Vier Jahre vor dem Ende der DDR bauten junge Oppositionelle heimlich einen Verlag auf. In einer geheimen Kammer am Rande Ost-Berlins wurden bis zum Fall der Mauer – unentdeckt von der Stasi – mehr als 120.000 Seiten gedruckt. Umfangreiche Publikationen, in denen 136 Autorinnen und Autoren unter ihren vollen Namen systemkritische Texte veröffentlichten: die radix-blätter.
Ein klarer und frostiger Wintertag im Februar 1989: Dirk Sauermann, 23 Jahre alt und Student, war mit einem geliehenen „Trabant“ an den Ost-Berliner Stadtrand gefahren. In Kaulsdorf angekommen, stieg er aus und schaute sich prüfend um, ob ihm jemand gefolgt war. Erst dann hob er den schweren Karton voller Papier vom Rücksitz und ging durch die beginnende Dunkelheit noch ein Stück zu Fuß bis zum Haus Ferdinandstraße 4. Dort schloss er die Haustür auf, stieg in den ersten Stock und läutete an der Wohnungstür. Lotte Bickhardt, die Mutter seines Freundes Stephan, öffnete ihm. Ein kurzer Gruß, sie wusste Bescheid. Der langhaarige junge Mann ging durch den Flur direkt ins Schlafzimmer der Eltern seines Freundes. Neben dem Ehebett war eine weitere Tür. Dahinter eine kleine Kammer, in der seit 1986 streng verbotene Dinge geschahen.
Der Raum war schmal. Ein Regal, etwas Ablagefläche. Darauf standen eine Druckmaschine, ein kleiner Kopierer und eine einfache Legemaschine, mit der man aus zwölf Blatt einen Stapel herstellen konnte, mehrere Stapel ergaben am Ende eine Zeitschrift: die radix-blätter. Wer hier druckte, machte sich in der DDR strafbar, riskierte Gefängnis. Sauermann war sich dessen bewusst. Er spannte die erste Druckvorlage, eine Wachsmatrize ein, füllte schwarze Farbe über einen Trichter in die Maschine und begann, vorsichtig an der Kurbel zu drehen. Der Text auf der Matrize wurde mit einer Schreibmaschine getippt, aber er wusste nicht von wem. Ihm war auch nicht bekannt, wer die Matrizen schon vor ihm in die Kammer gebracht hat. Das erste Blatt Papier wurde eingezogen und von den Walzen gegen die Matrize gedrückt. Es fiel auf der anderen Seite des Apparates in eine Ablage. Noch ein Blatt und noch ein Blatt, bis die Druckfarbe verteilt war, die Schrift überall tiefschwarz und gut lesbar: „Öffentlich anwesend sein“, stand auf diesem Papier, ein Artikel von vielen, die Sauermann an diesem Tag und in den nächsten Tagen noch drucken sollte. „Apathie überwinden“ las er als Überschrift des Textes. Und die ersten Sätze: „In letzter Zeit wird immer häufiger die Forderung nach ‚mehr Öffentlichkeit‘ gestellt. Meistens ist damit gemeint, dass Probleme, die die ganze Gesellschaft betreffen, auf den Tisch gelegt, offen ausgesprochen und diskutiert, nicht aber unter den Teppich gekehrt werden sollen ...“.
Rund tausend lesbar bedruckte Blätter kann man je Matrize herstellen, aber das radix-Heft, das er hier zu produzieren hatte, war über hundert Seiten stark. Das zog sich über Wochen hin. Sauermann musste noch oft kommen. Die Eltern seines Freundes hatten sich bewusst dafür entschieden, dass in der Kammer hinter ihrem Schlafzimmer eine Untergrunddruckerei betrieben wurde, wegen der auch sie verhaftet werden und ins Gefängnis hätten kommen können. Über seine illegale Arbeit redete der Ost-Berliner Student deshalb nicht einmal mit seiner Freundin.
Warum das Wagnis des illegalen Druckens?
