Besprochene Werke
Volker Benkert, Glückskinder der Einheit? Lebenswege der um 1970 in der DDR Geborenen, Ch. Links Verlag, Berlin 2017, 352 Seiten, 40,- EURO; ISBN 978-3-86153-957-5.
Christiane Eisler, WUTANFALL. Punk in der DDR 1982 -1989. Die Protagonisten damals und heute, Bildband, hg. mithilfe einer Crowdfunding-Aktion, Leipzig 2017, 316 Seiten; 50,- EURO; ISBN 978-3-00-056092-7; zu beziehen über: www.transit.de oder eisler-foto@gmx.de.
Kirsten Gerland, Politische Jugend im Umbruch von 1988/89. Generationelle Dynamik in der DDR und der VR Polen (Göttinger Studien zur Generationsforschung, hg. von Dirk Schumann, Band 22), Wallstein Verlag, Göttingen 2016, 432 Seiten; 39,90 EURO; ISBN 978-3-8353-1849-6.
Peter Wensierski, Die unheimliche Leichtigkeit der Revolution. Wie eine Gruppe junger Leipziger die Rebellion in der DDR wagte, Deutsche Verlagsanstalt, München 2017, 464 Seiten; 19,90 EURO; ISBN 978-3-421-04751-9.
Die friedliche Revolution 1989/90 in der DDR war keine Erhebung Jugendlicher. Das bestätigen sowohl quantitative Befragungen unter den Teilnehmerinnen und Teilnehmern der legendären Leipziger Montagsdemonstrationen (deren Kern demnach männliche Arbeiter und Angestellte zwischen 25 und 55 Jahren bildeten) als auch Analysen der sozialen Zusammensetzung der DDR-Bürgerbewegung. Das Alter ihrer führenden Köpfe berechtigt durchaus, von einer Revolution der 40-Jährigen zu sprechen.
Andererseits belegen Berichte über frühe Demonstrationen in Forst, Leipzig, Potsdam, Weißenfels oder Dresden, dass sich in ihren vorderen Reihen vor allem Jugendliche fanden. Schlagartig ändert sich das Altersbild auch, wenn die Massenflucht über Ungarn und die Botschaften der Bundesrepublik in Prag und Warschau im Sommer/Herbst 1989 als weiterer Auslöser für den Kollaps des SED-Staates einbezogen wird: Das Durchschnittsalter der Flüchtlinge lag damals bei circa 23,5 Jahren. Deshalb beschäftigt die Frage, welchen Anteil Jugendliche am Sturz der DDR hatten, aber auch wie dieses Ereignis die Heranwachsenden geprägt hat, bis heute Forschung und Zeitgeschichtsschreibung. Und dies mit durchaus disparaten Ergebnissen, wie vier neuere Publikationen dazu belegen. Dies gilt auch hinsichtlich der Problematik, ob ihre Alterskohorte in der politischen Umbruchphase von 1989/90 ein eigenes Generationsverständnis auszuprägen vermochte oder nicht.
Politische Jugend im Umbruch von 1988/89
Die DDR war lange kein Hort oppositioneller Bewegungen. Das kommunistische Herrschaftssystem Osteuropas wurde zuerst von Polen aus, namentlich der Solidarność-Bewegung der 1980er Jahre, ins Wanken gebracht. Dort geschah dies von Beginn an unter einer (auch quantitativ) starken Beteiligung Jugendlicher. Darüber war in Deutschland bisher wenig bekannt. Auch fehlten vergleichende Analysen mit der Opposition in der DDR. Kirsten Gerland fragt in ihrem Buch „Politische Jugend im Umbruch von 1988/89. Generationelle Dynamik in der DDR und der VR Polen“, warum Jugendliche im Osten Deutschlands vergleichsweise wenig in den politischen Umbruchprozess eingegriffen hätten. Die Folge ist: „Während die jungen Polen mit der Geschichte des Widerstands verknüpft werden […] besitzt die politische Jugend“ der DDR „keine vergleichbare öffentliche Thematisierung und Wahrnehmung.“ Dementsprechend sei „ihre Geschichte“ nach der Wiedervereinigung auch rasch wieder „untergegangen“ (S. 380). Gerland setzt sich detailliert „mit dem Charakter und den politischen Zielen“ des „Jugendaktivismus“ in beiden Ländern auseinander und fragt – davon abgeleitet – ob es in Polen und der End-DDR „zu einer vergleichbaren Generationsbildung“ kam beziehungsweise „wodurch die Unterschiede in der Entstehung einer Generationsrede“ zu erklären seien (S. 8).
