"Herrn Bundeskanzler Dr. Adenauer, Bonn Sr. Excellenz! Erlaube beifolgend Deutschlandlied gefl. unterbreiten zu dürfen. Ergebenst!"
Hauptadressaten waren das Bundespräsidialamt, das Bundeskanzleramt, das Bundesministerium des Innern, der Parlamentarische Rat und der Deutsche Bundestag. Ein Handlungsbedarf war aus mehreren Gründen nicht zu leugnen. Das Grundgesetz schwieg sich bezüglich der Nationalhymne – im Unterschied zur Bundesflagge – aus, was durchaus auch als Zugeständnis an die Westalliierten zu deuten war, interpretierten diese doch das 1841 von Hoffmann von Fallersleben auf Helgoland gedichtete Deutschlandlied als Ausdruck teutonischen Größenwahns. Jenes Lied war 1945 für die amerikanische Zone neben allerlei anderen Liedern und Symbolen verboten worden, hatten die Nationalsozialisten doch das Horst-Wessel-Lied als Präludium zur ersten Strophe des Deutschlandliedes singen lassen. In der verfassunggebenden Versammlung, dem Parlamentarischen Rat, behalf man sich auf Aufforderung seines Präsidenten Konrad Adenauer noch mit dem im 19. Jahrhundert in Studentenkreisen beliebten Lied "Ich hab mich ergeben / Mit Herz und mit Hand / Dir, Land voll Lieb‘ und Leben / Mein deutsches Vaterland!"
Eine neue Hymne muss her
Eine Verlegenheitslösung, die auf Dauer für die Bundesdeutschen nicht die sinnstiftenden Zeilen bilden konnte. Ein Lübecker Bürger schrieb selbstbewusst an die Ministerpräsidenten "der Bundes-Kanzlei" in Bonn: "Meinem Bekanntenkreis gefällt der oft falsch gedeutete Festgesang ‚Ich hab mich ergeben‘ nicht mehr."
Theodor Heuss trieb derweil, gemeinsam mit seiner Frau Elly Heuss-Knapp, sein ganz persönliches Hymnenprojekt voran. 1950 bat Heuss den befreundeten Dichter Rudolf Alexander Schröder, eine neue Nationalhymne zu schaffen. Schröder galt als der Erneuerer des evangelischen Kirchenliedes. In der Koproduktion des Ehepaars Heuss mit Schröder wurde die Vaterlandsliebe mit den christlichen Tugenden Glaube, Liebe und Hoffnung verbunden. Bei der Neujahrsansprache zum Jahresende 1950 las der Bundespräsident den Text mit seiner sonoren Stimme vor, und anschließend wurde das Werk als Komposition Hermann Reutters uraufgeführt – es fiel bei den Deutschen durch. Sie griffen nun selbst zum Stift.
In der hymnenlosen Zeit der Bundesrepublik entstanden zwischen Spätsommer 1949 und Mai 1952 beinahe 2000 unaufgefordert eingesandte Vorschläge für eine neue Nationalhymne. In den Hymnenvorschlägen malte eine gefühlsstarke Gemeinschaft Panoramabilder einer vergangenen heilen Welt. Dort waren die Menschen nah bei Gott, dieser war nah bei den Deutschen. Der Kommunismus war fremd, die Memel aber noch deutsch und die Kleinfamilie Mann, Frau und Kind bildete den Kern der Gesellschaft. Der deutsche Wald war so geheimnisvoll und schön wie zu Eichendorffs Zeiten und die Rheinfrische suchte man auf, um sich vom fleißigen Tagwerk zu erholen. Bei allem Maß und aller Mitte herrschte noch im letzten Herrgottswinkel etwas, woran es der Realität fehlte: deutsche Weltgeltung. Auch der seit Johann Gottlieb Fichte zählebige Ursprungsmythos der Deutschen als naturwüchsig-idealistisches Urvolk von weltgeschichtlicher Bedeutung lebte in den Vorschlägen auf.
Mögen Max Horkheimer und Theodor W. Adorno am Institut für Sozialforschung in Frankfurt am Main die "intellektuelle Gründung der Bundesrepublik"
Nachkriegs-Antikommunismus
Auch Bedrohungsszenarien nahmen bei den Hymnenvorschlägen einen breiten Raum ein. Neben dem Primat einer Kriegsangst als solcher brach sich hier eine politische Grundhaltung des Antikommunismus Bahn. Präziser: die Furcht vor einer Invasion aus dem Osten. In der zeitgeschichtlichen Forschung wird in Bezug auf diese daher auch von einer Integrations- und Legitimationsideologie der frühen Bundesrepublik gesprochen,
So unbestritten es ist, dass der bundesrepublikanische Antikommunismus ein "unübersehbares Kontinuitätselement zur NS-Zeit"
Der Topos, die Kultur Europas müsse vor dem sowjetischen Zugriff geschützt werden, ist ein oft wiederholtes Motiv in den Briefen. In einer kleinen Zahl an Schreiben geht diese Angst auch eine Verbindung mit dem Wunsch nach Exkulpation ein. Die Autoren behaupten, dass der Krieg notwendig gewesen sei, man aber mit seinen Verbrechen dennoch nicht in Verbindung gebracht werden könne. Die nach 1945 weit seltener bemühte biologistische Aufladung der Feindschaft gegenüber der Sowjetunion, mithin ein deutsches Spezifikum des Antikommunismus, hatte ihren Ausgangspunkt in der nationalsozialistischen Phantasmagorie eines verschwörerischen "Bolschewistischen Weltjudentums".
