In der neueren Forschung zur DDR kann eine latente Spannung – und bisweilen Spaltung – zwischen zwei Perspektiven auf Macht und Herrschaft im Sozialismus festgestellt werden, die es wieder stärker zu verbinden gilt. Bei den beiden Perspektiven handelt es sich um die Fokussierung auf den Machtapparat von Partei und Staat einerseits und auf das alltagskulturell verankerte, "eigen-sinnige" Handeln der Bevölkerung andererseits. Beide Perspektiven wurden zuletzt zwar durchaus wiederholt als "Wechselspiel von Herrschaft und Alltag" in ihrer Verschränkung untersucht. Doch standen dabei die alltagskulturellen Aushandlungen von Herrschaft auf lokaler und regionaler Ebene im Zentrum des Interesses, während die Untersuchung der top-down agierenden staatlichen Apparate und der zentralistischen Parteiherrschaft der SED teilweise in den Hintergrund geriet. Damit einher ging eine Verlagerung des Forschungsinteresses von den 1950er Jahren zu den "normaleren Jahrzehnten" nach dem Mauerbau und zur Phase der "instabilen Stabilität" in den 1970er und 1980er Jahren, in denen tendenziell die Handlungsfähigkeit der Bevölkerung zunahm, bei gleichzeitig "nachlassender Gestaltungsfähigkeit des Regimes".
Zur Integration der genannten Forschungsstränge wird in diesem Beitrag sowie in den Texten des Themenschwerpunkts "Macht-Räume in der DDR" des Deutschland Archivs ein auf die räumlichen Dimensionen von Macht und Herrschaft gerichteter, sozusagen topologischer Blick auf die sozialistischen Herrschaftsverhältnisse vorgeschlagen. Auch unabhängig vom spatial turn in den Kulturwissenschaften und dem allgemein gewachsenen Interesse an Räumen und Orten haben bereits vor einiger Zeit Karl Schlögel die Fruchtbarkeit einer solchen Herangehensweise für die Analyse des sowjetischen Stalinismus und Martin Sabrow, in der Variante des Erinnerungsorte-Ansatzes, für die DDR nachgewiesen. Orte wie Bautzen, das Haus des Zentralkomitees (ZK) der Partei, sowjetische Speziallager in der DDR, die Gebäude der staatlichen Zensur oder der Palast der Republik wurden als Räume und zugleich als Infrastrukturen der Macht beleuchtet. In inter- und überregionaler Perspektive wurden die scharfen sozialräumlichen Disparitäten des DDR-Systems unter anderem von Bernhardt und Grundmann aufgezeigt und als wichtige Krisentreiber des Systems identifiziert. Damit sind die Ausgangspunkte markiert, von denen aus dieser Beitrag auf theoretisch reflektierter Grundlage Raumstrategien des staatlichen Machtapparats und Spielarten der Aushandlung zwischen Bürgern und Machtträgern in der DDR erkunden will.
Perspektivwechsel zur "Verräumlichung" von Machtbeziehungen
Auch über die DDR-Forschung hinaus finden Raumdimensionen von Macht und raumbezogene Machtstrategien des Staates und anderer Akteure in den letzten Jahren in verschiedenen Disziplinen verstärkt Beachtung. Max Webers vor gut hundert Jahren geprägte klassische Formulierung, Macht bedeute die "Chance, innerhalb einer sozialen Beziehung den eigenen Willen auch gegen Widerstreben durchzusetzen“ und Herrschaft die Chance, "für einen Befehl bestimmten Inhalts bei angebbaren Personen Gehorsam zu finden", hatte noch weitgehend von Raumbezügen abstrahiert. Sein großer Aufsatz zur Universalgeschichte der Stadt als einer klassischen Raumkategorie klassifizierte Städte zwar als Form "nichtlegitimer Herrschaft", konzentrierte sich jedoch faktisch stark auf stadttypologische und kaum auf Macht- oder Herrschaftsfragen. Den Zusammenhang von Macht und Raum rückte hingegen Michel Foucault in den späten 1970er Jahren in den Mittelpunkt seiner Vorlesungen zur Geschichte der Gouvernementalität. Bereits in der ersten dieser Vorlesungen stellte er bei der Reflexion zu den Zusammenhängen von Macht und Territorium sowie "Raumproblemen“ apodiktisch fest: "Ich nehme selbstverständlich den Fall der Städte."
