Im Januar 1992 bestürmten zumeist Ostdeutsche die Stasi-Unterlagenbehörde. Sie wollten „ihre“ Akten sehen. Die Antragsformulare waren bald vergriffen, sie wurden von der Bild-Zeitung und anderen Medien nachgedruckt.
Die Akteneinsicht – und das ist der Kern des im Dezember 1991 verabschiedeten Stasi-Unterlagen-Gesetzes
Anfangs hatte es sogar Vorbehalte gegen die Akteneinsicht gegeben. Anfang Dezember 1989 hatten sich Bürgerkomitees gebildet und Demonstranten in den Bezirksstädten der DDR wie Erfurt, Leipzig und Suhl den Zugang zu den Bezirksverwaltungen des Ministeriums für Staatssicherheit (MfS) erstritten. Am 7. Dezember tagte in Berlin erstmals der Runde Tisch, an dem Vertreter der alten Parteien und Gruppierungen und die neuen Bewegungen nach einem Konsens suchten. Die Bürgerrechtlerin Ulrike Poppe warf die naheliegende Frage auf, wie die Stasi-Akten für die Nachwelt zu sichern seien. Da konterte ein anderer:
„Ich wäre dagegen, dieses jetzt gleich zu machen. Denn da sind so viele persönliche Daten drin. Also ich würde darauf gerne verzichten. Diese Auswertung können Sie in 50 Jahren machen, wenn wir unter der Erde sind, aber jetzt noch nicht.“
Derjenige, der damals gegen die schnelle Aktenöffnung plädierte, war keineswegs der damalige Exponent der SED, Gregor Gysi, sondern Martin Gutzeit von den oppositionellen Sozialdemokraten, derzeit ironischerweise der Stasi-Landesbeauftragte von Berlin. Damals ging es noch primär darum, die Stasi zu entmachten und die Überwachung der Bevölkerung endgültig zu beenden. Doch auch nach dem das im Januar 1990 geschehen war, gab es Bedenken gegen die Offenlegung der Akten. Die Oppositionellen Rainer Eppelmann und Werner Fischer fürchteten eine Pogromstimmung. Die evangelische Kirche argumentierte ähnlich.
Es gab, genau betrachtet, mehrere Wellen von Widerstand gegen die Aktenöffnung, zunächst aus der DDR selbst, dann von der Bundesregierung und vom Datenschutz, bis es zur Akteneinsicht kam, wie sie uns heute vertraut ist.
Widerstand aus unterschiedlichen Richtungen
Wie das dargestellte „Mord-und-Totschlag-Argument“ in der DDR genau aufkam, ist nicht abschließend geklärt. Aber die Argumentation war faktisch von höheren Stasi-Offizieren Anfang 1990 erfunden worden. Diese überlegten, wie sie nach den Besetzungen der Stasi-Bezirksstellen die Offenlegung ihrer Hinterlassenschaft verhindern könnten. Die Angst vor „Mord und Terror“ sollte die Öffentlichkeit vor den Folgen der Aktenöffnung zurückschrecken lassen. Stattdessen wurde die Zerstörung bestimmter Akten, Karteien und elektronischer Datenträger gefordert.
Auch in den Bürgerkomitees, die quasi auf den Akten saßen, gab es erhebliche Differenzen. In Leipzig plädierte man – das ist hervorzuheben – dafür, auch an die Akten der eigentlich Verantwortlichen, an die SED-Akten, heranzugehen.
Anlass für eine „Zäsur“, ein Umdenken in der Aktenfrage, waren dann die ersten spektakulären Enthüllungen aus den Stasi-Unterlagen, die die Integrität von DDR-Spitzenpolitikern der Übergangszeit infrage stellten. Als einer der Ersten kam der damalige CDU-Vorsitzende der DDR, Lothar de Maizière, in Verruf, dann zwölf weitere Personen, wie der Frontmann der Sozialdemokraten Ibrahim Böhme oder der Vorsitzende des konservativen Demokratischen Aufbruchs, Wolfgang Schnur. Ein Aktenfund in Rostock – die einen meinen dieser sei zufällig,
Unmittelbar vor und nach der Wahl zur Volkskammer am 18. März stellte sich somit die Frage, ob die neu gewählten 400 Volkskammerabgeordneten überhaupt das Vertrauen der Bevölkerung verdienten. Einer Spiegel-Umfrage vom April 1990 zufolge waren 86 Prozent der DDR-Bürger der Meinung, die Opfer sollten das Recht haben, ihre eigenen Akten einzusehen.