Nichts gelernt, nichts abgelegt
Ein besonders frappierendes Beispiel wurde dem Bundeskanzler Anfang Juli 1950, eine Woche nach Ausbruch des Korea-Krieges, in Form eines selbstverfassten Volksliedes "zur Hebung des Willens unseres so schwer geprüften deutschen Volkes"
"O Deutschland, mein Deutschland, du wunderschönes Land, du
wurdest zur Ruine durch deiner Feinde Hand.
O Deutschland, mein Deutschland, du littest große Pein, dein Wille und dein
Streben konnten nicht edler sein.
O Deutschland, mein Deutschland, Du hattest großen Mut, Du
wolltest nur vernichten, die Pest in ihrer Brut.
O Deutschland, mein Deutschland, den Auftrag gab Dir Gott, er
schuf und liebt den Menschen nicht, damit er wird zum Spott.
O Deutschland, mein Deutschland, wie hat man dich verkannt,
die Welt kommt nicht zur Ruhe, seit sie sich so verrannt.
O Deutschland, mein Deutschland, die Welt verkennt‘ den Sinn,
nun führt der Weg zum Untergang, zum Kommunismus hin.
O Deutschland, mein Deutschland, gib keine Hoffnung auf, Du
mußt das Schicksal meistern und lenken seinen Lauf.
O Deutschland, mein Deutschland, trau deinem guten Stern, er
wird dich nicht verlassen, er ist dir nicht mehr fern.
O Deutschland, mein Deutschland die Welt blickt auf nach hier,
dein Mut und auch dein Können verschaffen Achtung dir.
Mein Deutschland, mein Deutschland, dein Schild ist blank und
rein, drum – einig – bleibe einig, Du wirst die Welt befrein."
In seinem Anschreiben gibt sich der Autor zuversichtlich, dass jenes Lied in den Deutschen ihre "Verantwortlichkeit für die Zukunft der weissen Rasse"
Um eine Rechtfertigungsschrift für Kriegsverbrechen und Massenmord handelt es sich hier augenscheinlich nicht, sie würde bereits an dem Fehlen jeglichen Unrechtsbewusstseins scheitern. Im Gegenteil: Die Motive und deren praktischer Vollzug der nationalen Sendung hätten "nicht edler sein" können, wie es im Lied heißt, galt es doch, die "Pest in ihrer Brut" auszurotten. Auch wenn Wilhelm Sieveking das allzu verräterische Attribut "jüdisch" kein einziges Mal verwendet und er sich sogar die 1950 längst noch nicht obsolet gewordenen Begriffe "Bolschewismus" oder "Bolschewist" konsequent verkneift, ist die Herkunft seines völkisch-monomanischen Weltbildes doch offensichtlich: In Alfred Rosenbergs 1922 erstmals veröffentlichter Schrift "Pest in Russland! Der Bolschewismus, seine Häupter, Handlanger und Opfer"
Das erzwungene, abrupte Ende der von höchster Stelle aufgetragenen deutschen Mission gen Osten ist für den Briefschreiber mehr als nur ein betrüblicher Reim, vielmehr ein schwerwiegender geschichtlicher Fehler: "Dem muss die übrige Welt, insbesondere das in erster Linie bedrohte deutsche Volk, mit allen Kräften entgegen treten. Wir müssen endlich handeln, endlich endlich handeln dürfen."
Weitaus verstörender ist jedoch das Selbstverständnis Wilhelm Sievekings, damit noch immer ein und derselben Staatsdoktrin zu gehorchen. In völliger Verkennung des politischen Systems und der demokratischen Verfasstheit der Bundesrepublik, gerade so, als ob der Ungeist des Ministeriums für Propaganda und Volksaufklärung sich am Bonner Rheinufer niedergelassen hätte, wird zum Abschluss des Briefes der Bundesregierung ein Angebot unterbreitet:
"Eine weitgehende und schnelle Verbreitung dieses Liedes ist notwendig […]. Ich will das Gedicht auf Postkarte drucken lassen und bitte Sie, hochverehrter Herr Bundeskanzler, geben auch Sie Anweisung, dass diese Karten von der Bundesregierung sowie die Landesregierungen vertrieben werden, damit ist eine schnelle und weitgehende Verbreitung gesichert."
Eine aktenkundige Reaktion des Kanzleramtes oder Bundesinnenministeriums – und sei es in Form einer unpersönlichen Absage – war nicht zu finden. Der Briefschreiber hatte anscheinend deutlich überreizt und gar den Grad des bundesrepublikanischen Minimalkonsenses, der integrativ angelegt und daher gar nicht so schrecklich schmal war, verlassen.