In ähnlicher Weise hatte dies bereits einige Jahre zuvor der bis heute stark rezipierte französische Philosoph und Stadttheoretiker Henri Lefebvre getan. Lefebvre fragte auch nach den spezifisch sozialistischen Raumtypen, ohne diese im Einzelnen selbst zu untersuchen. Emmanuel Droit und Eli Rubin haben im Rahmen des hier umrissenen Themenschwerpunktes "Macht-Räume in der DDR" erstmals Lefebvres unter Raumsoziologen viel diskutierten Ansatz für die Untersuchung von DDR-Orten, wie etwa Plattenbauten und Schulräumen, fruchtbar gemacht.
Formen raumbezogener sozialistischer Machtstrategien
Unter den verschiedenen, sich überlagernden Formen raumbezogener sozialistischer Machtstrategien spielte historisch der auch von Foucault herausgestellte Zusammenhang von Macht und Territorium eine besonders wichtige Rolle. Dies liegt angesichts des sozialistischen Projekts als revolutionärer Bewegung, die zunächst schrittweise einzelne Gebiete gewaltsam unter ihre Kontrolle brachte, nahe. So besetzten die sowjetischen Revolutionäre bei ihrem Aufstand 1917 sofort gezielt strategische Orte wie Telegrafenämter oder Verkehrsknotenpunkte. Die Sicherung territorialer Macht war auch in den ersten Jahren nach dem Zweiten Weltkrieg von entscheidender Bedeutung für die Stabilisierung der jungen sozialistischen Staaten in Osteuropa. So wurden die Standorte der ersten, rasch errichteten "Neuen Städte" und Industriewerke wie Eisenhüttenstadt oder das im Umland der polnischen Großstadt Krakau liegende Nowa Huta unter anderem mit dem Ziel ausgewählt, die als reaktionär betrachteten bäuerlich beziehungsweise bourgeois dominierten regionalen Gesellschaften proletarisch zu überformen. Die neuen industriellen Zentren waren zugleich Ausgangspunkt der angestrebten Neuformierung überregionaler Raum- und Wirtschaftsbeziehungen innerhalb des sowjetischen Machtbereichs.
Die Etablierung und dauerhafte Sicherung sozialistischer Staatlichkeit war auf die flächendeckende Durchdringung gerade auch derjenigen Räume angewiesen, deren Bevölkerung dem Regime überwiegend distanziert bis kritisch gegenüberstand. In den letzten Jahren des DDR-Regimes wurde etwa die Umweltkrise an Orten wie Bitterfeld oder am Grenzfluss Elbe virulent, der erzwungene Transfer von Ressourcen des Bauwesens nach Berlin erregte massiven Unwillen in anderen Bezirken. Aber auch ein scheinbar "raumneutrales", republikweites Ereignis wie die "Kaffeekrise" von 1976/77 dürfte in den sozialistischen Macht- und Konsumzentren der Bezirkshauptstädte weniger stark spürbar gewesen sein als in peripheren Gebieten. Generell lässt sich im Zeitverlauf eine zunehmende Konzentration der Ressourcen in den privilegierten Bezirks- und Industriestädten der DDR beobachten, die zum Ziel von Einkaufsfahrten der im Umland lebenden Bevölkerung wurden. Unter dem Druck des Ressourcenmangels formulierten DDR-Ökonomen in den 1970 Jahren explizit eine Strategie der Urbanisierung, die eine Konzentration von Infrastrukturausstattung und Versorgung in wichtigen städtischen Zentren umfasste. Die daraus erwachsende Peripherisierung ländlicher Gebiete, die systematische Vernachlässigung regionaler und lokaler Bedürfnisse und der damit einhergehende Autoritätsverlust regionaler Verantwortungsträger trugen in den 1980er Jahren wesentlich zur Systemkrise der DDR und damit zur "friedlichen Revolution" bei.
