Zwischen Nora und Nagel. Norwegische Literatur in der DDR
Benedikt Jager
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"Und ewig singen die Wälder". Der Roman von Trygve Gulbranssen über das harte und dramatische Leben norwegischer Bergbauern war ein Bestseller der 1930er Jahre und befand sich in Millionenauflage in Tornistern deutscher Wehrmachtssoldaten. Während die Verfilmungen in Westdeutschland weiter das völkisch angehauchte Bild des Nordens reproduzierten, verschwand Gulbranssen vollständig vom ostdeutschen Buchmarkt und den Kinoleinwänden. In seinem Beitrag zur norwegischen Literatur in der DDR beschreibt Benedikt Jager verlegerische Brüche, Kontinuitäten und Kämpfe.
In Karl-Marx-Stadt kam es 1988 während einer Inszenierung von Ibsens "Ein Volksfeind" zu einer denkwürdigen Szene. Zu den Klängen des klassischem Doors Song "The End" schwebte ein als Henrik Ibsen erkennbarer Schauspieler vom Theaterhimmel. Die Süddeutsche Zeitung kommentierte: Castorf henkt Ibsen. Die symbolischen Implikationen werden noch deutlicher, wenn man sich einen Überblick über die Position Ibsens auf den Bühnen der DDR verschafft. Der Premierenkatalog der DDR bei der Akademie der Künste in Berlin verzeichnet über 150 Ibsen Inszenierungen, wobei allein "Nora. Ein Puppenheim" 53 mal gespielt wurde. Für viele Menschen stellt Henrik Ibsen sicherlich den Inbegriff der norwegischen Literatur dar, wobei es nie weit zu einem weiteren Namen ist: Knut Hamsun. Dieser Name hatte jedoch im literarischen Feld der DDR einen völlig anderen Klang. 1947 war der Nobelpreisträger von 1920 für seine deutschlandfreundliche Haltung während des Zweiten Weltkriegs wegen Landesverrats verurteilt worden. Da der Antifaschismus eine der ideologischen Grundsäulen der DDR war, kann es nicht verwundern, dass Hamsun lange nicht auf dem Buchmarkt der DDR präsent war. Im Folgenden sollen Teile der Publikationsgeschichte norwegischer Literatur in der DDR umrissen und anschließend die Reetablierung dieses äußerst problematischen Autors in der DDR ausführlicher skizziert werden.
Bürgerliches Erbe und Solidarität im Klassenkampf
Setzt man die Anzahl der in der DDR publizierten Texte aus Norwegen in Relation zu denen anderer skandinavischer Länder, zeigt sich, dass norwegische Literatur mit 92 Titeln nicht überdurchschnittlich vertreten war. Am auffälligsten ist sicherlich der hohe Anteil finnischer Literatur, der dem Faktum geschuldet ist, dass Finnland als Arena des kulturellen Systemvergleichs angesehen wurde und durch den finnisch-sowjetischen Vertrag von 1948 eine Sonderstellung im Kalten Krieg einnahm. In Finnland bemühten sich daher sowohl die Bundesrepublik als auch die DDR, kulturpolitische Akzente zu setzen, was sich in der Gründung von Kulturzentren in Helsinki widerspiegelte. Aber auch im NATO-Land Norwegen hoffte man, besonders bis zu Oslos völkerrechtlicher Anerkennung der DDR 1973, durch Kulturpolitik punkten zu können. In der Korrespondenz einiger Verlage finden sich immer wieder Passagen, die diesen Konnex zwischen Buchproduktion und großer Politik thematisieren. Diese Formulierungen muten heute geradezu rührend naiv an, spiegeln jedoch den immensen Glauben, den man dem gedruckten Wort in der DDR entgegenbrachte. So vertrat Horst Bien, anerkannter Vertreter der DDR-Nordistik, noch 1972 die Auffassung, dass die Publikation von Sigurd Evensmos "Englandfahrer" "nicht ohne positive Rückwirkung auf norwegische Bestrebungen zur Anerkennung der DDR bleiben" würde.