Dreißig Jahre später – inzwischen ist Sauermann Propst der Evangelischen Kirche – antwortet er auf diese Frage in seinem Gemeindebüro im mecklenburgischen Parchim: „Ich wollte eine Veränderung. Das war mir wichtiger als nur Theologie zu studieren. Wenn ich zum Drucken in die Ferdinandstraße fuhr, dann war es, als komme ich endlich aus der eigenen Angst heraus. Nur so, dachte ich, kann man auch die Verängstigung einer ganzen Gesellschaft stoppen“.
Das unscheinbare Eckhaus Ferdinandstraße 4 barg eines der bestgehüteten Geheimnisse der Ost-Berliner DDR-Opposition. Stephan Bickhardt, Mitte der achtziger Jahre ein junger Theologie- und Pädagogikstudent, war viel nach Warschau, Breslau, Budapest oder Prag gereist. Dort hatte er Oppositionelle kennengelernt und bewundert, wie sie die Zensur mit selbstgedruckten Zeitungen oder Büchern wirkungslos machten. So etwas wollte er auch in der DDR auf die Beine stellen. Er hatte sich genau überlegt, wo er den geeigneten Raum für einen Untergrund-Verlag finden könnte: Die Mietwohnung seiner Eltern, unauffällig am Stadtrand gelegen, schien ihm bestens geeignet. Sein Vater war Krankenhausseelsorger und genau wie seine Mutter, eine Theologin, trotz des Risikos sofort damit einverstanden.
Die Geschichte des radix-Verlags, der radix-Druckerei und der Vertriebswege erzählt davon, wie ein unzensiertes öffentliches Forum für Debatten unter den Bedingungen eines diktatorischen Staates entstehen konnte, der seine Medien bis ins Detail lenkte und mit seiner Geheimpolizei versuchte, jede Alternative bereits im Keim zu ersticken. Es ist eine der erstaunlichsten Geschichten von Opposition und Widerstand in der DDR überhaupt: Denn die geheime Druckwerkstatt blieb unentdeckt. Auch sämtliche Vertriebswege von 1986 bis zum Mauerfall konnten vom Ministerium für Staatssicherheit (MfS) nicht aufgeklärt werden. Außerdem lösten die von 136 Autorinnen und Autoren in ungeheurer Vielfalt belieferten Hefte mit Aufsätzen, Aufrufen, Analysen, Interviews, Gedichten, Grafiken, Erzählungen, Fotografien und programmatischen Debattenbeiträgen einen wichtigen Diskurs in der DDR aus. Diesen trieben sie auch voran, weil die Verlagsprodukte politische, literarische, kirchliche und künstlerische Opposition zusammenbrachten, die deutsche und die osteuropäische Situation reflektierten und miteinander verbanden. Die Demokratisierung der DDR wurde ebenso thematisiert wie die Forderung nach Menschenrechten, Versammlungs- und Vereinigungsfreiheit, die Bildung eines Mehrparteiensystems, freie Wahlen und rechtsstaatliche Strukturen.
Opposition mobilisieren
Die radix-blätter unter der Leitung von Bickhardt und seinem Vertrauten, Ludwig Mehlhorn, formulierten im Grunde das Programm einer demokratischen Revolution. Zu ihnen stieß noch der Ost-Berliner Vikar Reinhard Lampe. In ihren Publikationen thematisierten die Herausgeber und ihre Autoren erstmals die Folgen des Mauerbaus, der inneren und äußeren Abgrenzung für die Menschen in der DDR. Sie gingen den Fragen von Konföderation und der deutschen Einheit in Europa nach und riefen bereits Pfingsten 1988 dazu auf, die Wahlen in der DDR zum politischen Debakel für die Herrschenden zu machen. Dazu sollte man versuchen, eigene Kandidaten aufzustellen, die Wahlkabine zu benutzen und die Stimmauszählung zu kontrollieren. Genau das trug – vereint mit anderen Kräften im ganzen Land – nach den erwiesenen Wahlfälschungen vom 7. Mai 1989, wesentlich zur endgültigen Delegitimierung des SED-Systems bei.
