DA: Sie leiten das Historische Archiv zum Tourismus (HAT) an der TU Berlin. Was kann eine Untersuchung des Urlaubsverhaltens zur Erkenntnis des Zustands einer Gesellschaft beitragen?
Hasso Spode: Enorm viel. Auf der politik- und sozialhistorischen Ebene, gleichsam von Nahem betrachtet, öffnet die Frage, wer wie Urlaub macht, den Blick für die Idealbilder vom „guten Leben“ – und für die status- und herrschaftspolitischen Ambitionen und Konflikte, die mit der Realisierung des Traums vom schönen Anderswo einhergehen. Auf der mentalitätshistorischen Ebene, gleichsam von Weitem betrachtet, erweist sich der touristische Raum- und Erfahrungskonsum als ein Schlüssel zum Verständnis der Welt und des Menschen seit dem 18. Jahrhundert: Diese im Kern romantische, seltsam nutzlose Form des Reisens ist ein „Leitfossil“ der Moderne.
DA: Die DDR verankerte den Anspruch auf bezahlten Urlaub in ihrer Verfassung. Wie sah das in der Bundesrepublik aus?
Hasso Spode: Verfassungsrang hatte der Urlaub nie. Zunächst gaben die Länder unterschiedliche Mindeststandards vor. Erst 1963 kam es, gegen den Widerstand der FDP, zu einem einheitlichen Bundesurlaubsgesetz, das legte anfangs 18 Tage Urlaub fest. Damals wie heute lagen die tarifvertraglichen meist über den gesetzlichen Ansprüchen. Sie sagen zum Beispiel nichts über ein extra Urlaubsgeld aus, das setzte erstmals die IG Metall 1964 durch.
DA: Wann kam es zu einem ersten Boom des Tourismus in der Bundesrepublik und was waren die Gründe? Und ab wann war eine jährliche Urlaubsreise für die Mehrheit der Bundesbürger normal?
Hasso Spode: Schon bald nach Kriegsende kam es in allen vier Besatzungszonen zu einer Wiederbelebung des Tourismus, unter primitivsten Umständen. Ein paar Jahre später hieß es im Westen, die „Reisewelle“ habe die „Fresswelle“ abgelöst. Das war zahlenmäßig betrachtet stark übertrieben, doch es zeigt: Der Wunsch nach touristischem Erleben war bereits vor dem Krieg in Deutschland verankert gewesen. Die Mehrheit der Bundesbürger konnte sich diesen Wunsch allerdings erst relativ spät erfüllen. Erst ab 1973 überschritt die Reiseintensität die 50-Prozent-Marke, also mehr als die Hälfte der Bundesbürger fuhren in den Urlaub. Wirklich „normal“ wird das alljährliche Verreisen für breiteste Schichten erst im darauffolgenden Jahrzehnt.
DA: In der DDR setzte die Staats- und Parteiführung auf einen Sozialtourismus, der mit den Angeboten des Freien Deutschen Gewerkschaftsbundes (FDGB), der Betriebe und der Freien Deutschen Jugend (FDJ) etwa die Hälfte aller Reisen organisierte. Wie sah es in der Bundesrepublik aus?
Hasso Spode: Dies spielte in der „sozialen Marktwirtschaft“ keine dominante Rolle. Wohl hatten die Gewerkschaften eine Wiederbelebung des Sozialtourismus der Weimarer Jahre in Angriff genommen. Deren Reiseorganisationen – die Gemeinschaft für Sozialtouristik und Reisesparen (Gesorei) und die Deutsche Feriengemeinschaft (DFG) – kamen jedoch nie über einige zehntausend Teilnehmerinnen und Teilnehmer hinaus und wurden in den 1960er Jahren aufgelöst. Andere, wie die Naturfreunde, sind bis heute aktiv. Doch der arbeiterbewegte Sozialtourismus „von unten“ verlor im „Wirtschaftswunder“ mehr und mehr seine Grundlage: den niedrigen Lebensstandard.
Zweitens entfalteten die Kirchen sowie Verbände, Parteien und große Firmen sozialtouristische Aktivitäten. So erwarben beispielsweise die NSU Motorenwerke, heute Audi, ein Campingareal am Lido. Drittens entwickelte sich auch ein quasistaatlicher Sozialtourismus, etwa in Gestalt des Deutsch-Französischen Jugendwerks – vor allem aber für die „Frontstadt“ Berlin. Seit der Blockade 1948/49 wurde hier wieder eine Art Kinderlandverschickung organisiert, und als die DDR begann, West-Berliner Kinder kostenlos in Pionierlager aufzunehmen, wurde 1956 die ARD-Fernsehlotterie gegründet, deren Erlöse dem Bau bayerischer Feriendörfer zugutekamen, in denen bedürftige West-Berliner subventionierten Urlaub machen konnten.