Doch sind die Ergebnisse der Analysen beider Länder nur schwer miteinander vergleichbar. Während Gerland für Polen ein ganzes Kaleidoskop unabhängiger Jugendgruppen in den Blick nimmt, deren historisches Selbstverständnis bis zur Nationalromantik des polnischen Freiheitskampfes des frühen 19. Jahrhunderts zurückreichte (S. 235 ff), bezieht sie sich für die DDR allein auf jenes kurzlebige Spektrum politischer Gruppierungen, die von Oktober 1989 bis März 1990 „als unabhängige Jugendvereinigungen der Bürgerbewegungen“ agierten – namentlich des Demokratischen Aufbruchs, der neugegründeten Sozialdemokratischen Partei der DDR (SDP), der zur FDP gewandelten, ehemaligen Blockpartei LDPD oder der unabhängigen Umweltbewegung (S. 85 ff). Dass die im Herbst 1989 tonangebenden Bürgerbewegungen – Neues Forum, Demokratie Jetzt und Initiative Frieden und Menschenrechte – über keine eigenen Jugendvereinigungen verfügten, sondern auch, dass es ihren jungen Mitgliedern überhaupt nicht darum ging, eine „neue Jugendbewegung […] als Gegenpart zur Einheitsjugendorganisation der FDJ“ (S. 383) aufzubauen, berücksichtigt die Autorin nicht. Deren Ansatz war fundamentaler, ging es ihnen doch um eine Reformierung der DDR insgesamt!
Die unheimliche Leichtigkeit der Revolution
Bereits Jahre vor dem Herbst 1989 hatten sie sich – meist unter dem Schutzdach der evangelischen Kirche – in jugenddominierten Basisgruppen zu Friedens-, Menschenrechts- oder Umweltfragen engagiert. Wie sie sich mit wohlkalkulierten, politischen (Protest-)Aktionen Stück für Stück den öffentlichen Raum eroberten, beschreibt der langjährige Reporter des ARD-Magazins Kontraste Peter Wensierski in seinem Buch „Die unheimliche Leichtigkeit der Revolution“ überaus lebendig anhand einer Gruppe junger Leipziger, die in kurzer Zeit Unglaubliches bewegten, weil sie ihre Angst vor dem SED-System überwanden und den Staat immer offener herausforderten.
In 25 Leipziger Basisgruppen „trafen sich 1988 etwa 300 Mitglieder regelmäßig […]. Sie waren selten über 25 Jahre alt und vermochten zusammen ein Vielfaches an Leuten zu mobilisieren.“ Sie entfalteten „ein beträchtliches alternatives Potential in der Stadt“ (S. 37); bald aber auch darüber hinaus. Mittels konspirativer Netze, die sie über Jahre geflochten hatten, stellten sie vor wichtigen Aktionen stets sicher, „dass Westpresse und -fernsehen über deren Inhalt […] berichten konnten, und auch ihre Freunde von der Charta 77 in Prag“ Bescheid wussten (S. 214). Das gab ihnen eine gewisse Absicherung bei Zuführungen und Verhaftungen durch Polizei und Staatssicherheit. Deshalb ließen sie sich auch nicht mehr von dem Grundgefühl früherer DDR-Oppositioneller – „ständige Niederlagen, zerstörte Hoffnungen, Resignation“ – lähmen.
„Die Angst vor sowjetischen Panzern schien ihnen nicht mehr real, da Gorbatschow in Moskau seit 1985 für […] Transparenz und Umgestaltung eintrat. Auch in anderen Ländern des Ostblocks bewegte sich etwas, nur in der DDR nicht. Sie fühlten, da war mehr möglich, wenn man es nur wagen würde“ (S. 101).
Ältere Berliner Oppositionelle hielten sie deshalb „für jugendliche Draufgänger, blauäugig, naiv und unbeholfen“ und „überschütteten sie mit Vorwürfen“, die gesamte Arbeit der Bürgerbewegung zu gefährden. Uwe Schwabe, einer der jungen Leipziger Bürgerrechtler, antwortete ihnen:
„Mag sein, dass wir nicht alles bedacht haben […] Aber wir haben gehandelt und gemerkt, wie kopflos die Stasi reagiert […] dann können wir vielleicht noch viel weiter gehen!“ (S. 273).