Bundesdeutsche Ängste
Nachdem sich „der Osten“ in der Frage der Akteneinsicht bewegt hatte, trat nun unerwartet die Regierung von Bundeskanzler Helmut Kohl kräftig auf die Bremse. Dort herrschten Sicherheitsbedenken. Wenn man die entlassenen Stasi-Leute nicht integrieren würde, könnten sie zum KGB überlaufen oder als Erpresser oder gar als Terroristen tätig werden.
Durch Stasi-Überläufer, Nachrichtenhändler und andere hatten die bunderepublikanischen Eliten erfahren, was alles in den Stasi-Dossiers stehen könnte. In Zeitschriften der Bundesrepublik, wie die Illustrierte Quick, kursierten wenig schmeichelhafte Zitate aus abgehörten Telefonaten prominenter Bundespolitiker. Die Stasi-Akten galten daher auf einmal als Gefahr für die Reputation westlicher Eliten und die Bürgerkomitees, die die Akten kontrollierten, als Sicherheitsrisiko. Über einen Abgesandten aus dem Kanzleramt, den späteren Präsidenten des Bundesamtes für Verfassungsschutz Eckart Werthebach, nahm die Bundesregierung entsprechend Einfluss auf die DDR-Regierung.
Um die Stasi-Abhörprotokolle unschädlich zu machen, beschloss die Bundesregierung – auch als Vorbild für die Bundesländer – dass derartige Dossiers eingesammelt und „ungeöffnet vernichtet“
In dem Konflikt ging es, vereinfacht, um die folgende Alternative: Sollten die Akten komplett erhalten und bürgernah verwaltet und einzusehen sein? Oder sollten sie teilvernichtet, für die Bürger weitgehend unzugänglich, in die Hände der bundesdeutschen Sicherheitsbehörden gelangen?
Die Bundesregierung musste einlenken. Denn der Fahrplan zur deutschen Einheit, der wegen der internationalen Zustimmung eng getaktet war, geriet in Gefahr. Es kam zum Kompromiss: Das Volkskammergesetz wurde zwar nicht übernommen, es wurde im Einigungsvertrag aber dem bundesdeutschen Gesetzgeber aufgegeben, ein am Volkskammergesetz orientiertes Akteneinsichtsgesetz zu schaffen. Akten durften nicht mehr, wie von der Bunderegierung eigentlich schon beschlossen, vernichtet werden. „Ein Gesetz geht vor“
Ewige Debatten
In der Debatte um den Einigungsvertrag wurden schon viele Linien sichtbar, die auch die Diskussion um das Stasi-Unterlagen-Gesetz prägen sollten. Auch in den heutigen Diskussionen um die Zukunft der Stasi-Behörde scheinen sie wieder durch.
Bürgerkomitees in Leipzig und andernorts plädierten damals für eine radikale Dezentralisierung in bezirklichen Aktendepots unter parlamentarischer Kontrolle. Angesichts der heutigen Debatte zur Ausdünnung der Außenstellen der Stasi-Unterlagenbehörde war dies ein interessanter Vorschlag.
Die Aktenbehörde, wie sie 1991 von einer großen Mehrheit des Bundestages beschlossen wurde, war schließlich eine fast normale Bundesoberbehörde. Die föderalen Elemente finden sich noch in den Außenstellen, laut Gesetz mindestens eine in jedem ostdeutschen Bundesland.
Die extreme Gegenposition stammte damals aus Kreisen der Bundesregierung. Vor der deutschen Einheit hatte Innenminister Schäuble öffentlich darüber nachgedacht, die Akten nach einem Dreivierteljahr der Nutzung zum Zwecke der Rehabilitierung von strafrechtlich politisch Verfolgten zu vernichten.