Doch das Deutschlandlied? Die DDR als Argument
Wiederholt wurde in den Schreiben und Vorschlägen für eine neue Hymne der relativen Eingängigkeit der DDR-Hymne das Wort geredet. Weil die Eislersche in F-Dur und d-Moll gehaltene Komposition verstärkt durch ihre Verwandtschaft zum Deutschlandlied einen attraktiven Spannungsbogen aufzubauen imstande war, lautete die Schlussfolgerung der Heuss-Kritiker, müsse man dem etwas Markanteres entgegenstellen als die Reuttersche Vertonung. Und was konnte dafür besser geeignet sein als das Deutschlandlied?
Ein Heimkehrer aus russischer Gefangenschaft, Rudolf Mossner aus Erlangen, berichtete dem Bundespräsidenten von seinen Erfahrungen mit den Hymnen der DDR und der Sowjetunion:
"Die Ostzone z.B. lässt bei jeder möglichen und unmöglichen Gelegenheit eine sehr gekonnte Hymne ertönen. Die Russen haben eine ausgezeichnete Hymne, die wir uns jeden Tag bis zum Erbrechen anhören mussten und ebenso oft mussten wir ihren Spott über das Lied: ‚Ich hab mich ergeben‘, das in der Bu. Rep. häufig als Ersatz für eine Hymne gespielt wird, anhören."
Zwar empfand Mossner das Studentenlied als schön und getragen, es ärgerte ihn aber eine Spottreaktion aus dem Osten: "Na, ja, sagten sie. Das ist schon das Richtige für Westdeutschland."
Die Warnung vor einer stupiden "Nachmacherei" der Bundesrepublik angesichts des östlichen Hymnencoups entbehrte nicht einer gewissen Logik. Aber auch die SED-Initiative für eine neue Hymne war anfangs wohl nur eine Reaktion auf diesbezügliche Äußerungen im Parlamentarischen Rat.
DDR : BRD – 1 : 0?
Genau in diesem Punkte ist daher auch der Gedanke reizvoll, ob nicht die Erfahrung der DDR-Führung aus dem Hymnenwettkampf – nämlich den Westen in Verlegenheit gebracht und unter dem Gesichtspunkt musikalischer Innovation im Grunde über ihn obsiegt zu haben – diese erst dazu verleitete, eine ähnliche Führungsrolle des Oststaats bezüglich des Musikgeschmacks junger Menschen generell zu beanspruchen. Gerade die in der DDR-Hymne explizit angesprochene deutsche Jugend sollte nach dem Willen der Partei mit neuen sozialistischen Liedern für den Arbeiter- und Bauernstaat eingenommen werden. Für Walter Ulbricht war dieses Vorhaben Chefsache. Doch das Lebensgefühl der Jugendlichen sollte schon bald im Vierviertel-Takt des Rock’n’Roll schlagen. Diesen kulturellen Wandel hat der Volkskundler Kaspar Maase zutreffend als "Amerikanisierung von unten" bezeichnet.
Eine gemeinsame neue alte Hymne
Für die Widersprüchlichkeit des deutschen Nachkriegs-Patriotismus benutzt Konrad H. Jarausch den paradoxen Begriff der "postnationalen Nation".
Abermals stand die Frage nach der Hymne des nun vereinigten Deutschlands an. Ein Hymnenstreit fand diesmal nicht statt, sieht man von den Misstönen und Pfiffen am Rande einer Veranstaltung am Schöneberger Rathaus am 10. November 1989 ab. Der Vorschlag, Brechts Kinderhymne als Nationalhymne einzusetzen,
"Einigkeit und Recht und Freiheit
Und der Zukunft zugewandt
Danach lasst uns alle streben
Dienend unser’m Vaterland."
Wie vierzig Jahre zuvor die Vorschläge in Bonn, bekam auch dieser Brief lediglich den verwaltungsmäßigen Todeskuss in Form eines Z. d. A.-Vermerkes ("Zu den Akten").
Es war ein Briefwechsel zwischen Bundeskanzler Konrad Adenauer und dem Bundespräsidenten Theodor Heuss, der 1952 schließlich die Rechtsgrundlage – so umstritten dieser Rechtsakt unter Juristen auch war und ist – für die neue alte Nationalhymne bildete. Rund 39 Jahre später wiederholte sich die Geschichte mit einem kleinen, aber feinen Unterschied. Diesmal ergriff der Bundespräsident Richard von Weizsäcker die Initiative und schickte am 19. August 1991 – zehn Monate nach der deutschen Einheit – Bundeskanzler Helmut Kohl einen Brief mit der Feststellung: "Die 3. Strophe des Liedes der Deutschen von Hoffmann von Fallersleben ist die Nationalhymne für das deutsche Volk."
Zitierweise: Clemens Escher, Was wollen wir singen? Die Nachkriegs-Bundesrepublik auf der Suche nach einer Hymne, in: Deutschland Archiv, 9.5.2017, www.bpb.de/247935