Die herrschende Praxis von Verboten, Zensur, linientreuen Medien war für die Beteiligten inakzeptabel. Mit den illegal erscheinenden radix-blättern nahmen sich Drucker, Herausgeber, Redaktionskollektive, Autoren und Leser bereits die Freiheit, die sie wollten, anstatt zu warten, dass sie eines Tages von Oben gewährt würde. So hieß es in der radix-Publikation „Aufrisse 2“ 1988: „Um die überholten Kommandostrukturen ersetzen zu können, muss die Öffentlichkeit als Raum des Politischen reorganisiert werden“.
Druckmaschinen aus dem Westen
Die geheime Kammer war eine Grundvoraussetzung, doch woher kamen die Produktionsmittel? In der DDR war es kaum möglich, an Druckmaschinen heranzukommen. Jedes Gerät in den Kirchengemeinden war registriert und wurde überwacht.
Darum bat Blickhardt 1986 befreundete, ehemalige DDR-Bürger in West-Berlin um Hilfe: „Völlig überraschend fuhr dann eines Tages Heinz Suhr, ein Politiker der Grünen, mit einem geliehenen West-Auto bei mir vor. Er wollte gleich drei Maschinen schnell bei mir abladen. Ich wies ihn auf die Stasileute und ihre Autos auf der anderen Straßenseite hin. Diese Leute waren ihm seit der Grenze gefolgt. Ich stieg dann in seinen Wagen ein, und wir kreuzten zwei Stunden lang planlos durch Ost-Berlin, bis mir eine Idee kam. Wir fuhren zu meinem Theologie-Dozenten Wolfgang Ullmann. Bei ihm in der Borsigstraße in Berlin–Mitte musste man durch eine Einfahrt, die hatte zwei Türen, die man hintereinander schließen konnte. Derart geschützt, dachten wir, konnte niemand sehen, was wir aus dem Wagen luden“.
Die drei Druckmaschinen wurden in der Ullmann-Wohnung versteckt und Tage später abgeholt – eine für die Untergrundzeitschrift Grenzfall, eine für das Infoblatt von Pfarrer Rainer Eppelmann, eine für die radix-blätter.
Zu den Maschinen gesellte sich noch ein Transportauto: Im Herbst 1986 hatte Bickhardt den alten „Trabi-Kombi“ mit dem Kennzeichen IN 51-26 von Manfred Stolpe, dem Konsistorialpräsidenten der Ostregion der Evangelischen Kirche Berlin-Brandenburg, für zwei Monate als „Dienstwagen“ ausgeliehen. Eigentlich war der Wagen für Erledigungen in einem kleinen Job, den er bei der Kirche in Vorbereitung auf den Ost-Berliner Kirchentag 1987 hatte, gedacht. Doch Bickhardt behielt den Wagen einfach, und weder Stolpe noch sonst jemand fragte nach. So diente der „Trabi“ dem Untergrundverlag radix bis 1990 als Vertriebsfahrzeug.
Ein großes Problem war immer wieder die Beschaffung von Papier. „Wenn ein Heft 120 Seiten hatte und selbst wir nur eine erste Auflage von 800 Exemplaren drucken wollten“, staunt Bickhardt noch heute, „mussten dafür gut 96.000 Blatt Papier besorgt werden! Der Papierstapel wäre immerhin über zehn Meter hoch. Wir haben Berge von Papier transportiert und ich bin meinen Eltern dankbar, dass wir es auch bei ihnen in der Wohnung stapeln konnten“.