In der Publikationsgeschichte norwegischer Literatur in der DDR lassen sich einige Tendenzen recht deutlich beobachten, die im Einklang mit allgemeinen Entwicklungen der ostdeutschen Kulturpolitik stehen. In den ersten beiden Dekaden nach der Gründung der DDR wurden Texte des klassischen Erbes bevorzugt. Die DDR war als erster sozialistischer Staat auf deutschem Boden daran interessiert, sich als etwas qualitativ Neues darzustellen. Gleichzeitig wurde man aber nicht müde, darauf zu verweisen, dass man die progressiven Konzepte früherer Epochen aufgreife, weiterführe und vollende. Auf Grund des marxistischen Internationalismus wurde hierbei auf die gesamte Weltliteratur und nicht nur auf die deutschsprachige Tradition zurückgegriffen. Natürlich spielten in diesem Kontext die Weimarer Klassik und die Klassiker der sowjetischen Literatur eine herausgehobene Rolle, doch sollten andere Traditionen nicht vernachlässigt werden. In Bezug auf Norwegen wiederholten die Verlage der DDR die dort etablierten Kanonisierungstendenzen. Dies geschah in enger Zusammenarbeit mit der universitären Nordistik, die eine wichtige Rolle zum einen als Berater und darüber hinaus als Gutachter in den Druckgenehmigungsverfahren spielte.
Das vom Gyldendal-Verlag für Henrik Ibsen, Bjørnstjerne Bjørnson, Alexander Kielland und Jonas Lie aus markttaktischen Gründen geschaffene Label der "großen Vier" wurde publizistisch in der DDR reproduziert. Hierbei wurde besonders hervorgehoben, dass diese Autoren als kritische Realisten einem bürgerlichen Humanismus verpflichtet waren. Ihnen wurde zudem unterstellt, dass sie das aktivistische Literaturverständnis der DDR teilen würden, dass literarische Texte eine wichtige Rolle in der Volksbildung spielen. So kann man in einem Expertengutachten über Bjørnsons "Bauernerzählungen" lesen: "[…] dem bäuerlichen Menschen in Mecklenburg wird im Aufgriff des norwegischen Gestern eine Handhabe zu realistischer und humanistisch orientierter Bewältigung seiner gegenwärtigen Wirklichkeit gegeben."
Mit Bezug auf Briefe von Friedrich Engels, der 1890 Norwegen bereist hatte, wurde zudem hervorgehoben, dass man die norwegische Literatur des 19. Jahrhunderts nicht mit dem gleichen Maßstab messen dürfe, wie die stärker industriell entwickelten Länder England oder Frankreich: "Das Land ist durch Isolierung und Naturbedingungen zurückgeblieben, aber sein Zustand ist vollständig seinen Produktionsbedingungen angemessen und daher normal. […] Der norwegische Kleinbürger ist der Sohn des freien Bauern und ist unter diesen Umständen ein Mann gegenüber dem verkommenen deutschen Spießer." Wenn so mithilfe von Engels Autorität die Bedeutung der norwegischen Realisten für die deutsche Literaturgeschichte hervorgehoben wurde, ergaben sich keine Zensur-Probleme. Im Falle Ibsens führte dies bei der Publikation der gesammelten Werke dazu, dass auch das symbolistische Spätwerk (beispielsweise "Baumeister Solness") nicht ausgeklammert wurde. Während Ibsens Texte während des gesamten Untersuchungszeitraums präsent sind, ebbt das verlegerische Interesse für Bjørnson, Kielland und Lie zu Beginn der 1970er Jahre ab. Gegen Ende der 1980er Jahre kann erneut ein Interesse für die Klassiker beobachtet werden, das jedoch dem wirtschaftlichen Niedergang der DDR geschuldet ist. Die Werke unterlagen nun nicht mehr dem Urheberschutz und beanspruchten daher keine finanziellen Ressourcen für die Lizenzausgaben. Darüber hinaus hofften die Verlage, diese Klassiker-Ausgaben als Mitdrucke nach Westdeutschland verkaufen zu können. Ohne Einsatz harter Devisen selbige zu erwirtschaften, war eine der verlegerischen Maximen in den späten 1980er Jahren.
Neben den Klassikern hatte man in der Frühphase auch kommunistische Autoren verlegt und hoffte damit, den norwegischen Genossen im Klassenkampf unter die Arme zu greifen: "Daß Bolstad keine Weltliteratur schreibt, ist uns allen bekannt. Andererseits haben wir aber doch wohl die Verpflichtung, einem kommunistischen Schriftsteller, der im kapitalistischen Ausland lebt und dort boykottiert wird, zu helfen, seinen Kampf fortzusetzen." Von dem erwähnten Øivind Bolstad wurden bis Anfang der 1970er Jahre mehrere Texte veröffentlicht, besonders sein Roman "Der Profitör" – eine Abrechnung mit den norwegischen Kriegsgewinnlern – wurde in mehreren Auflagen in verschiedenen DDR-Verlagen publiziert. Der Fokus auf diese Traditionslinie deckt sich, und dies ist keine Überraschung, nicht mit norwegischen Kanonisierungstendenzen – diese Autoren sind in Norwegen so gut wie vergessen. Der Passepartout "schreibender moskautreuer Genosse" schließt ab den späten 1960er Jahren nicht mehr die Tür zum DDR-Buchmarkt auf. Der Aufbau eigener literaturwissenschaftlicher Studiengänge in Berlin, Leipzig und für die nordischen Länder besonders wichtig Greifswald hatte eine Professionalisierung des literarischen Feldes zur Folge. Die Lektorate begannen nun, innerhalb gesetzter Rahmen, einen gewissen Eigensinn zu entwickeln. Wo die Grenzziehung zum jeweiligen Zeitpunkt verlief, erforderte Fingerspitzengfühl, und die Verlagsmitarbeiter waren äußerst "wetterfühlig", um den einmal angehäuften Kredit bei der Hauptverwaltung (HV) Verlage und Buchhandel, so die korrekte Bezeichnung der Zensurbehörde innerhalb des Ministeriums für Kultur, nicht leichtfertig zu verspielen.