Auch hier ist ein Blick zurück in den Dezember 1989 interessant. Ironischerweise war der Vorschlag der Lagerung im zentralen Staatsarchiv nach den Besetzungen der Bezirksverwaltungen zuerst in Stasi-Kreisen diskutiert worden. Wenn man die Akten schon nicht mehr vernichten könne, so die Stasi-Leute, seien sie in einem „zentralen Staatsarchiv“ mit langen Sperrfristen – nach dem Vorbild der USA 50 Jahre lang – „durch Regierungsbeschluss langfristig vor unberechtigtem Zugriff zu schützen“.
Datenschutz kontra informationelle Selbstbestimmung
Jenseits der Organisationsfrage gab es eine Reihe weiterer Differenzen, für die ein Kompromiss gefunden werden musste. Das wichtigste Thema war der Datenschutz. Hier prallten zwei Kulturen aufeinander. In der DDR war der staatliche Datenschutz identisch mit den Geheimhaltungsbedürfnissen der Diktatur. Ein liberales Abwehrrecht des Bürgers gegenüber dem Staat gab es unter der Parteidiktatur nicht. Durch die Revolution und die Stasi-Aktendebatte hatte sich das öffentliche Bewusstsein radikalisiert, im Rahmen der Aufarbeitung sollte nun bei Schutz des Einzelnen alles offengelegt werden. Der Einzelne sollte die Autonomie über seine staatlich dokumentierte Biografie erhalten. „Freiheit für meine Akte!“ lautete ein Graffito an den Wänden des MfS nach dessen Besetzung.
In der Bundesrepublik war man vor einem gänzlich anderen Erfahrungshintergrund grundsätzlich skeptisch gegenüber den Stasi-Akten. Der westliche Teil Deutschlands hatte mit dem Verfassungsgerichtsurteil zur Volkszählung von 1983 und dem Datenschutzgesetz von 1990 gerade eine Datenschutzdebatte durchgemacht.
In der Bundestagsanhörung zum künftigen Stasi-Unterlagen-Gesetz vom 27. August 1991
Es war aber klar, dass das nach dem Einigungsvertrag nicht mehr möglich war. Außerdem hatte der Staat selbst inzwischen ein großes Interesse an der, zumindest zeitweiligen, Nutzung bestimmter Akten:
für die Rehabilitierung der in der DDR Strafrechtlich politisch Verfolgten,
für die Strafverfolgung von schweren Verbrechen,
für die Bekämpfung des Terrorismus,
für die Spionagebekämpfung und -abwehr.
In dieser zunächst verfahren scheinenden Lage waren es gerade die Datenschützer, die eine salomonische Formel fanden. Der Wert der „informationellen Selbstbestimmung“ und der sympathische Versuch, das geheimdienstliche Erbe einer Parteidiktatur aufzuarbeiten, waren durchaus in Einklang zu bringen. Wenn nämlich der Staat rechtsstaatswidrig entstandene Akten aus bestimmten Gründen temporär aufbewahren müsse, dann habe zu allererst der Bürger, über den die Akten handelten, das Recht, diese Inhalte zu sehen.
Wer hat’s erfunden?
Es ist dagegen eine Geschichtsklitterung, wenn behauptet wird, das Akteneinsichtsrecht sei eine unmittelbare Frucht des Volkskammergesetzes vom 24. August 1990. Dieses Gesetz war nämlich wegen der ostdeutschen Debatten noch sehr restriktiv: Der Einzelne hatte nicht einmal ein Einsichtsrecht, sondern lediglich ein Auskunftsrecht. Sofortige Auskünfte sollte ein Antragsteller nur erhalten, wenn er
„tatsächliche Anhaltspunkte dafür glaubhaft macht, dass er durch die Nutzung der Daten Schaden erlitten hatte oder zum Zeitpunkt der Antragstellung erleidet oder der Eintritt eines solchen Schadens droht.“
In allen anderen Fällen sollte die Bearbeitung erst nach Abschluss der archivarischen Aufbereitung erfolgen. Im Grunde musste man bei dieser Konstruktion vor dem Antrag das nachweisen, was man eigentlich erst nach der Lektüre der Akten wissen konnte.