Papier aus einer inoffiziellen katholischen Druckerei
Insofern war es eine außergewöhnliche Unterstützung der radix-blätter, dass auch auf die Papiervorräte im Keller des Katharinenstifts in der Greifswalder Straße zurückgegriffen werden konnte. Zu diesem Keller hatten über Jahrzehnte nur wenige Personen Zugang, denn es handelte sich um eine inoffizielle, vom Staat nicht genehmigte katholische Druckerei. Die hatte eine lange Vorgeschichte: Nach Gründung der DDR sahen es einige Ost-Berliner Katholiken als notwendig an, unkontrollierte Schriften für ihre Kirche zu drucken.
„Diese Dinge waren höchst geheim“,
Der radix-Drucker konnte sich aus den Kellervorräten regelmäßig etwas abzweigen. „Das bleibt unter uns“, raunte Durstewitz ihm damals zu, „das darf auch kein Bischof wissen.“ Die riesigen Bögen aus den Papierfabriken musste Sauermann nur noch von Hand auf DIN A4 zuschneiden, um sie in die radix-Druckerei zu bringen und weiterzuverarbeiten. „Die Messer der von Sauermann mitbenutzten Schneidemaschine“, erzählt Durstewitz schmunzelnd, „konnte ich immer in der Werkstatt der Druckerei des ‚Neuen Deutschlands‘ wieder scharf schleifen lassen.“ Dies war natürlich keine offizielle Unterstützung, sondern lief über seine persönlichen Beziehungen. Seine Unterstützung reichte aber noch über die bis zum Mauerfall schwierige Papierbeschaffung hinaus. Einige radix-blätter wurden im Keller des Katharinenstifts auch sortiert, professionell gebunden und hin und her transportiert. Der Priester verteilte darüber hinaus Hefte wie „Aufrisse“ auch in katholischen Kreisen, etwa bei Aufenthalten in Magdeburg.
Matrizen, Korrekturlack und Druckfarbe ließ Bickhardt aus West-Berlin von Roland Jahn, einem ihm bekannten ehemaligen Jenaer Oppositionellen, beschaffen und vor allem über den AP-Korrespondenten, den Österreicher Ingomar Schwelz, und vom Schweizer Journalisten der Neuen Zürcher Zeitung, Fred Müller, mitbringen. Als DDR-Korrespondenten aus dem Westen durften sie unkontrolliert über die Grenze fahren. Jahn selbst hatte Einreiseverbot.
Neben der schwer zu beschaffenden Technik gehörten allerdings noch mutige Menschen dazu, die beim verborgenen Tippen und Drucken mitmachten. Zu den ersten wichtigen „Angestellten” des radix-Verlages gehörten ab 1986 der Drucker Konrad Blank und die Setzerin Carola Hönn, eine Schulfreundin von Bickhardts Frau Kathrin aus Meiningen. Sie tippte jahrelang fast alle Druckvorlagen für die radix-blätter. Später kamen die Drucker Hans Hilker (1989) und Dirk Sauermann (1988 und 1989) dazu.
Wer von den vielen an der Produktion beteiligten Personen für die radix-blätter tippte, zusammenlegen half oder auf Anfrage die Beiträge schrieb, fragte nicht nach, wie die Herstellung ablief. Nur Stephan Bickhardt hatte den Zugang zu allen drei Abteilungen des Verlags. Er organisierte die recht offene Redaktionsarbeit mit den Autorinnen und Autoren und den verdeckten Bereich der Herstellung vom Druck bis zum Binden der Hefte. Von den Autoren und Distributoren kannte nur er alle Beteiligten und Orte. Auch Ludwig Mehlhorn und Reinhard Lampe wussten nichts über den Ort des Druckes. Bickhardt verriet ihn erst nach dem Fall der Mauer. Diese Arbeitsteilung diente natürlich dem Schutz aller Beteiligten, des ganzen Unternehmens überhaupt. Selbst im Falle von Verhören durch die DDR-Geheimpolizei hätte das MfS nicht viel in Erfahrung bringen können.