In einer Typologie sozialistischer Machträume sind als Knotenpunkte institutioneller Herrschaft neben den zentralen Institutionen von Partei und Staat wie dem ZK, dem Ministerrat oder der Staatssicherheit die Betriebe und die Großsiedlungen als zwei Kernbereiche zu nennen. Eine solche, erst noch zu entwerfende Typologie hätte neben den oben genannten Orten nicht nur weitere Raumtypen zu erfassen, sondern diese auch zu historisieren. Manche frühen Einrichtungen und Ideen, wie etwa die "roten Ecken" in den ersten sowjetischen Kommunalka-Häusern der 1920er Jahre und überhaupt das Leitbild kollektiven Wohnens, verloren später an Bedeutung, andere, wie etwa Pionierzimmer in Schulen, wurden zunehmend ausgestaltet. Kulturhäuser als "Salons der Sozialisten" wurden ebenso zum Schauplatz spezifischer Machtkonstellationen wie die Hausgemeinschaften, "Datschen" und Räume des Konsums, bis hin zu Solitären wie etwa dem Palast der Republik.
Raumdimensionen im Konfliktfeld zwischen Bürgern und Herrschaftsapparat
Die Beiträge dieses Themenschwerpunktes der "DDR-Machträume" analysieren mit unterschiedlichen wissenschaftlichen Ansätzen verschiedene Orte und Machtkonstellationen im Lichte ihrer besonderen historischen Kontexte und spezifischen Zeitlogiken. Faktisch kann von einer Dichotomie zwischen den Kernkammern der Macht des SED-Staates und den einfachen Bürgern gesprochen werden, die nach Lindenberger spätestens von der Kreisebene aufwärts quasi als "gläserne Decke" die einfachen Bürger von den hauptamtlichen Funktionsträgern trennte. Unterhalb dieser Scheidelinie konnte es den Bürgern allerdings zuweilen gelingen, die Vertreter von Staat und Partei in Aushandlungsprozesse zu verwickeln sowie im Einzelfall Regelungslücken für eigensinniges Verhalten zu nutzen. Die Inneneinrichtung und die Kodierung von Schulen, die sich mit Rückgriff auf Lefebvre als Macht-Räume auf der "Mikro-Ebene" der Gesellschaft begreifen lassen, waren teilweise hart umkämpft und spiegelten den langfristigen Wandel der Machtverhältnisse. Strategien des "Schwarzwohnens" nutzten eine der angesprochenen Regelungslücken im sozialistischen Wohnungs- beziehungsweise Mietrecht und konnten örtlich zu einer Verunsicherung der staatlichen Stellen und zu einem punktuellen Machtvakuum führen. Auch andere Institutionenräume abseits der Machtzentrale, wie etwa Wohngebietsausschüsse, Ortsgruppen im Kulturbund oder die Prüfungen von Amateurbands vor örtlichen Ausschüssen wiesen ihre ganz eigenen, weniger asymmetrischen Machtverhältnisse auf.
Doch auch oberhalb beziehungsweise jenseits der von Lindenberger identifizierten Scheidelinie der "gläsernen Decke" erweist sich ein "verräumlichter" Blick auf das Herrschaftssystem von Staat und Partei als fruchtbar. Denn auch hier, innerhalb des Staatsapparates, lassen sich bei genauerem Hinsehen sowohl die räumlich-institutionelle Ballung als auch die Zersplitterung von Macht, Leerstellen und peripherisierte Zonen, begrenzt sozialistisch "durchherrschte" Gebiete sowie zahlreiche konflikthafte Aushandlungsprozesse auf der Vertikale des sozialistischen "Mehrebensystems" erkennen. Dies lässt sich exemplarisch an der Rolle der Städte ablesen, die zwar in der Hierarchie des zentralistischen Staates ganz unten standen, im Einzelfall aber informelle Bündnisse mit Funktionären auf der Bezirks- und der zentralen Ebene schmieden konnten. Solche informellen Kanäle und Kooperationen gilt es neben den Aushandlungen zwischen Bürgern, Partei und Staat gleichgewichtig in den Blick zu nehmen.