Das berühmte Akteneinsichtsrecht, inzwischen einige hunderttausend Mal praktiziert, die kleine Form der Aufarbeitung, ist also keine rein ostdeutsche Erfindung, sondern eine gesamtdeutsche: Sie wurde im Osten auf den Weg gebracht und erhielt den letzten juristischen Schliff im Westen.
Das Stasi-Unterlagen-Gesetz nahm im Bundestag schließlich eine andere Richtung, als die Positionen der Bundesregierung von 1990 hatten erahnen lassen. Nunmehr bestimmten auch in der Regierungsfraktion CDU/CSU nicht mehr allein die Sicherheitspolitiker die Linie, sondern viele, die dem Drängen der Diktatur-Opfer und dem bürgerrechtlichen Aufbegehren im Osten durchaus nahestanden. Der Berichterstatter der CDU/CSU, Johannes Gerster aus Mainz, postulierte denn auch bei der ersten Lesung im Juni 1991, dass „Schutz und Rehabilitierung der Opfer der Stasi ebenso wie die Aufarbeitung der Stasi-Vergangenheit im Vordergrund stehen“.
Der Dreh- und Angelpunkt der parlamentarischen Debatte von 1991 war also, dass die Interessen der Opfer im Mittelpunkte stehen sollten. Dies ist es wert, als historischer Wille des Gesetzgebers festgehalten zu werden. Denn im Gesetzestext selbst finden sich derartige Aussagen nicht, da mit den neutraleren datenschutzrechtlichen Begriffen wie dem „Betroffenen“ und dem „Dritten“ hantiert wird. Aber der historische Wille des Gesetzgebers, wie er sich in der zweiten Lesung im Bundestag vom 14. November 1991 darstellte, ging eindeutig in diese Richtung.
Indirekt ist der Opferbezug im Prinzip der „Aufarbeitung“ enthalten. Historische Aufarbeitung ist, das wird oft übersehen, etwas anderes als historische Forschung. Forschung ist wertfrei. Sie könnte sogar Erkenntnisse zur Optimierung von geheimpolizeilichen Überwachungsmethoden beisteuern. Aufarbeitung muss eine Empathie für die Opfer mitdenken. Nicht in dem Sinne, dass sie sich an den Beschlüssen von Opferverbänden orientiert. Aber Aufarbeitung ist Teil der Aufräumarbeiten und der Reparatur von Schäden, die eine Diktatur hinterlassen hat. Aufarbeitung soll – dieser Auffassung war der eigentliche Begriffsschöpfer, der Philosoph Theodor W. Adorno, der sich 1959 Sorgen um die Nachkriegsgesellschaft machte, wie auch die meisten Bundestagsabgeordneten, die an der Debatte von 1991 teilnahmen – zur Demokratisierung der Gesellschaft und des Individuums beitragen.
Wiedergänger
Manche der Themen aus der Debatte von 1991 sind geradezu Wiedergänger, Kompromisse, die im Laufe der Zeit eine Nachbesserung erforderten: Im StuG von 1991 wurden die Rechte der Wissenschaft noch sehr restriktiv geregelt. Man fürchtete das Eindringen von Wissenschaftlern in die Intimitäten der ausgespitzelten DDR-Bürger. Es wurde eine eigene Forschergruppe des Bundesbeauftragten für die Unterlagen des Staatssicherheitsdienstes der ehemaligen Deutschen Demokratischen Republik (BStU) gegründet. Diese sollte Akten einsehen dürfen, die im Prinzip gesperrten waren, um aufzuklären, wie Diktatur funktioniert. Für den Anfang war diese Ausweichstrategie plausibel, wenn auch umstritten. Manche hielten diesen Weg gar für verfassungswidrig
Um andere Kontroversen von damals ist es eher still geworden, zum Beispiel die Nutzung von Akten durch bundesdeutsche Geheimdienste. Das wollte die DDR-Volkskammer mehrheitlich ausschließen. Das war einer der wesentlichen Punkte, warum Bündnis 90/Die Grünen 1991 dem Gesetzentwurf der Mehrheit des Parlamentes nicht zustimmten. Denn nach dem StUG gibt es bestimmte, restriktive Zugriffsrechte der bundesdeutschen Dienste. Aber der befürchtete Missbrauch von personenbezogenen Daten zur Überwachung mittels dieser Dienste hat wohl nicht stattgefunden, zumindest gab es darum kaum nennenswerte Debatten und Skandale. Der Verfassungsschutz erhält im Rahmen von Sicherheitsüberprüfungen für sicherheitsrelevante Positionen zum Beispiel begrenzte Auskünfte, ob jemand der Stasi verpflichtet war oder nicht.