Und so folgte ab Herbst 1987 – nahezu im Monatstakt – Aktion auf Aktion: von immer provokanter gestalteten Montagsgebeten in der Nikolaikirche, die letztlich zum Rauswurf aus und zur Abnabelung von der Kirche führten, zum ersten Pleiße-Gedenkmarsch im Juni 1988 gegen die massiven Umweltschäden in der DDR; über illegale Flugblattaktionen zur Vorbereitung von Demonstrationen, wie der für die „Freiheit der Andersdenkenden“ in Erinnerung an Karl Liebknecht und Rosa Luxemburg im Januar 1989 in der Leipziger Innenstadt mit 800 Teilnehmerinnen und Teilnehmern; die Aufdeckung von Wahlfälschungen bei der Kommunalwahl im Mai oder die Realisierung eines unabhängigen Straßenmusikfestivals trotz Verbots im Juni bis zu den ersten Montagsdemonstrationen im Herbst 1989. Was am 4. September 1989 mit weniger als 1000 Demonstranten auf dem Nikolaikirchhof begann, mündete nur Wochen später in riesigen Protestzügen um den Leipziger Ring, die mit der friedlichen Demonstration der 70.000 am 9. Oktober 1989 ihren Durchbruch erlebten. Anderthalb Wochen später musste SED-Chef Honecker zurücktreten.
Basierend auf mehrfachen, intensiven Gesprächen mit rund 40 der aktivsten Mitglieder der Leipziger Opposition der 1980er Jahre entfaltet Peter Wensierski ein faszinierendes Panorama jugendlichen Widerstands.
„Eine aktive Generation befreite sich selbst, es ging ihr um das Recht, Rechte zu haben. […] Machtlose Gruppen wurden mächtig […] auch weil sie sich selbst der Gewalttätigkeiten enthielten“ (S. 426).
Eine zahlenmäßig kleine Gruppe Jugendlicher aus Leipzig befördert im Verlauf weniger Jahre „eine Freiheitsrevolution von unten“ (S. 428); die erste erfolgreiche Revolution in Deutschland überhaupt, „die sich trotz aller Bedrohungen und Gefahren“, wie Wensierski eindrücklich belegt, „mit einer seltsamen Leichtigkeit vollzog“ (S. 430).
Das Buch enthält 44 Schwarz-Weiß-Fotos, die überwiegend von den jugendlichen Akteuren selbst stammen und ihre Lebenssituation in besetzten Häusern, den Verfall der Stadt ringsum und wichtige Aktionen von ihnen dokumentieren. Zudem geben passbildgroße Porträtaufnahmen der Interviewten aus den 1980er Jahren der Jugendopposition in Leipzig ein Gesicht. Auch dass sie im Text durchgängig nur beim Vornamen genannt werden, stellt für die Leserinnen und Leser Nähe her. Für seine umfangreichen (Vor-) Recherchen zur Entwicklung dieser politischen Aktivisten nutzte Wensierski annähernd die gleichen Archive und Quellen wie Gerland. Umso verwunderlicher ist der stark voneinander abweichende Befund beider Bücher! Während Gerland den „ostdeutschen Initiatoren der neuen Jugendbewegung kaum das Gefühl attestiert „‚Geschichte geschrieben’ zu haben“ (S. 390), erzählt Wensierski von einer Gruppe „junger Menschen, die sich mit Mut, Willensstärke und Phantasie gegen eine (staatliche) Übermacht wehrten“ (S. 430) und damit wesentliche Voraussetzungen für deren endgültigen Zusammenbruch leisteten.
