Alltag als Professorin deutlich wird:
„Mir ist das mal passiert, dass ich ´ne Vorlesung gehalten habe und da kam dann einer […] auf mich zu. Und der hatte auch so Schmisse, also der war wahrscheinlich im Studentenkorps. Und der hat zu mir gesagt: ´Frau [Name], Sie können noch so gut Ihre Vorlesung machen, aber Ihnen merkt man noch deutlich Ihre politische Vergangenheit an, Sie können nicht lügen´. Und da stand ich so da und dachte: ´Mensch, der hat dich so richtig ertappt irgendwie (lacht kurz auf), […] was sagst du jetzt nur´? Damals haben mich Studenten gerettet, die haben gesagt: ´Mensch, hau ab, lass die Frau in Ruhe´. So in der Art, und denen war ich so dankbar, denn ich war nicht in der Lage ´ne ordentliche Antwort zu geben, weil ich mich irgendwie ertappt fühlte. Ich dachte: ´Mensch, der merkt dir noch an, dass du wirklich da vor Jahren da noch ganz anders gesprochen hast und so´. Und der hat ja Recht, eigentlich ist es unmöglich.“ (Z. 642-651).
OP wird hier und in anderen Situationen als Ostdeutsche mit „politischer Vergangenheit“ markiert. Das demütigt sie, denn wiederholte Überprüfungen auf Mitarbeit bei der Staatssicherheit oder eine besondere Position in der SED fallen bei ihr negativ aus. Dennoch schafft sie es nicht, sich von entsprechenden Vorhaltungen gänzlich zu emanzipieren.
Selbstbewusst reagiert hingegen die Verwaltungsangestellte VA auf Zuschreibungen, die sie als rückständig bezeichnen: „Man hat, gerade in meiner Position als Sekretärin und Verwaltungstante […], dann auch mit diesen Leuten zu tun, und das war dann doch ein bisschen so wie man es dann vielleicht von anderen auch schon gehört hatte: dass die so taten, als müssten die uns das Rechnen und Schreiben beibringen, als ob wir die Blöden wären, ja?“ (Z. 135-139)
„Und die selber waren vielleicht die fünfte Garnitur, die hier rüber gekommen ist. Das war wirklich […] mit diesen anderen Menschen war für mich nicht leicht. […] Ich war nie eine Anhängerin von ‚früher haben wir das so und so gemacht´, dazu war ich damals noch viel zu jung […] aber dieses sich behandeln lassen als wäre man irgendwie so einer ganz unten, das konnte ich nicht ab, ja?“ (Z. 141-152)
Die Begegnung mit ihrem „ersten echten West-Chef“ und die spätere Zusammenarbeit mit weiteren Westkolleg/innen wertet sie im Vergleich zu dieser allgemeinen Einschätzung durchaus positiv. Die regionale Herkunft verliert für VA an Bedeutung, auch weil sie sich als Fachkraft profilieren kann.
Einschneidend sind die Erinnerungen von WM – wissenschaftliche Mitarbeiterin an der Uni Beheim. Sie hadert anhaltend mit den universitären Umstrukturierungen, die den Abschluss ihrer Habilitation und die angestrebte Karriere verhinderten:
„Meine Habilschrift war im Wesentlichen fertig, und ich wusste, dass ich im Juni 1990 verteidigen soll. Und im April, ich glaube, das war der 14. April, wurden wir […] alle entlassen.“ (Z. 57-59)
Auch die vorgesehenen Gutachter der Habilitationsschrift wurden entlassen. Zu westdeutschen Kolleg/innen hatte sie noch keine Kontakte, sodass das Habilitationsverfahren nicht eröffnet werden konnte.
Verletzungen und Unsicherheiten aus der Wendezeit haben dazu geführt, dass sie das Projekt Habilitation nicht noch einmal in Angriff genommen hat. Ebenso erzählt sie, dass sie Angebote aus den USA und eine Bewerbung an eine andere Universität abgelehnt hat. Sie begründet dies mit familiären Aufgaben und weil sie den Neuaufbau der Uni Beheim nicht verpassen, sich einbringen wollte. Das macht sie sieben Jahre lang auf Grundlage befristeter Arbeitsverträge.
„…immer wieder und ohne Perspektive und ohne, ohne, ohne ... und es ging vor und zurück, also. Jetzt habe ich mir einen unbefristeten Vertrag [gesichert], kann meinen Job machen. Also dass sich beruflich für mich etwas verbessert hätte? Ne. Im Osten wäre ich längst Professor. 1990 wäre ich ein Professor geworden“. (Z. 1354-1358)
WM ist frustriert, als Ostdeutsche trotz ihres Fachwissens und Engagements in Lehr- und darauf bezogenen Forschungsaktivitäten keine Professur erreicht zu haben. Denn eigentlich „…waren plötzlich alle [Ostdeutschen] nicht mehr gefragt. Punkt. Und wenn man uns noch mitmachen ließ, dann mussten wir dafür sehr dankbar sein. Aber das war ja unser Land. Das war unsere Hochschule. Das war unser Leben. Und im eigenen Leben nicht mehr mitspielen zu dürfen, das ist schon hart“. (Z. 991-996) Als Makel erkennt sie ihre Herkunft aus einem System, das sich überlebt hat und mehrheitlich abgelehnt wird.
Schlussbemerkungen
Die Selbstbilder der Interviewpartner/innen haben sich während der Transformationszeit verändert. Sie offenbaren, dass kaum geltendes Recht und weniger neuartige Strukturen sie verletzten – schließlich versuchten sie erfolgreich, sich anzupassen und als erforderlich erkannte Änderungen des DDR-Systems zu unterstützen. Verletzungen wurden eher ausgelöst durch den Transfer von Eliten und Kolleg/innen sowie die unmittelbare Konfrontation mit deren Vorurteilen und alltäglichen, als negativ empfundenen Zuschreibungen. Es handelt sich um Markierungen als Ostdeutsche im Sinne von weniger kompetent, weniger wert, politisch verstrickt in ein inakzeptables System etc. Die Interviewpartner/innen unterscheiden sich aber darin, welche Label sie aufnehmen, wie sie damit umgehen und sie schließlich verarbeiten. Bedeutsam erscheint uns dabei, dass eine vermeintlich objektiv erfolgreiche Position nach der Transformation nicht direkt mit einer erfolgreichen Selbstthematisierung einhergeht. Es bleibt anzumerken, dass skizzierte Verletzungen unserer Interviewpartner/innen keine Abwehrhaltungen bewirken, wie sie sich im Rechtspopulismus gegenüber der Gesellschaft zeigen. Aber sie sind anhaltend, identitätsstiftend und präsent, wenn sie „provoziert“ werden.
Zitierweise: „„Im eigenen Leben nicht mehr mitspielen zu dürfen, ist hart.“ Wirkungen der Umgestaltung an einer ostdeutschen Hochschule“, Maja Apelt/Irene Zierke, in: Deutschland Archiv, 29.5.2019, Link: www.bpb.de/292891