Das Bundesinnenministerium hat aber, was wenig bekannt ist, nach 1990 in nicht unerheblichem Maße Akten nach Paragraf 11 Absatz 2 Satz 3 StUG aus den Beständen des BStU entnehmen lassen und in die Hände von verbündeten Geheimdiensten übergeben. Ein Teil dieser Akten war insofern brisant, weil sie offenbar detailliert Auskunft über die Ziele elektronischer Überwachung der amerikanischen Nachrichtendienste gaben.
Recht auf Löschung?
An dieser Stelle können nicht alle Kontroversen von damals erörtert werden, auch beispielsweise die Nutzung für die Strafverfolgung und Abwehr von Spionage und Terrorismus waren damals umstritten. Ein auf den ersten Blick eher unscheinbares Thema hat freilich grundsätzliche Bedeutung. In der ersten Fassung des Gesetzes war im Paragraf 14 die Möglichkeit vorgesehen, dass Betroffene Akteninhalte schwärzen oder gar löschen lassen konnten.
Mit der Streichung des Paragrafen 14 und anderen Änderungen 2002 hat ein radikaler Wandel im Blick auf die Akten begonnen. Salopp ausgedrückt, weg von der Bewertung als illegalem Datenmüll einer Diktatur hin zur „normalen“ historischen Akte. Dieser Schritt ist allerdings nicht vollständig gegangen worden, vielleicht wird er in Hinblick auf die Datenschutz- und Grundrechtsverletzungen auch nie gegangen werden. Aber die Frage wird in den nächsten Jahrzehnten zu klären sein: Werden wir mit der gleichen Selbstverständlichkeit, mit der wir heute Briefe von Frontsoldaten aus dem ersten und dem zweiten Weltkrieg zitieren, eines Tages Briefe aus der Postüberwachung der Stasi daraufhin analysieren, welches die Alltagssorgen der DDR-Bürger waren?
Einige Anmerkungen zum StUG heute
Im Großen und Ganzen hat sich das StUG bewährt.
Erstens: Hervorzuheben ist, dass seit dem 2. Januar 1992 hunderttausende Menschen „ihre“ Akte eingesehen haben.
Aber: Die meisten Betroffenen bekommen ihre Aktenkopien inzwischen per Post. Das ist sicher ein schöner Service, doch man kann sich fragen, ob die Bürger nicht mit diesen Akten zu sehr allein gelassen werden. Sie sind zuweilen missdeutbar, schwer verdaulich und manchmal für den Laien schlicht unverständlich.
Zweitens: Die politische Justiz in der DDR wurde durch das MfS stark beeinflusst. Die Akten haben nach der deutschen Vereinigung vielen geholfen, vom Makel der Straffälligkeit befreit zu werden. Staatliches Unrecht kann nie vollkommen wiedergutgemacht, aber die Folgen mit Hilfe von Entschädigungen oft gemildert werden. Bei allen Unzulänglichkeiten zeigt aber gerade die Tatsache, dass die Akten für die Aufarbeitung gesichert werden konnten, dass die Opfer letztlich die politischen und moralischen Sieger über die Diktatur geblieben sind.