Informelle Machtstrategien und räumliche Disparitäten im sozialistischen Herrschaftsapparat
Viel stärker als bisher beachtet war die DDR, wie die Autoren dieses Beitrages ebenfalls in dem Forschungsprojekt "Die DDR-Bezirke – Akteure zwischen Macht und Ohnmacht" herausarbeiten konnten, auch innerhalb des Staatsapparates von Machtkämpfen auf der Vertikale des Systems durchzogen. Einen zentralen Konfliktpunkt in diesen mit zahllosen Aushandlungsprozessen verbundenen Kämpfen bildete die Verfügungsmacht über regionale Ressourcen – offiziell quasi-militärisch als "Mobilisierung örtlicher Reserven" bezeichnet. Diese blieb prinzipiell nach dem Postulat des "demokratischen Zentralismus" geregelt. So konnten sich die zentralen Instanzen ihre Definitionsmacht darüber sichern, ob und wie "berechtigt" regionale Sonderinteressen und von Kommunen und Bezirken eingeforderte Handlungsspielräume waren. Zugleich konnten die Defizite und Schwächen zentraler Vorgaben entweder mit regionalen Ressourcen kompensiert oder regionalen Funktionäre die Verantwortung für Probleme zugeschoben werden.
Doch begründete diese mit der Bildung der Bezirke im Sommer 1952 initiierte und bis 1989 nicht grundsätzlich veränderte Konstellation zugleich eine Dynamik, die geradezu zwangsläufig informelle Problemlösungen auf der regionalen und lokalen Ebene verlangte und hervorbrachte. Selbst die in den 1960er Jahren vollendete Installierung verlässlicher und politisch geschulter Funktionseliten in den Bezirks- und Kreisverwaltungen änderte daran nichts. Die Bereitschaft, auf regionaler Ebene Ressourcen abzuzweigen, am Plan vorbei dringend benötigte Gebäude zu bauen und zur Durchsetzung regionaler Sonderinteressen informelle "Arbeitskreise" einzurichten, erwuchs daher aus dem administrativ-strukturell determinierten Raumzugriff des Herrschafts- und Planungssystems, und nicht aus individuellen Einstellungen oder gar einer politischen Ablehnung zentraler Vorgaben durch nachgeordnete, "unzuverlässige" Funktionäre.
Dieser Zusammenhang wird in den Beiträgen von Lena Kuhl und Christian Rau zu diesem Themenschwerpunkt sehr deutlich, die den Stellenwert regionaler und kommunaler "Eigenverantwortung" in der DDR untersuchen. Die regionalen und lokalen Herrschaftsinstanzen bildeten also auf eine komplexe Weise das DDR-System stabilisierende Institutionen, die dessen Defekte zwar nicht ausgleichen, aber doch immerhin lange kaschieren konnten. Die Untersuchung der Machträume kann damit einen wesentlichen Beitrag zu einer Geschichte des formellen Herrschaftssystems der DDR leisten, der die integrierenden und die zersetzenden Faktoren, die mobilisierende wie die überlastende Dynamik der DDR in den Blick nimmt.
Schluss
Zusammengenommen schlägt die hier skizzierte "verräumlichte" Analyse des sozialistischen Herrschaftssystems eine Kartierung von Macht, Eigen-Sinn und Aushandlungen auf der Landkarte der DDR vor. Im Ergebnis werden günstigenfalls die Festungen und Bastionen, vor allem aber die abgehängten Gebiete eines Herrschaftssystems, das schrittweise erodierte, deutlicher sichtbar. Dies gilt, jenseits aller Unterschiede bei den "Machtchancen", sowohl für die Aushandlungen zwischen Bürgern und Staat als auch für die konflikthaften Interaktionen zwischen den Machtträgern im sozialistischen "Mehrebensystem" und darüber hinaus.
Zitierweise: Christoph Bernhardt und Oliver Werner, "Macht-Räume in der DDR" – Plädoyer für eine raumbezogene Analyse des sozialistischen Herrschaftssystems, in: Deutschland Archiv, 16.5.2017, www.bpb.de/248011