Bis vor wenigen Jahren war die Migration von West- nach Ostdeutschland in der Geschichtsforschung und in den Medien kaum präsent.
In den 1950er und beginnenden 1960er Jahren war die West-Ost-Wanderung durchaus ein Massenphänomen – wenn auch zahlenmäßig nicht annähernd so bedeutsam wie der Weg in die entgegengesetzte Richtung. Zwei Drittel der West-Ost-Übersiedler kamen als Rückkehrerinnen und Rückkehrer, sie hatten nach 1945 also schon in der SBZ/DDR gelebt; ein Drittel waren neu Zuziehende. Auffällig ist, dass viele Übersiedler wieder in die Bundesrepublik zurückkehrten. Von denen, die seit Anfang 1954 bis Mitte 1961 in die DDR gingen, verließen 40 Prozent das Land wieder.
Phasen der West-Ost-Migration
Die Migration in die DDR lässt sich grob in zwei Phasen einteilen: bis zum Bau der Mauer 1961 und danach. Die Zuwanderungspolitik der DDR änderte sich jedoch bis zum Mauerbau mehrfach. Zwischen 1949 und 1953 gingen pro Jahr etwa 25.000 Menschen von West nach Ost. Zuzugsgenehmigungen wurden nur zögerlich nach restriktiven Vorgaben erteilt. Unter den Rückkehrenden waren viele, denen die Bundesrepublik einen Status nach dem Bundesnotaufnahmegesetz verweigerte. Sie konnten zwar im Westen bleiben, erhielten jedoch keine weitergehende Unterstützung. Beide deutsche Staaten waren noch geprägt von den Schwierigkeiten der Nachkriegszeit. Zusätzlich zur kriegsbedingten Wohnungsnot mussten auf beiden Seiten der deutsch-deutschen Grenze Flüchtlinge und Vertriebene integriert werden. 1953 kam es zu einem ersten Kurswechsel in der Zuwanderungspolitik der DDR: Um die Verluste auszugleichen, die durch die Ost-West-Übersiedlungen entstanden, förderte die DDR nun den Zuzug aus der Bundesrepublik. Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler, Künstlerinnen und Künstler sowie Facharbeiterinnen und Facharbeiter sollten gezielt angeworben werden. Die Kampagnen waren durchaus erfolgreich: Bis 1957 kamen jährlich etwa 70.000 Menschen in die DDR. Diese Hochphase der West-Ost-Migration war geprägt durch eine „weitgehend vorbehaltlose Aufnahmepraxis“.
Im Jahr 1957 folgte die Kehrtwende: Die Bevorzugung der Rück- und Zuwanderer bei der Vergabe von Wohnungen und günstigen Krediten wurde aufgehoben. Die Historikerin Andrea Schmelz führt dies auf die ablehnende Haltung vieler DDR-Bürgerinnen und -Bürger den Zuziehenden gegenüber zurück:
„Schließlich hatte sich das negative Meinungsbild derart verfestigt, dass die Regierung dem Druck der öffentlichen Meinung nachgab und im Laufe des Jahres 1957 alle 'Vergünstigungen' weitgehend abschaffte.“
Die vermeintlich hohe Kriminalitätsrate unter den Rück- und Zuwanderern sowie die zunehmend ablehnende Haltung der Bevölkerung nutzten die DDR-Behörden als Argument für die immer strenger werdende Zuwanderungspolitik. Dennoch zählte die DDR-Statistik 1958 fast 55.000 Rück- und Zuwanderer, 1959 gut 63.000 und 1960 nicht ganz 43.000.
Die Zäsur kam mit dem Jahr 1961: Bis zum Bau der Mauer musste ein Umzug in die DDR keine endgültige Entscheidung sein. Es gab Grenzgängerinnen und Grenzgänger, die mehrfach zwischen West- und Ostdeutschland wechselten.
Motive und Erfahrungen der West-Ost-Migrantinnen und -Migranten
Nur eine Minderheit ging aus politischer Überzeugung in die DDR. Die meisten Übersiedler kehrten zurück zu ihren Familien und Freunden, hatten sich verliebt, flohen vor Strafverfolgung, folgten dem Ruf der Kirchen, suchten Arbeit, ein besseres Leben oder einen persönlichen Neuanfang. Gerade in der Nachkriegszeit waren ökonomische Erwägungen und das in der DDR-Verfassung verankerte Recht auf Arbeit und Wohnraum ein starker Anreiz.