Punk in der DDR 1982–1989
Der politischen Auflehnung Jugendlicher ging jedoch eine kulturelle voraus. Namentlich die Punks bereiteten mit ihrem provozierenden Auftreten sowie ihren radikalen Songs seit Anfang der 1980er Jahre (auch) in Leipzig wertvollen Boden für die kommende Jugendopposition. Die Punks „waren Wutbürger, ehe dieses Phänomen zu einem Massenphänomen wurde“, schreibt Henryk Gericke (S. 13) in seinem Vorwort zu der beeindruckenden Bildchronik der Fotografin Christiane Eisler, die in hunderten Fotos die Lebenswege (überwiegend) Leipziger Punks von 1982 bis in die Gegenwart dokumentiert. Ihr Buch trägt den gleichen Namen wie die exponierteste Leipziger Punkband: „Wutanfall“. 1981 vom 17-jährigen Lehrling Jürgen Gutjahr – der sich als Sänger „Chaos“ nannte – gegründet, wurde die Band schnell über Leipzig hinaus Kult. Dafür sorgten Titel wie „Messestadtpunk“, „Big Brother“, vor allem aber „Leipzig in Trümmern“, die ungeschminkt den Verfall der Stadt und die Repression gegen Andersdenkende anprangerten. Zur Band gehörten anfangs noch „Rotz“, „Zappa“ und „Typhus“. Später ersetzten „Stracke“ und „Imad“ ausscheidende Mitglieder, bevor sie 1984 zusammen mit „Ratte“ und „Reudnitz“ die Nachfolgeband „L‘ Attentat“ gründeten. Auch deren Name war Programm. Sie alle setzt Christiane Eisler ins Bild, wie auch ihre Fans von der „Obstweinbande“ (benannt nach deren Treffpunkt in Leipzigs City – einem Obstweinstand). Zusätzlich porträtierte Eisler mit Jana (Schlosser) und Mita (Schamal) auch Mitglieder der Berliner Punkband „Namenlos“, die beide von der Staatssicherheit verhaftet und im Fall von Jana zu anderthalb Jahren Gefängnis verurteilt wurden. Insgesamt werden die Biografien von rund 20 Akteuren der Szene ins Bild gerückt.
Die ersten Aufnahmen Eislers entstanden 1983, als die Fotografiestudentin auf der Suche nach einem Diplomthema war. Sie fand es vor der Haustür ihrer abrissreifen Studentenbude im Leipziger Seeburgviertel. Plötzlich standen sie vor ihr, „braune, abgewetzte Gestalten in Lederklamotten, leicht muffig und nach Alkohol und Zigaretten riechend“, auf dem Weg zum Proberaum von „Wutanfall“. „Sofort war mir klar, dass sie die Protagonisten waren, die ich suchte, und ihnen war klar, dass sie die Aufmerksamkeit bekamen, die sie begehrten“ (S. 7). Aus gegenseitigem Interesse wurde eine langanhaltende Symbiose, die Eisler zur Chronistin der Szene (auch über ihren Zerfall hinaus) werden ließ. Ihre Fotografien – lebendige Bilder von illegalen Konzerten, privaten Feten und öffentlichen Provokationen, kombiniert mit ausdrucksstarken Porträts von zentralen Gestalten der ostdeutschen Punkszene aus dreieinhalb Jahrzehnten – werden hier erstmals in diesem Umfang publiziert. Dem nicht nachlassenden Engagement der Fotografin ist es auch zu verdanken, dass sich viele der Akteure mit eigenen Texten und in Interviews zu ihren Erfahrungen als Punk in der DDR wie ihren (davon nachhaltig geprägten) weiteren Lebenswegen äußern. Denn, so „Chaos“ rückblickend: „DAS war genau mein Ding. Meine Vision, mein Auftrag, meine Motivation“ (S. 23).
Damit meinte er die Musik. Politisch sein wollten sie nicht, zum Politikum wurden sie erst gemacht. Wie der Schlagzeuger von „Wutanfall“, Uwe Plociennik alias „Rotz“, schildert:
„[…] das Verhalten der Polizei oder Staatssicherheit fanden wir eher lustig oder erheiternd. Dabei haben wir gar nicht wahrgenommen, dass unsere Musik und unsere Auftritte für die Obrigkeit eine derartige Brisanz hatten“ (S. 40).
Schmerzhafter als andere Jugendkulturen vor ihnen bekamen sie die Gegenwehr des Staates zu spüren, denn „das Punk-Ding war was ganz Neues. Es ging darum, Grenzen zu überschreiten“, wie „Stracke“ resümiert (S. 67). In einem beklemmenden Text schildert „Chaos“, was ihm daraufhin widerfuhr: Im Frühjahr 1982 von der Stasi aus dem Lehrbetrieb zur (üblichen) „Klärung eines Sachverhalts“ abgeholt, fand er sich kurz darauf mit einem über den Kopf gestülpten schwarzen Sack in einem abgelegenen Waldstück wieder. Stasi-Leute prügelten und traten hemmungslos auf ihn ein, beschimpften ihn dabei als „mieses Stück Dreck“ und „einfach unwertes Leben.“ Ein Ereignis, dass sein weiteres „Leben entscheidend beeinflusst“ hat (S. 31 ff.). 1983 schied er aus der Band aus und im Jahr darauf stellte er den Ausreiseantrag. Mit „Hardcore-Zersetzungsmaßnahmen“ (S. 68) gelang es der Staatsmacht bis 1984, die erste Punk-Generation der DDR nahezu völlig zu „zersetzen": „[…]durch Einberufungen zur Armee, Haft oder Bewilligung von Ausreiseanträgen wurden große Lücken in die Szene geschlagen“, so Maik Reichenbach alias „Ratte“ (S. 292). Doch wuchs rasch eine neue Punk-Generation nach, zu der auch „Reudnitz“ (Thomas H.) gehörte. Seine Motivation, Punk zu sein, war die Suche nach dem „Befreiungsschlag […] sein Leben selber zu gestalten […] selber Sachen zu machen und nicht immer zu warten, dass sie gemacht werden“ (S. 306). Damit wurden sie auch zu Vorreitern des politischen Umbruchs von 1989. Sie haben – so Bernd Stracke – schon früh ihre „Gesichter gezeigt und für unseren Style und unsere Musik gezahlt“, als viele andere noch stillhielten. „[…] und dann stand in Leipzig am Ortseingang groß ‚Heldenstadt’. Da wird einem schlecht“ (S. 13).