Alle drei Formen sozialtouristischer Aktivitäten blieben letztlich von begrenzter Wirkung. In den 1960er Jahren machten sie, zusammen mit den Zeltlagern der Kirchen und Verbände, rund zehn Prozent des Fremdenverkehrs aus – ein Angebot für Jugendliche und für sozial Schwache. Dem Internationalen Büro für Sozialtourismus trat die Bundesrepublik nicht bei; noch 2011 stellte Die Linke im Bundestag vergeblich einen entsprechenden Antrag.
DA: Gab es eine Kontinuität zu den pauschaltouristischen Angeboten der nationalsozialistischen Kraft durch Freude-Organisation (KdF) oder war der bundesdeutsche Tourismus eine bewusste Abkehr davon?
Hasso Spode: Beides! Einerseits hatte die Pauschalreise – und damit übrigens auch der Sozialtourismus – zunächst ein doppeltes Imageproblem: irgendwie galt sie sozusagen als nazimäßig und proletarisch. Die Leute fuhren lieber auf eigene Faust in den Urlaub und konnten hierfür zunehmend das eigene Auto nutzen. Erst Mitte der 1970er Jahre wird die Vorkriegsquote der Veranstalterreisen von rund einem Fünftel übertroffen, um sich dann bis 1989 zu verdoppeln – hier verlief der Trend genau entgegengesetzt zur DDR, wo umgekehrt die selbstorganisierte Reise zunahm.
Anderseits aber hatte das KdF-Prinzip „großer Umsatz, kleine Preise“ bei der Gründung des Tourismusunternehmens Touropa 1948 Pate gestanden, das 1968 zum Kern der heutigen TUI-Gruppe wurde. Dessen Chef, Carl Degener, hatte schon in der NS-Zeit einen kommerziellen Billigtourismus aufgebaut und machte die Touropa in den 1950er Jahren zum größten westdeutschen Veranstalter, zeitweilig zum größten „kapitalistischen“, überhaupt.
An die Kundenzahlen des FDGB-Feriendienstes kam die Touropa aber nicht heran. Hauptziel war zunächst, wie bereits vor 1945, das oberbayerische Ruhpolding. Mit seinem bajuwarischen Klamauk in den Bierzelten war Ruhpolding der Vorläufer der Schinkenstraße auf Mallorca – und der Nachfolger der weinseligen KdF-Wochenendfahrten an Rhein und Mosel.
DA: Gab es sonstige Referenzpunkte und Vorbilder für den bundesrepublikanischen Tourismus?
Hasso Spode: Hier ist zunächst eine lange Kontinuitätslinie zu konstatieren, die bis in die elitäre, klassisch bürgerliche Praxis der Erholungs- und Bildungsreise im Kaiserreich zurückreicht. In den sechs KdF-Jahren trat zwischenzeitlich ein industrialisierter Massentourismus auf den Plan, doch erst um 1970 kam jene Demokratisierung, Standarisierung und Entortung des Reisens endgültig zum Durchbruch, die seither den Tourismus kennzeichnet und zur größten Dienstleistungsbranche der Welt werden ließ.
DA: Und ab wann wurden Fernreisen zu einem Teil des Marktes und wie entwickelten sich diese?
Hasso Spode: Das hängt davon ab, was man unter „Ferne“ versteht. Erst nachdem die Bundesrepublik 1951 die Passhoheit erhalten hatte und 1954 die Visumpflicht für viele Länder entfiel, konnte eine nennenswerte Zahl überhaupt in die „Ferne“, also ins Ausland reisen. In der Prospektsammlung des HAT fand sich zu meiner Überraschung zwar, dass Degener schon 1953 eine Algerientour im Angebot hatte, und der kleine Veranstalter Kahn-Reisen dann Flüge nach Afrika organisierte. Doch exotische Destinationen blieben – wie übrigens schon um 1900, als es bereits Weltreisen zu kaufen gab – eine Marktnische.
DA: Und was waren dann so die Sehnsuchtsorte bundesdeutscher Reisender im Laufe der Jahrzehnte?
Hasso Spode: Italien, Italien und Italien.
DA: Hat sich das Italienbild der Deutschen und damit auch die Art des Italienurlaubs seit seinen Anfängen verändert und ändert sich das immer noch?