Die fertigen radix-blätter waren ein brisantes, illegales Untergrunderzeugnis und mussten schnell vertrieben werden. Die Autorinnen und Autoren bekamen sofort nach der Fertigstellung etliche Exemplare zum Verteilen in ihrem Bekanntenkreis. Einige Exemplare wurden mit der Post verschickt. Es kamen bekannte oder befreundete Leute aus Städten wie Leipzig, Dresden oder Naumburg, um die Hefte in Berlin abzuholen und in ihrer Region unter die Leute zu bringen. Vor allem aber gab es jede Menge Kirchenveranstaltungen, Gemeindefeste, kirchliche Tagungen, Seminare der Basisgruppen oder Ausstellungen am Rande der Kirche. Dort machten die Verleger – offiziell als Kirchengruppe angemeldet – einen eigenen Büchertisch oder legten die radix-blätter nebst einer Spendendose mit der Aufschrift „Zur Unterstützung unserer Arbeit“ einfach zu einem Büchertisch einer anderen Gruppe dazu. Auch in der Vitrine des Cafés in der Ost-Berliner Umweltbibliothek nahe der Zionskirche lagen Hefte zum Verkauf. Die Ausgaben kosteten in der Regel 5 bis 10 Mark. Das literarisch-künstlerisch aufwendig gestaltete „Atem“-Heft ausnahmsweise 20 Mark. Davon wurde alles bezahlt: das Benzin, die Drucker, das Papier, Porto und auch Fahrgeld.
Lesungen in den eigenen vier Wänden
Zu den Gründungsvoraussetzungen des radix-Verlags gehörten neben der Technik und Logistik auch die Begegnungsmöglichkeiten in der obersten Etage des Ost-Berliner Hauses Knaackstraße 34. Bickhardt und Mehlhorn, die beiden Gründer, Herausgeber, Verleger, Lektoren und Distributoren der radix-blätter, wohnten und wirkten hier von 1982 bis 1986 eng zusammen. Das hatte viele Vorteile in einer Gesellschaft mit beschränkten Kommunikationsmitteln. Gemeinsam begannen sie Schriftstellerlesungen, Seminare und internationale Treffen in ihrer dafür offenen Wohnetage abzuhalten.
Bickhardt – von seinem Geburtsort Dresden über das Studium an der kirchlichen Ausbildungsstätte in Naumburg nach Berlin gekommen – sah in der Knaackstraße eine große Chance. Er hatte schon zuvor zahlreiche Kontakte zu Prager und DDR-Oppositionellen gepflegt, etwa zu Wolfgang Templin, Edelbert Richter oder Gerd Poppe. Aber auch zu Kunst- und Literaturschaffenden. Das wollten sie über alle Grenzen hinweg ausweiten, besonders Mehlhorn hatte einige Kontakte zu Oppositionellen in Polen.
„Ludwig Mehlhorn und ich organisierten bald nach meinem Einzug 1982 Lesungen. Da begegneten sich Menschen, die sich noch nicht kannten, da gab es Verabredungen für neue Projekte, da kamen mit einem Tagesvisum Besucher aus West-Berlin und auch polnische Freunde auf der Durchreise dazu. Es war wie eine selbst organisierte Gesellschaft. Bei allen Gefahren und der Verfolgung durch die Staatssicherheit etablierte sie sich mehr und mehr“.
Etwa zwei Dutzend Lesungen fanden – meist an Samstagabenden – bei geöffneten Flügeltüren in den beiden Wohnräumen von Bickhardt statt. Nach dem Umzug der Mehlhorns Jahr1986, der wegen der Baufälligkeit des Hauses notwendig wurde, ging es dann gleich um die Ecke weiter, in deren neuer Wohnung in der Wörther Straße 35. Anfangs erschienen 15 oder 30 Besucher, später drängelten sich manchmal bis zu 80 Zuhörerinnen und Zuhörer auf engstem Raum bis in den Wohnungsflur. Nicht nur bei den Lesungen wurde so der private Raum zum öffentlichen Raum. Es war auch sonst ein ständiges Kommen und Gehen: Gäste aus West-Berlin, Frankreich, den USA oder Polen und der damaligen Tschechoslowakischen sozialistischen Republik kamen vorbei, brachten Bücher, Gedanken und Ideen mit.