Glückskinder der Einheit?
Zur Tragik ostdeutscher Punks gehört auch, dass viele von ihnen im geeinten Deutschland gleichfalls nicht passfähig waren – sei es mangels geeigneter Bildungs- und Berufsabschlüsse, wegen anhaltender psychischer Folgen der in der DDR erfahrenen Repressionen oder einfach wegen ihrer steten Renitenz gegenüber Obrigkeiten. Nur das Problem einer ‚Sonderpopulation‘? Oder sind auch bei den weniger exponierten Angehörigen der „Geburtsjahrgänge 1967 bis 1973 […] der letzten Altersgruppe, deren Kindheit- und Jugendsozialisation vollständig in der DDR erfolgte“ (S. 9), Defizite in der weiteren Entwicklung zu verzeichnen? Das Fragezeichen hinter „Glückskinder der Einheit?“, mit dem der Erziehungswissenschaftler und Historiker Volker Benkert schon im Titel seines Buches die „Lebenswege der um 1970 in der DDR Geborenen“ versieht, lässt Zweifel offen. Denn die „politische Sozialisation“, die sie in der DDR erfuhren, „schlägt sich“ nach Benkert bei den heute 44 bis 50-Jährigen – bis in die Gegenwart hinein – „in den Lebensläufen dieser Altersgruppe und in den Rationalisierungs- und Sinngebungsmustern, die diese Lebensläufe erklären“, nieder (S. 10). Zugleich fragt er nach dem Einfluss, den die gesellschaftliche Entwicklung nach 1990 – die „gerade für die(se) Kohorte […] neue Möglichkeiten schuf, die aus der DDR gewohnte biografische Sicherheit aber zerstörte“– auf sie hatte. Anders als Wensierski und Eisler, die eher en passant generationelle Prägungen ihrer Protagonisten erfassen, will Benkert aber explizit erfragen, „inwieweit sich aufgrund ihrer kollektiven Erfahrungen von Sozialisation in der DDR, Systemzusammenbruch und Transformationsprozess nach 1990 eine eigene Identität als Generation herausgebildet hat“ (S. 11), oder nicht.
Dazu führte er autobiografische Interviews mit 23 Vertretern der Alterskohorte, die den Zusammenbruch der DDR in den „‚Scharnierjahren’ zwischen Kindheits-, Jugend und Erwachsenensozialisation“ erlebt haben. Jene Jahre, die „von besonderer Bedeutung für die Auseinandersetzung mit der sozialen Umwelt“ sind und für künftige „politische Orientierungen, Einstellungen, Normen und Handlungsweisen […] sein können“ (S. 38).