Die Spaltung Deutschlands und die Blockbildung im Kalten Krieg nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges bilden den historischen Kontext, in dem sich die West-Ost-Migranten bewegten und in dem sie ihre Erfahrungen sammelten. An diesen deutsch-deutschen Migrationsgeschichten ist, neben der Erkenntnis, dass Migration in die DDR überhaupt in einem nennenswerten Umfang stattgefunden hat, bemerkenswert, dass den Zuziehenden in der DDR überwiegend Misstrauen, Verachtung und Ablehnung entgegenschlugen – sowohl von Seiten der Behörden als auch aus der Bevölkerung.
Zudem waren die Bemühungen der Behörden für die Integration der Migrantinnen und Migranten häufig wenig strukturiert und effektiv. Die Neubürgerinnen und Neubürger wurden nach der ersten Zuweisung von Wohnraum und Arbeit eher unzureichend betreut. Vielfach gab es Klagen über schlechte Wohnungen, geringe Löhne, unterqualifizierte Arbeit, nicht eingehaltene Zusagen und Zurückweisungen durch Kolleginnen und Kollegen sowie Vorgesetzte. Dies führte nicht selten dazu, dass Übersiedler bei der Arbeit nur eine geringe Leistungsbereitschaft zeigten, dass sie häufiger den Arbeitsplatz wechselten, wegzogen oder in die Bundesrepublik zurückkehrten.
Ein weiteres Hindernis für die Integration der Übersiedler war das beinahe pathologische Misstrauen des SED-Staates. Obwohl dieser propagandistischen Nutzen aus den Neuankömmlingen zog, war die Angst übergroß, die falschen Leute ins Land zu lassen. Der allgemeine Umgang mit ihnen, die Überprüfung und die gesetzlichen Regelungen wurden mit den Jahren immer restriktiver. Die Übersiedler empfanden sich häufig als Bürger zweiter Klasse. Selten gelangten sie in verantwortliche Positionen, in vielen sicherheitsrelevanten Betrieben und Institutionen durften sie nicht arbeiten.
So unterschiedlich die Motive für eine Übersiedlung in die DDR waren, so verschieden waren die Erfahrungen, die die Übersiedler schließlich in der DDR sammelten. Die folgenden drei Biografien sind exemplarische Beschreibungen und Ergebnisse der Recherchen für die Wanderausstellung „Wechselseitig. Rück- und Zuwanderung in die DDR 1949 bis 1989“, die erstmalig in Form einer Ausstellung die kaum bekannte Geschichte jener Menschen erzählt, die von der Bundesrepublik in die DDR übersiedelten.
Der Fall Otto John – Verrat oder Entführung?
Von besonderem Nutzen für die DDR-Propaganda waren prominente Übersiedler wie der erste bundesdeutsche Verfassungsschutzpräsident Otto John. John gehörte zu den Verschwörerinnen und Verschwörern des 20. Juli 1944. Nach dem Scheitern des Staatsstreiches gegen Adolf Hitler gelang ihm die Flucht nach Großbritannien. Sein Widerstand gegen das NS-Regime und seine Tätigkeit als Berater der Staatsanwaltschaft im Kriegsverbrecherprozess gegen Erich von Manstein in Hamburg 1949 brachten ihm den Hass konservativer und rechtsnationaler Kreise in der Bundesrepublik ein. Auf Drängen der Briten wurde John 1950 dennoch Präsident des neugeschaffenen Bundesamtes für Verfassungsschutz. Auch in dieser Funktion trat er für eine gründliche Entnazifizierung sowie ein einheitliches Deutschland ein.
Am 22. Juli 1954 kam es zu einem Paukenschlag, der die junge Bundesrepublik erschütterte: Der Ost-Berliner Rundfunk meldete, dass John zu Gesprächen in die DDR gekommen sei und sich entschieden habe zu bleiben.
Otto John wurde nach seiner Ankunft in der DDR nicht wie ein Gefangener behandelt, er war jedoch ständig von Geheimdienstmitarbeitern umgeben. Nach der Befragung in der Sowjetunion wurde John Anfang Dezember 1954 in die DDR zurückgebracht. Er arbeitete für das Deutsche Institut für Zeitgeschichte (DIZ) in Berlin. Materiell fehlte es ihm an nichts. Ihm wurden ein Büro, eine Sekretärin, ein Dienstwagen mit Chauffeur und ein Haus am See in Schmöckwitz zur Verfügung gestellt. Allerdings waren das Haushälter-Ehepaar, der Fahrer und die ständigen Begleiter Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter des Ministeriums für Staatssicherheit (MfS). Im Büro, in seinen Privaträumen und selbst im Auto waren Abhörgeräte eingebaut. Obwohl John rund um die Uhr überwacht wurde, gelang ihm mit Hilfe eines befreundeten Journalisten am 12. Dezember 1955 die Flucht nach West-Berlin. Er kam in Untersuchungshaft und wurde ein Jahr später zu vier Jahren Haft wegen „landesverräterischer Fälschung“ verurteilt. Nur wenige glaubten ihm die Entführung. Auffällig ist die Tatsache, dass sämtliche Richter des Bundesgerichtshofes, die Otto John 1956 verurteilten, bereits in der NS-Zeit aktive Juristen gewesen waren. Nur zu gern, so unterstellten bereits Zeitgenossen, hätten sie ein hartes Urteil gegen den ehemaligen Widerstandskämpfer gesprochen. Erst im Juli 1958 konnte John das Gefängnis nach Verbüßung von fast zwei Dritteln seiner vierjährigen Haftstrafe verlassen.