Wohnungen in Häusern wie der Knaackstraße 34 dienten auch im Alltag als Treffpunkte der besonderen Art, sie waren Ersatz für den fehlenden öffentlichen gesellschaftlichen Freiraum. Es waren Keimzellen des Widerstands und Zentren der Vernetzung einer milieuübergreifenden Opposition vieler unabhängiger Gruppen, die in der DDR schon seit Anfang der 1980er Jahre entstanden waren und sich nach 1985 im Aufschwung befanden.
Warum der Name „Radix“?
Die Idee für den Namen „Radix“ kam Stephan Bickhardt nach der Lektüre eines Gedichtes („radix, matrix“) von Paul Celan. „Radix“ bedeutet Wurzel – und die Texte in den radix-blättern, so sah er es, sollten den Verhältnissen in der DDR kritisch auf den Grund gehen. Man wollte an die Wurzel der Probleme. Bickhardt und Mehlhorn wollten ein eigenes Programm für einen Verlag erstellen, der Kunst, Opposition und kirchliche Basisgruppen in eine kritische und interessante Begegnung führen könnte. So entstand das erste Heft unter dem Titel „Schattenverschlüsse. Zu Paul Celan“. Mit Celan thematisierten sie im Jahr des Unfalls im Atomkraftwerk von Tschernobyl die Gefahren des Atomzeitalters, aber auch die mangelnde Verarbeitung des Faschismus in der DDR. Darauf folgten Hefte mit Titeln wie „Spuren”, „Wohnsinn”, „Oder” und „Atem“. Das „Oder”-Heft enthielt zahlreiche Texte aus Polen, eine symbolische Solidarnośćfahne war auf dem Titelblatt.
Die fünfköpfige Redaktionsgruppe des Heftes „Spuren“ schrieb in ihrem Vorwort: „Die Verfasser und Herausgeber dieser Mappe folgen den Spuren (der unabhängigen Friedensbewegung in der DDR, d. Vf.), auf denen nach ihrer Meinung weitergegangen werden sollte. Wir suchten nach den Initiativen, die Bewegung auslösten, so umstritten sie auch immer gewesen sein mögen. Dabei kam es darauf an, dass sie möglichst authentisch, also von den Beteiligten selbst beschrieben werden. Die rückblickenden Aufsätze stammen zumeist aus dem Jahr 1987 (...). Gerade die jüngsten konträren Erfahrungen (Olof-Palme-Friedensmarsch im Sommer 1987 sowie Verhaftungen und Hausdurchsuchungen im November 87 und Januar 1988) könnten uns veranlassen, intensiver als bisher nach den Wurzeln der christlichen und unabhängigen Friedensbewegung hier in der DDR zu suchen. In diesem Sinne stellen wir dieses Heft in die Reihe der radix-blätter – mit der Hoffnung, dass sich die Leser an der Spurensuche kritisch beteiligen“.
Der Autor Wolfgang Templin plädierte deshalb dafür, dass die Gruppen politischer werden sollten im Sinne einer „Politik von unten“, die ist seiner Ansicht nach in den neuen sozialen Bewegungen des Westens genauso lebendig wie in den östlichen Nachbarländern der DDR. Es ginge darum, endlich Ängste abzubauen und den Anderen zu unterstützen auf dem langen Weg des gemeinsamen Widerstandes. Man dürfe nicht länger ständig auf die Reaktionen der Regierenden in der DDR schielen oder gar um ihre Gunst buhlen. „Auch dort ist auf Einsicht vielleicht immer noch zu hoffen, aber sie braucht den mündigen, selbstbewussten Bürger als Gegenüber. Für diese tastenden Versuche eines neuen politischen Handelns, nicht nur in der Friedensbewegung, gibt es noch kein entwickeltes Konzept. Der DDR fehlen eine Tradition eigenständiger gesellschaftlicher Bewegung und eigentlich auch eine Kultur der Demokratie.“
Erstaunlich ist auch, was in dieser Ausgabe der radix-blätter nur ein paar Seiten zuvor aus einem offenen Brief einiger DDR-Bürgerrechtler steht: „Für uns in der DDR ist die Durchsetzung folgender Rechte eine wichtige Aufgabe:
Recht auf freie Meinungsäußerung
Recht auf freie Information
Recht auf Freizügigkeit
Recht auf uneingeschränkte Reisefreiheit
Recht auf Versammlungs- und Vereinigungsfreiheit
Chancengleichheit in der Bildung, unabhängig von Religion und Weltanschauung”.