Zwar räumt Benkert zu Recht ein, dass solch ein „kleines Sample“ keine „Repräsentativität für die gesamte DDR erreichen“ kann, um im folgenden Satz trotzdem zu insistieren, dass „die Auswahl der Interviewpartner mit dem Ziel erfolgte […] die Dimensionen Region, Geschlecht und Jahrgang möglichst vollständig abzubilden“ (S. 50) – obwohl zum Beispiel jeder der 15 DDR-Bezirke mit nur einer, besonders bevölkerungsstarke Bezirke mit maximal zwei Personen im Sample vertreten sind. Dennoch scheut sich Benkert nicht, aus den 23 Interviews – die durchaus viele interessante biografische Einzelaussagen zur individuellen Bewältigung des DDR-Zusammenbruchs und Neubeginns in der Bundesrepublik zutage gefördert haben (!) – gleich „sieben verschiedene Typen von politischer Sozialisation in der DDR und danach zu identifizieren (S. 77 ff). Es sind dies die eher literarisch als klar soziologisch benannten Typen: „bleibendes DDR-Trauma“, „DDR-Verweigerung, Selbstverwirklichung nach 1989“, „doppelte Sozialisation“, „zwischen Eigensinn und Konformität“, „ein normales Leben“, „Pragmatismus“ und „Glaube und Gewalt, Kontinuität autoritärer Strukturen.“ „Untermauert“ wird jeder Typ mit der Analyse von lediglich ein bis zwei konkreten Biografien, die im Fall des „DDR-Verweigerungstyps“ gar aus einem Brüderpaar bestehen. Das „individuelle […] Erleben des Übergangs vom Staatssozialismus zum vereinten Deutschland aus der Perspektive der um 1970“ Geborenen kann so wohl erfasst werden, deren „kollektives Erleben“ – wie im gleichen Atemzug behauptet (S. 21, Hervorhebungen B. L.) – kaum, auch wenn Benkert den von ihm gebildeten Typen eine Nähe zu den im Zeitraum von mehr als zwei Jahrzehnten durchgeführten, quantitativen „Längsschnittstudien des Leipziger Zentralinstituts für Jugendforschung zu Identitäts- und Mentalitätsverschiebungen“ unterstellt. (S. 15) Ein durchgängiger Vergleich der eigenen Befunde damit findet im Buch aber ebenso wenig statt, wie mit den von ihm zu Recht benannten, zahlreichen autobiografisch-literarischen Auseinandersetzungen von Vertreterinnen und Vertretern dieser Alterskohorte mit ihrem Wende-Erleben (S. 13 f). Als Vergleichsquelle werden auch sie kaum herangezogen.
Auf empirisch tönernen Füßen steht auch Kirsten Gerlands Analyse: Sie führte neun „teil-narrative Zeitzeugeninterviews“ mit Mitgliedern von vier parteinahen Jugendgruppierungen – von der Marxistischen Jugendvereinigung bis zum Demokratischen Aufbruch. „Als Vergleichsgruppe“ diente ihr „ein Interview mit einem Zeitzeugen aus dem Leipziger gegenkulturellen Milieu sowie einem Ausreisenden“ (S. 32); in Polen interviewte sie nur sechs Akteure. Sowohl ihr als auch Volker Benkerts Buch basieren auf Doktorarbeiten. Die Promotionen zugrundeliegende empirische Forschung muss oft mit einem begrenztem Zeit- und Finanzbudget betrieben werden. Das ist ihnen nicht vorzuwerfen. Leider geht der Aussagewille beider Autoren letztlich über die Aussagefähigkeit ihrer Datenbasis hinaus. Da sind die Zeugnisse von Wensierskis und Eislers Büchern profunder; gerade weil sie nicht über ihr (empirisches) Potenzial hinausschießen. Unpolitisch waren – wie ihre Publikationen nachdrücklich belegen – ostdeutsche Jugendliche 1989/90 also nicht. Zahlenmäßig kleine, aber entschlossene Gruppen Jugendlicher haben – als Speerspitze einer distanzierten Generation zur DDR – den SED-Staat gezielt herausgefordert und dadurch große gesellschaftliche Veränderung (mit) in Gang gebracht. Dass es dennoch von ihrer Seite „zu keiner generationellen Selbstverständigung kam“, wie Benkert immer wieder betont (S. 11 ff) – und auch Gerland attestiert ihnen, dass „in der DDR sich zwar das Selbstbild einer ‚Jugend des Aufbruchs’ abzeichnete, aber ihre Akteure kaum über vermeintliche generationelle Erfahrungen“ (S. 385) diskutierten wie die „neue Protestgeneration“ in Polen (S. 287 f) – war dagegen weder Teil ihres Selbstverständnisses noch ihrer Programmatik. Ganz im Gegenteil: Das in der DDR erlebte und erlittene Demokratiedefizit verbat es ihnen regelrecht, anderen Altersgleichen ihren ‚Stempel‘ aufzudrücken! Dennoch handelt es sich bei ihnen um eine ausgeprägte politische Jugendgeneration, wenn auch nicht für so doch an sich.
Zitierweise: Bernd Lindner, Jugend in Zeiten politischen Umbruchs, Sammelrezension, in: Deutschland Archiv, 5.3.2018, Link: www.bpb.de/265632