Drittens: Die Stasi-Akten haben dazu beigetragen, dass Parlamente, Regierungen und Verwaltungen Entscheidungshilfen an die Hand bekamen, um zu verhindern, dass „Belastete“ in ihren Reihen sind. Das StUG hat mit dazu beigetragen, dass sich in Deutschland nicht in dem Ausmaß Seilschaften bilden konnten, wie sie in Osteuropa den Demokratisierungsprozess seit 1990 erschweren.
Aber: Ein „Webfehler“ der Überprüfung besteht und bestand darin, dass gegenüber den „kleinen“ IM die eigentlichen Verantwortlichen für die Verhältnisse in der DDR, die SED-Funktionäre, insbesondere die Nomenklaturkader, weitgehend verschont blieben. Die Schikanen gegen Ausreiseantragsteller wurden beispielsweise vorrangig vom Rat für Inneres und der örtlichen SED gesteuert. Viele dieser Rätemitarbeiter konnten nach 1990 einfach andere Funktionen übernehmen und bis zur Rente dort sitzenblieben, während sogar „kleine“ IM manchmal wochenlang durch die Presse gezogen wurden.
Viertens: Die Öffnung der Akten hat dazu beigetragen, das Wissen über die Mechanismen einer Diktatur, auch im Zusammenwirken mit den unterschiedlichsten Verhaltensweisen der Menschen, erheblich zu erweitern. Auch unsere Wahrnehmung von Schuld, Angepasstsein, Zivilcourage hat sich in diesen 25 Jahren deutlich differenziert.
Allerdings gibt es auch hier eine Kehrseite: Anders als manchmal behauptet, sind viele Recherchen, vor allem für Journalisten, im Archiv des BStU einfacher als in traditionellen Archiven, weil die Mitarbeiter des BStU einen großen Teil der Recherchearbeit erledigen. Die Stasi-Akten sind oft auch kompletter vorhanden, weil die SED, die Polizei und andere ungestört Akten vernichtet haben. Das hat, ohne dass es beabsichtigt war, das Bild oft verzerrt und in den Medien, aber auch in der Wissenschaft, zu einer Überbetonung der Rolle der Stasi geführt. Die Bedeutung anderer Akteure, der SED-Funktionäre, der Abschnittsbevollmächtigten, der Volkspolizei allgemein, der Blockparteifunktionäre und der Verwaltung für die soziale Kontrolle in der SED-Diktatur wurden oft unterschätzt.
Fünftens: Kritisch anzumerken ist auch, dass zuweilen Einzelbiografien eher aus Sensationslust medial ausgebreitet und angebliche oder wirkliche Stasi-Belastungen für politische Zwecke missbraucht werden.
Sechstens: Es müsste nachdenklich stimmen, dass die Bemühungen um die Diktaturaufarbeitung in manchen Kreisen zwar zur Abneigung gegen die DDR-Diktatur, nicht aber in gleichem Maße zur Akzeptanz von demokratischen Grundwerten geführt haben. Es zeigt sich, dass nicht jeder, der gegen die SED war, auch ein lupenreiner Demokrat ist.
Siebtens: Vergessen wird meines Erachtens gelegentlich auch, dass Aufarbeitung eigentlich zu gesellschaftlichen Grundkonsensen führen und nicht zur Munitionierung parteipolitischer Auseinandersetzungen dienen sollte.
Insgesamt spricht also grundsätzlich wenig gegen den eingeschlagenen Weg, sondern vieles dafür, die Aufarbeitung mit Hilfe des StUG auf intelligente und bürgernahe Weise fortzuführen. Bei der Transformation von Gesellschaften aus einer Diktatur in eine Demokratie geht die Umgestaltung des Rechts und der Institutionen erstaunlich schnell, die mentalen und ideologischen Änderungen dauern sehr viel länger.
Zitierweise: Christian Booß, Die Akteneinsicht. Von der revolutionären Aktion zum Gesetz – 25 Jahre Stasi-Unterlagen-Gesetz (StUG), in: Deutschland Archiv, 24.4.2017, Link: www.bpb.de/246990