Gerlinde Breithaupt – Liebe mit Hindernissen
Beinahe alle Übersiedler kamen bei ihrem Weg in die DDR mit dem MfS in Kontakt, dessen oft allgegenwärtiger Einfluss im Leben der Rück- und Zuwanderer meist im Aufnahmeheim begann. Auch nach der Aufnahme in die DDR wurden viele Übersiedler über Jahre sowohl von der Volkspolizei als auch von der Stasi überprüft und kontrolliert. Zu groß war die Angst, Spione, Kriminelle oder „Asoziale“ ins Land geholt zu haben. So wurde auch Gerlinde Breithaupt, die 1981 zu ihrem künftigen Ehemann in die DDR zog, jahrelang überwacht. Die Stasi konnte sich nicht vorstellen, dass sie nur aus Liebe in die DDR gegangen war. Gerlinde Schnübbe wuchs in einem evangelischen Pfarrhaus in Hannover auf. Sie studierte Theologie. Aus Neugier besuchte sie Ende 1977 Erfurt, den Geburtsort ihres Vaters, und lernte dort den Theologiestudenten Joachim Breithaupt kennen und lieben. Eine Liebe mit Hindernissen begann: Joachim wollte nicht in den Westen, Gerlinde zunächst nicht in den Osten. Doch die Zuneigung war stärker. Sie informierte sich schließlich über mögliche Wege in die DDR. Den eigentlich zwingend vorgeschriebenen Aufenthalt in einem Aufnahmeheim lehnte sie strikt ab. Da sich die Evangelische Kirche in der DDR bei den staatlichen Stellen für das Paar einsetzte, blieb Gerlinde Schnübbe das Aufnahmeheim erspart.
Einige ihrer Freunde in der Bundesrepublik reagierten mit Entsetzen auf ihre Übersiedlungspläne. Ihre Eltern machten sich große Sorgen, versuchten jedoch nicht, sie von ihrer Entscheidung abzubringen. Im Sommer 1981 konnte Gerlinde auf Dauer in die DDR einreisen. Der freundliche Empfang in der evangelischen Gemeinde in Roßla, in der sie ihr Vikariat machte, erleichterten ihr die Eingewöhnung, ebenso wie der sehr familiäre und persönliche Umgang in der Evangelischen Kirche in der Kirchenprovinz Sachsen. Sie fühlte sich wohl. Nur die Stasi blieb misstrauisch. Das Telefon des Paares wurde überwacht, wichtige Gespräche führten sie im Wald.
Rudi Goguel – Verfolgt im Nationalsozialismus, geflohen aus der Bundesrepublik
Obwohl Rudi Goguel der DDR politisch nahe stand, ging er nicht ganz freiwillig in den Osten und geriet immer wieder in Konflikt mit den dortigen autoritären Strukturen. Als KPD-Mitglied war der kaufmännische Angestellte Rudi Goguel zwischen 1933 und 1945 – bis auf wenige Monate in Freiheit – in Zuchthäusern und Konzentrationslagern (KZ) inhaftiert. Während seiner Zeit im KZ Börgermoor 1933 komponierte Goguel das später weltbekannte Lied von den Moorsoldaten. Kurz vor Kriegsende überlebte er die Bombardierung der „Cap Arcona“ durch die Alliierten, die das Schiff, auf dem sich mehrere tausend KZ-Häftlinge befanden, für einen Truppentransport hielten.
Nach seiner Befreiung ging Goguel nach Konstanz und heiratete seine Verlobte Lydia Bleicher. Er engagierte sich in der KPD Südbaden, war an der Entnazifizierung der badischen Wirtschaft beteiligt und arbeitete als Redakteur für den Südkurier. Nach der Bundestagswahl 1949, bei der er für die KPD kandidierte, verabschiedete seine Parteigruppe intern eine kritische Wahlanalyse. Sie stellte sich damit gegen die Parteilinie – in den Anfangsjahren des Kalten Krieges eine ernsthafte Provokation, denn die Parteileitung duldete keinen Widerspruch. An Goguel wurde ein Exempel statuiert: Er verlor alle Parteiämter und konnte sich nur durch eine öffentliche Selbstkritik in der KPD halten.