Angesichts des bevorstehenden 25. Jahrestages des Baus der Berliner Mauer am 13. August 1961 startete Ludwig Mehlhorn 1986 eine Initiative gegen die Systemabgrenzung der DDR. Dies sollte das Verlagsprogramm beeinflussen und weiter politisieren. Später wurden auch zu Tausenden mehrseitige Flugschriften gedruckt, insbesondere für die radix-Kampagne „Absage an Praxis und Prinzip der Abgrenzung“. 1987 entstanden die Hefte „Aufrisse 1. Absage an Praxis und Prinzip der Abgrenzung“, „Aufrisse 2. Über das Nein hinaus“, „Weil alle Abgrenzung …“. Die Schrift „Neues Handeln” wurde Pfingsten 1988 in einer Auflage von mehr als 25.000 Stück gedruckt.
Die Druckerei in der Mietwohnung von Charlotte und Peter Bickhardt produzierte 1988/89 auf Hochtouren. Drei von den Heftverkäufen bezahlte Drucker arbeiteten dort zum Teil ganztags, zu 10 Mark Stundenlohn, schwarz natürlich. Einen sozialversicherungspflichtigen, offiziellen Job hatte man zur Tarnung woanders – bei der evangelischen Kirche.
Relativ offen wurden bei Lesungen oder anderen Gelegenheiten über Themen für ein Heft debattiert, Exemplare verkauft oder mögliche Autorinnen und Autoren angesprochen. Um jeden Preis geheim musste dazu der Ort der Vervielfältigung bleiben. Bis zum Ende der DDR fand die Stasi nichts über die Herstellung der radix-blätter heraus, konnte sie nicht stoppen, und verhaftete oder verhörte auch niemanden von den Herausgebern, Leserinnen und Lesern oder Autorinnen und Autoren.
Um die Aufmerksamkeit der Sicherheitsorgane nicht unnötig zu provozieren, erhielt jedes gedruckte radix-Heft, entsprechend dem inhaltlichen Schwerpunkt, einen anderen – eher unauffälligen – Titel. Auf periodisch erscheinende Publikationen reagierten Staat, Partei und Geheimdienst wesentlich empfindlicher als auf einzelne Hefte mit wechselndem Autorenkreis. Zwar waren viele der Beteiligten der Stasi durch ihr Engagement in Basisgruppen schon aus anderen Zusammenhängen als sogenannte feindlich-negative Personen aufgefallen und erfasst worden, doch standen sie nicht unter Dauerbeobachtung und wurden nur temporär beschattet. Bickhardt glaubte, auch ein Apparat wie die Stasi könnte sich verzetteln: „Ich habe immer gesagt, man müsse versuchen, Unübersichtlichkeit in der DDR herzustellen. Möglichst viele Aktivitäten gleichzeitig und ohne erkennbare Struktur.“
Stasi blieb ahnungslos
In den Stasi-Akten von Dirk Sauermann findet sich keinerlei Hinweis, dass der Geheimdienst auch nur ahnte, was er Illegales machte. Auch bei den anderen direkt Beteiligten: nichts. Wie sehr die Stasi bei den technischen Produktionswegen der radix-Publikationen im Dunkeln tappte, zeigen einige Geheimdienst-Berichte über DDR-weit verbreitete radix-blätter. Da alle Artikel jedoch mit vollem Namen gezeichnet waren, konnte die Stasi als schlichtes Ermittlungsergebnis in ihren Akten lediglich Inhaltsverzeichnisse und die Namen der Autoren auflisten. Kein Autor wurde vorgeladen und verhört. Besonders die Berichte der Ost-Berliner Kreisdienststelle Friedrichshain zeugen von deren großer Ahnungslosigkeit.