Dies kann am Beispiel Nordahl Griegs gezeigt werden, der in vielerlei Hinsicht ein kommunistischer "Posterboy" mit einschlägiger Biografie war: überzeugter Kommunist – Journalist im spanischen Bürgerkrieg auf Seiten der internationalen Brigaden – langer Moskauaufenthalt (1933–35). Zudem fiel er im Kampf gegen den Nationalsozialismus, als er 1943 über Berlin in einem Flugzeug der Royal Air Force abgeschossen wurde, das er als Kriegsberichterstatter begleitete. 1962 hatte man sein Andenken mit einer deutsch-norwegischen Konferenz in Greifswald geehrt und den Entschluss gefasst, sein Gesamtwerk auf Deutsch zugänglich zu machen. Dieses Vorhaben konnte nicht vollständig durchgeführt werden, weil das 11. ZK-Plenum der SED 1965 – das berüchtigte Kahlschlagplenum – zu einem Wetterumsturz in der Kulturpolitik der DDR geführt hatte. Griegs umfangreichster Roman "Jung muss die Welt noch sein" (1938) thematisiert nicht nur ausführlich den Aufenthalt des Autors in der Sowjetunion, sondern greift auch die Moskauer Prozesse auf. Der Verlag Volk und Welt war sich der Probleme durchaus bewusst, meinte jedoch durch eine sorgfältige Kommentierung und ein umfangreiches Nachwort den Text absichern zu können. Nach dem 11. Plenum konnte an dieser Einschätzung nicht festgehalten werden und das fast fertige Projekt wurde zunächst verschoben und dann 1970 endgültig beendet. Neben der Erwähnung der Moskauer-Prozesse, die Grieg weitestgehend verteidigte, war die Schilderung des Überwachungsklimas dem Lektorat nun zu heikel geworden. Ein wichtiger Funktionsmechanismus des Zensursystems der DDR wird hier besonders deutlich. Die Strukturen produzierten ein Klima der Vorsicht, des Taktierens und resultierten in der Selbstzensur der Verlage.
Insgesamt waren Texte, die die didaktische Rolle von Literatur weniger betonten und einen aktiven, mitschaffenden Leser erwarteten, problematisch. Innerhalb gewisser Grenzen konnten die Klippen dieser Texte durch ergänzende und erklärende Nachworte umschifft werden, in denen dem Leser eine sozialistische Lesart zum Nachvollzug nahegelegt wurde. Wie das Beispiel Nordahl Griegs "Jung muss die Welt noch sein" gezeigt hat, konnte mit diesem Schachzug aber nicht jede Schieflage ausbalanciert werden. Einige Texte wurden in diesem Sinne von den Verlagen als "nicht therapierbar" eingestuft: "Hamsuns literarische Programmatik erfährt ihre groteske Ausformung in ‚Mysterien’ (1892). In dieser Prosaarbeit wird ein destruktiv nihilistisches Welt- und Menschenbild gezeichnet, geprägt vom übersteigerten und verwundbaren Selbstgefühl Hamsuns, […]". Eine schillernde und vor allem ambivalente Figur wie Johan Nilsen Nagel, dem zentralen Charakter von "Mysterien", konnte nicht in Diskursformen überführt werden, die in der DDR sanktioniert wurden.
Verbotene Speisen
Mit solch einem Urteil im Gepäck war die Reetablierung von Knut Hamsuns Texten in der DDR ein Vorhaben, das hohe Hürden nehmen musste. Die Leser in der DDR mussten bis 1976 warten, um eine Neuauflage von einem Hamsun Roman ("August Weltumsegler") zu erleben. Vor 1976 sind die Spuren einer öffentlichen Rezeption spärlich. Lediglich das Jubiläumsjahr 1959 zu Hamsuns 100. Geburtstag bot den Anlass, sich mit ihm auseinanderzusetzen und gleichzeitig eine Abgrenzungsbewegung von der westlichen (sprich westdeutschen) Hamsun-Rezeption vorzunehmen. In der Zeitschrift Neue deutsche Literatur (NDL) erörterte Karl Blasche Fragen zu Hamsun und wählte dessen letztes Buch "Auf überwachsenen Pfaden" (1949) als Ausgangspunkt.