Während in der Bundesrepublik nach Rudi Goguel wegen Hochverrat gefahndet wurde, brauchten die Behörden der DDR beinahe ein Jahr, um über seine Aufnahme zu entscheiden. Erst im September 1953 stand fest, dass er in der DDR bleiben durfte. Lydia und die gemeinsamen Kinder folgten ihm nach Ost-Berlin. Goguel wurde am Deutschen Institut für Zeitgeschichte (DIZ) angestellt. Auch in der DDR eckte er immer wieder an. Bis 1959 leitete Goguel die Abteilung Publizistik am DIZ. Von seinem Vorgänger wurde er der Agententätigkeit beschuldigt – ein Vorwurf, der die Todesstrafe bedeuten konnte. Weitere Kollegen denunzierten Goguel, sie warfen ihm unter anderem „objektivistische Tendenzen“, also ein Abweichen von der Parteilinie, vor.
1960 verpflichtete sich Rudi Goguel als Geheimer Informator (GI). Seine Zusammenarbeit mit dem MfS war ein Drahtseilakt: Bemüht, niemandem persönlich zu schaden, nutzte er die Strukturen des MfS für seine Forschung. Er berichtete über seine Arbeit am Institut und führte Informanten in der Bundesrepublik, die ihm Bibliografien erstellten und Bücher besorgten. Vom MfS erhielt er finanzielle Unterstützung für Forschungsreisen. Dabei wurde auch Rudi Goguel vom MfS überwacht. 1968 wurde er gegen seinen Willen in den Ruhestand versetzt. Zwei Jahre später beendet das MfS die Zusammenarbeit mit „Rudi“ und resümiert unter anderen, dass er „Informationen über seinen engeren Verbindungskreis zurückhielt“.
Spinner, Schuldner und Spione?
In der Auseinandersetzung mit Rück- und Zuwanderung von der Bundesrepublik in die DDR wird deutlich, dass die provokante Frage im Titel, ob es sich bei den Zuwanderern einzig um „Spinner, Schuldner und Spione“ handele, dieser Gruppe von Migranten keinesfalls gerecht wird.
So unterschiedlich wie die Ursachen für die Übersiedlung in die DDR waren, so unterschiedlich erging es den Rück- und Zuwanderern schließlich im Alltag der DDR-Diktatur. Ihr Erfahrungsschatz bietet einen besonderen Zugang zur Geschichte des SED-Staates, wie es auch die hier dargestellten Lebenswege von Otto John, Gerlinde Breithaupt und Rudi Goguel aufzeigen. Bei John wird sich vermutlich nie klären lassen, ob er freiwillig in die DDR kam oder nicht. Er erlebte dort zwar materiellen Wohlstand, zugleich aber auch Unfreiheit und Überwachung und floh zurück in den Westen, obwohl er in der Bundesrepublik mit strafrechtlicher Verfolgung rechnen musste. Gerlinde Breithaupt wiederum folgte ihrem Herzen und zog zu ihrem künftigen Mann in die DDR. Dies tat sie in dem Wissen, dass sie künftig in einer Diktatur leben würde. Ihre Arbeit als Pfarrerin und ihr privates Glück ermöglichten ihr jedoch ein recht zufriedenes Leben und einen pragmatischen Umgang nicht nur mit der Mangelwirtschaft, sondern selbst mit der Überwachung durch die Stasi. Einen ganz anderen Blickwinkel auf die DDR ermöglicht wiederum der Lebensweg Rudi Goguels: Aufgrund der Strafverfolgung von KPD-Mitgliedern in der Bundesrepublik hatte er kaum eine Alternative zur Übersiedlung in die DDR, wollte er nicht eine erneute Verhaftung in Kauf nehmen. In der DDR eckte der kritische Parteisoldat jedoch beständig an und geriet immer wieder mit den autoritären Strukturen in Konflikt, was ihn jedoch nicht verstummen ließ.
Anhand der Lebensgeschichten und Erinnerungen von Rück- und Zuwanderern wie bei den hier beschriebenen können Diktatur und Alltag in der DDR wie in einem Vergrößerungsglas aus einer besonderen, bisher wenig beachteten Perspektive beleuchtet werden. Dabei steht die Forschung weitgehend am Anfang. Es gibt noch eine Vielzahl bisher unbekannter Lebensgeschichten zu entdecken.
Zitierweise: Eva Fuchslocher und Michael Schäbitz, Spinner, Schuldner und Spione? Rück- und Zuwanderung in die DDR 1949 bis 1989, in: Deutschland Archiv, 12.4.2017, Link: www.bpb.de/246056