Hasso Spode: Spätestens seit Goethe hat Italien seinen Stammplatz in der Seele des deutschen Bildungsbürgers: Ein arkadisches Traumland voll Kunst und Geschichte – nur die „faulen Italiener“ störten diese Idylle. In der Nachkriegszeit wurde diese Tradition fortgeschrieben, einschließlich einer gewissen Herablassung gegenüber den Bereisten, nun allerdings zusätzlich befeuert durch die Medien und Schlager wie die Capri-Fischer. Die Edelschnulze war schon 1943 eingespielt worden, kam aber nicht in den Handel, da die Amerikaner die Insel besetzt hatten. Eine Neuaufnahme in der Sowjetischen Zone war ein Flop, doch 1949 wurde das Lied zum Hit, diesmal gesungen vom Altstar Rudi Schuricke. Die Illustrierte Revue titelte: „Deutschlands Sonne scheint in Italien!“
Im kriegszerstörten, sittenstrengen Adenauer-Deutschland brach eine Italomanie aus mit Eisdielen, Pizza, Ravioli, Miracoli, Lido-Kragen und Capri-Hose. Auch der Italienurlaub, anfangs eher ein Medienhype, wurde allmählich Realität: Um 1960 ging knapp ein Zehntel der Haupturlaubsreisen nach Italien. Dabei folgte man den althergebrachten, bürgerlichen Pfaden: Sightseeing an den klassischen Stätten und „dolce far niente“ an den malerischen Buchten, letzteres nun oft auf dem Zeltplatz.
Doch dann plötzlich mutierte das Land „wo die Citronen blühn“ zum „Teutonengrill“: Die Küsten wurden mit hastig hochgezogenen „Betonkästen“ zugebaut, untere Schichten konnten sich Italien nun ebenfalls leisten. Und statt in die Florentiner Uffizien strömen sie an die Strände der Adria, wo die Liegestühle in Reih und Glied auf sie warteten – die heitere Sonne wurde zur „Schmore“. Erst um 1990 kam das tradierte Italienbild abseits der Badestrände wieder zum Tragen: Wer in der politischen Avantgarde Rang und Namen hatte, zählte sich zur „Toskana-Fraktion“.
DA: Was hat die Bundesdeutschen – neben offensichtlichen Einkommensunterschieden – bei der Wahl der Urlaubsorte beeinflusst?
Hasso Spode: Die Erreichbarkeit und die Vertrautheit. Zunächst ging es in die westdeutschen Gebirge und Seebäder. Schrittweise wagte man sich weiter vor, in die Nachbarländer, und hier zunächst in das so vertraute Österreich, das ja unlängst noch zum „Reich“ gehört hatte. Dann, wie erwähnt, mit dem Auto, Zug oder Bus nach Italien; hier waren die Deutschen, anders als in Frankreich oder Holland, auch ausgesprochen willkommen. In den 1960er Jahren setzte zudem der Flug-Tourismus an fernere Gestade ein. „Neckermann macht’s möglich“: Jugoslawien, Tunesien, Bulgarien und voran Spanien – dank der neuen Düsenflugzeuge lag Mallorca nun näher als Sylt oder Rimini, und war auch noch billiger. Den endgültigen Triumph der Flug-Pauschalreise brachte der „Jumbo-Jet“ 1971, doch bereits drei Jahre vorher wurde die Haupturlaubsreise erstmals mehrheitlich im Ausland verbracht. Am Ende erreichte die Quote des Auslandsurlaubs etwa den heutigen Wert von rund 70 Prozent. Für kleine Länder, wie Luxemburg, nicht ungewöhnlich, doch gemessen an der Größe Westdeutschlands ein Spitzenwert.
DA: Und wie verhielt es sich mit touristischen Reisen von Bundesbürgern in die DDR abseits von Verwandtenbesuchen? Gibt es Zahlen dazu und wo ging es hin?
Hasso Spode: Mehrfach hatte die DDR-Führung nach den Ostverträgen 1971/72 angekündigt, den Incoming-Tourismus aus dem „kapitalistischen Ausland“, sprich: aus Westdeutschland, anzukurbeln. Ein ambitioniertes Ziel, galt doch die DDR den meisten Bundesdeutschen als grauer Polizeistaat. Doch es blieb zunächst bei halbherzigen Versuchen, dieses Image aufzupolieren und – nach dem Vorbild anderer Ostblockstaaten – „Valuta-Gäste“ massenhaft anzulocken. Zu groß war die Angst vor „staatsfeindlichen Umtrieben“, zu knapp die Mittel für den Aufbau konkurrenzfähiger Infrastrukturen. Schlimmer noch: Touristisch relevante Altstadtensembles, Schlösser und Kirchen waren dem Verfall preisgegeben – sofern sie nicht schon unter Walter Ulbricht durch unpersönliche sozialistische Musterstadträume ersetzt worden waren.