Am 3. Dezember 1988 verfasste ein Oberst Niesler, immerhin Leiter dieser Kreisdienststelle, drei Expertisen über nichtlizenzierte Druck- und Vervielfältigungserzeugnisse. Es geht darin allein um die radix-blätter „Aufrisse 1“ und „Aufrisse 2“ sowie um „Neues Handeln“ und die Schrift „Weil alle Abgrenzung ...“. Herausgeber und Verfasser kann der Oberst natürlich einfach benennen. Doch bei entscheidenden Dingen muss er passen:
„2.2. Herstellungsort: zur Zeit nicht bekannt
2.3. zur Herstellung verwendete technische Mittel: zur Zeit nicht bekannt
2.4. zur Vervielfältigung verwendete technische Mittel: zur Zeit nicht bekannt
3.2. Umfang des Vertriebes: zur Zeit nicht bekannt
3.3. Wege des Vertriebes: weitere Erkenntnisse liegen zur Zeit nicht vor.
Hinweise auf Personen, die an der Vervielfältigung und Verbreitung beteiligt waren oder sind, rechtliche Einschätzungen zu den nichtlizenzierten Erzeugnissen sowie Erkenntnisse über Pläne und Absichten zur künftigen Herstellung liegen (...) nicht vor“.
Das ist – immerhin ist es Dezember 1988 und die radix-blätter erscheinen schon seit zwei Jahren – nicht gerade viel an Erkenntnissen für einen Geheimdienst mit rund 300.000 hauptamtlichen und inoffiziellen Beschäftigten. Die letzte direkte Einschätzung zu den radix-Publikationen „Aufrisse 2“ und „Weil alle Abgrenzung …“ ist vom 18. August 1989 und stammt von der Hauptabteilung XX/7. Sie enthält geradezu eine gewisse Portion Anerkennung für die Herausgeber und Autoren:
„Nicht zu übersehen ist der intellektuelle Aufwand, das heißt die Nutzung von wissenschaftlichen oder wissenschaftlich verbrämten ‚Beweisen’ für Nichthumanität gegenüber Gesellschaft und Natur in der DDR. Die Methode der Publikationsmacher ist: Bereitstellung unmittelbar argumentativen Materials für den Gruppen- und Öffentlichkeitsgebrauch“, denn das Heft laufe hinaus auf eine:
„Demokratisierung der DDR von unten
Öffnung in geistiger, grenz- und reiseregelnder Hinsicht
Preisgabe des ‚politischen Monopols’ der SED
Veränderung der ökologischen Situation
Umwandlung der SED auf der Grundlage der Liquidation des Prinzips des demokratischen Zentralismus, insbesondere bei Edelbert Richter ‚Die SED vor der Umgestaltung’. Der Beitrag muss als direkte Fremdeinmischung in Parteitätigkeit und Parteiaufbau der SED gewertet werden“.
Die Stasi-Berichte über die radix-blätter brechen damit ab. All diese Punkte werden durch die politische Entwicklung der anschließenden Wochen und Monate des Jahres 1989 zur Realität. Und mehr: Stephan Bickhardt und Ludwig Mehlhorn gründen nur einen Monat nach dieser Einschätzung die Gruppe „Demokratie jetzt“,
Zitierweise: Peter Wensierski, Für die Freiheit verlegt - die radix-blätter, in: Deutschland Archiv, 14.3.2019, Link: www.bpb.de/287106