Es wurden einige Städte-Rundfahrten angeboten und die TUI nahm probehalber den Thüringer Wald ins Programm. Erst in den 1980er Jahren wurde das „Reiseland DDR“ aber dann ernsthaft vermarktet, und zwar als kulturtouristische Destination. Hochglanzprospekte wurden gedruckt, man konnte nun Karten für ostdeutsche Bühnen buchen, es wurde ein Linienbus von der West-Berliner City nach Sanssouci in Potsdam eingerichtet. Und es wurde kräftig investiert: Die „Hauptstadt der DDR“ erhielt elegante Nobelhotels und mit dem Nikolaiviertel einen neo-mittelalterlichen Stadtkern, der umgehend zur Touristenattraktion wurde. Zugleich wurde der vom Reisebüro der DDR organisierte Besichtigungstourismus intensiviert: zum Dresdener Zwinger, zur Wartburg, nach Weimar, in die Messestadt Leipzig und zur Berliner Museumsinsel. Dies hatte freilich einen peinlichen Nebeneffekt: Entsetzt registrierten die Teilnehmer den oft desolaten Zustand der Kulturdenkmäler. Diese Bustouren nahmen zwar beachtlich zu, blieben aber mit jährlich 150.000 Teilnehmern letztlich ein Randphänomen und brachten lediglich 25 Millionen „Valutamark“ ein.
DA: Daneben gab es ab 1972 aber auch noch den Kleinen Grenzverkehr, zumal von West- nach Ost-Berlin?
Hasso Spode: Da sah es ganz anders aus. Diese Einreisen, überwiegend Tagesbesuche, gingen in die Millionen. Keineswegs nur Verwandtenbesuche, sondern auch touristische Entdeckungs-, Einkaufs- und Sauftouren. Mit Westmark in der Tasche ließ es sich da wie Krösus leben! Vor allem Studenten, Gastarbeiter und Lehrlinge machten vom Währungsgefälle Gebrauch. Für Schulklassen auf Berlin-Besuch war ein Abstecher in den „Osten“ aus Gründen der Staatsraison ohnehin obligatorisch. All dies brachte der DDR allein schon durch den erzwungenen „Mindestumtausch“ begehrte „Valuta“ ein, hatte aber auch nichtintendierte Folgen: Die D-Mark wurde zur Zweitwährung, was die Gesellschaft spaltete und die ohnehin verbreitete Schattenwirtschaft befeuerte, bis hin zur Gelegenheitsprostitution. Und vor allem: Die massenhaften, unkontrollierbaren Ost-West-Begegnungen unterliefen jede Propaganda und schürten den Unmut über das Regime.
DA: Blicken wir in die westlichen Nachbarländer. Haben die Franzosen, Italiener oder Spanier anders Urlaub gemacht?
Hasso Spode: Grundlegend anders sahen die Urlaubspraktiken nicht aus. Doch in allen drei Ländern lag der Anteil der Auslandsreisen deutlich niedriger. Die Bundesdeutschen zeigten sich mithin mutiger, offener für das Fremde. Das passt übrigens so gar nicht ins Bild linksintellektueller Tourismus- und Deutschlandkritiker, die immer wieder – wie noch 1988 Gerhard Polt in seinem Film „Man spricht deutsh [sic]" – über fehlangepasste Bundesbürger im Ausland herzogen.
DA: Der DDR wird immer nachgesagt, ein Land der Zelter gewesen zu sein. Wie sah es in der Bundesrepublik aus?
Hasso Spode: In der Tat war die DDR in der Honecker-Ära das Camper-Paradies. In der Bundesrepublik spielte diese Urlaubsform aber ebenfalls eine große Rolle. Da Westdeutschland schon in den späten 1950er Jahren zum „Autoland“ geworden war, setzte die „Campingwelle“ hier sogar früher ein. Zu unterscheiden sind zum einen die Dauercamper, die sich von den Alpen bis zur Ostsee ausbreiteten – das Gegenstück zum Datschenwesen in der DDR. Zum andern die mobilen Camper, die mit dem Zelt und später dem Wohnmobil entweder einen bestimmten Campingplatz ansteuerten, oder aber, seit den späten 1960er Jahren, weiträumig umherschweiften. Emblematisch hierfür ist bis heute der VW-„Bulli“, mit dem es auf dem „Hippie-Trail“ bis nach Indien ging. Da Campingreisen zunehmend ins Ausland führten, liegen mir hierfür keine brauchbaren Übernachtungszahlen vor; sicher lag deren Anteil am Gesamttourismus aber niedriger als in der DDR, wo 15 Prozent der Bevölkerung ihren Urlaub auf dem Campingplatz verbrachten.
DA: Diente der Tourismus auch einer Selbstlegitimierung? Bewies die steigende Zahl Bundesdeutscher, die sich einen Auslandsurlaub leisten konnten, die Überlegenheit des Systems gegenüber der DDR?
Hasso Spode: Natürlich bewies dies die Überlegenheit des Systems und natürlich wurde es auch – im Gegensatz zu der kaum bekannten Tatsache der geringeren Reiseintensität im Vergleich zur DDR – ausgiebig thematisiert, in den Medien und mehr noch in privaten Gesprächen. Da reichte es ja schon, wenn die „Westverwandtschaft“ stolz ihre Urlaubsdias aus Florida präsentierte. Wobei weniger das Sich-Leisten-Können im Vordergrund stand, als vielmehr das Reisen-Können überhaupt, also die Frage der „Reisefreiheit“. Politisch wurde das im Kontext der Entspannungspolitik kaum noch kämpferisch kommuniziert; hier wiederum reichte es, Besuchern die Berliner Mauer zu präsentieren.
DA: Wie groß waren die realen Unterschiede in der Reiseintensität zwischen der Bundesrepublik und der DDR?
Hasso Spode: Zunächst einmal: Die Reiseintensität, also der Bevölkerungsanteil, der mindestens eine Urlaubsreise im Jahr macht, ist die entscheidende Maßzahl der Demokratisierung des Tourismus. Leider lassen sich die „realen“ Werte nicht so exakt beziffern wie Sie vielleicht annehmen – und wie die konkurrierenden Institute suggerieren, die diese Daten erheben und veröffentlichen. Vielmehr führten und führen unterschiedliche Definitionen des Begriffs „Reise“ und unterschiedliche Standards bei der Samplebildung zu stark abweichenden Angaben. Auch die Geschichtsforschung ist sich da nicht ganz einig.
Bei aller Vorsicht lässt sich aber sagen, dass beide Deutschlands im Grundsatz einen erstaunlichen Gleichklang bei der Entwicklung der Reiseintensität aufwiesen. Genauer betrachtet zeigen sich allerdings interessante Unterschiede: Ulbrichts legendäre Zielvorgabe „überholen ohne einzuholen“ wurde hier tatsächlich eingelöst. Hinkte die DDR in den 1950er Jahren der Bundesrepublik, wo die Reiseintensität um die 20 Prozent erreichte, wahrscheinlich noch hinterher, so näherte sie sich in den 1960er Jahren dem westdeutschen Wert von rund 40 Prozent Zug um Zug an. Etwa ab 1970 wurde die westdeutsche Reiseintensität dann – dank des immer höher subventionierten Sozialtourismus und steigender Realeinkommen – mit 50 Prozent leicht und 1989, als zwei Drittel der Westdeutschen verreisten, mit 75 bis 85 Prozent sogar deutlich übertroffen – die Ostdeutschen waren damit „Reiseweltmeister“.
DA: Das ist in der Tat sehr überraschend! Und gibt es heute noch Unterschiede in der Urlaubsplanung der Ost- und Westdeutschen?
Hasso Spode: Ich bin Historiker. Da sollten Sie besser die Macher der Reiseanalyse (RA) fragen. Aus dieser führenden, seit 1970 durchgeführten Erhebung geht jedenfalls hervor, dass sich bei den Mustern der Urlaubsgestaltung die „Ossis“ erstaunlich schnell den „Wessis“ angeglichen hatten. Wobei natürlich im Detail weiterhin unterschiedliche Präferenzen bestehen; Hamburger zieht es eher an die Nordsee, Berliner eher an die Ostsee. Das FDGB-Ferienheim aber wünscht sich wohl kaum jemand zurück.
Interview: Clemens Maier-Wolthausen
Zitierweise: „Deutschlands Sonne scheint in Italien!“ Zur Entwicklung der Reiselust und des Tourismus in der Bundesrepublik, Interview mit Hasso Spode, in: Deutschland Archiv, 30.5.2018, Link: www.bpb.de/269661