Allerdings bedürfen sowohl das Publikationsorgan als auch der Verfasser einer kleinen Anmerkung. Neue deutsche Literatur war als Organ des ostdeutschen Schriftstellerverbandes an die Vorgaben der offiziellen Kulturpolitik gebunden und sollte somit einer der Transmissionsriemen der SED-Politik sein. Karl Blasche war zu dieser Zeit als Referent in der Hauptverwaltung Verlagswesen – einem Vorläufer der bereits erwähnten Hauptverwaltung Verlage und Buchhandel – beschäftigt und verfasste zahlreiche, zum Teil scharfe Gutachten zu Texten des klassischen Erbes. Diese Kombination lässt bereits erahnen, dass der Artikel kaum eine wohlwollende Annäherung an Hamsuns Leben und Werk darstellen würde. Hamsun ist ein "Apostel der höllischen Entmenschung" und seine Texte singen das "Rattenfängerlied der 'triebhaften Selbstverfallenheit', die Hamsun zum Protagonisten des reaktionären Nihilismus und folgerecht zum spontan antrabenden Paradepferd des Faschismus gemacht hat." Neben diesen etwas selbstverliebten rhetorischen Ausfällen finden sich viele Axiome, die später in den Druckgenehmigungsverfahren neutralisiert werden mussten. So negierte Blasche ausdrücklich die Möglichkeit, dass Hamsuns Engagement für den Faschismus als Zeugnis von Senilität gelesen werden könne. Für ihn ist dieses vielmehr der logische Schlusspunkt eines lebenslangen Antidemokratismus. Für Blasche finden sich in allen Texten Hamsuns die gleichen Versatzstücke eines kosmopolitischen Individualismus, einer Gesinnungs-Aristokratie, ein atavistischer Herren- und Unterdrücker-Idealismus, ein Irrationalismus, so dass gerade "Auf überwachsenen Pfaden" es unmöglich macht, Teile aus dem Gesamtwerk auszulösen und für eine sozialistische Aneignung aufzubereiten.
Und dennoch kam es hier zu Widerspruch. Im Dezember 1959 wandte sich die Dresdener Schriftstellerin Auguste Lazar an die Redaktion und bemängelte vor allem, Blasche habe Hamsuns Verhältnis zur Arbeiterklasse ausgeklammert. Zudem stieß ihr negativ auf, dass Blasche wiederholt die technische und ästhetische Meisterschaft Hamsuns betone: "man leckt sich ordentlich die Lippen, so lecker ist diese verbotene Speise beschrieben." Ihren Vorwurf, mit dem Hamsun Artikel einen schweren politischen Fehler begangen zu haben, wiederholte sie in weiteren Schreiben an hochstehende Kulturpolitiker der DDR wie beispielsweise Alfred Kurella. Kurella war zu dieser Zeit Leiter der Kommission für Fragen der Kultur beim Politbüro. Er war bis zu seinem Tod 1975 eine der führenden kulturpolitischen Instanzen der DDR und stand für eine repressive Linie. Diese Autorität bestätigte in ihrer Antwort Lazars Deutung und bat sie gleichzeitig um einen Artikel, der das Phänomen Hamsun ins rechte Licht rücken könnte. Ebenso interessant ist ein Brief Lazars an Eva und Erwin Strittmatter, die Mitglieder des Beirates der NDL waren und bezichtigt die Redaktion politischer Naivität. Diese Konstellation entbehrt nicht einer komischen Pointe, da einer der Adressaten, der aufstrebende DDR-Autor Erwin Strittmatter, eines seiner großen literarischen Vorbilder in Knut Hamsun sah.
Diese kleine Auseinandersetzung im Zusammenhang mit Blasches Hamsun Artikel kann als repräsentativ für größere Zusammenhänge in der DDR angesehen werden. Führende Schriftsteller und Kulturpersönlichkeiten wie der expressionistische Dichter und Präsident des DDR-Kulturbundes J.R. Becher, der dänische Schriftsteller und Kommunist Martin Andersen Nexø, der in die DDR übergesiedelt war, und besonders die Schriftstellerin Anna Seghers hatten sich in ähnlicher Weise zu Hamsun geäußert. Für sie war Hamsun das Beispiel par excellence für einen gefallenen Schriftsteller, der Prototyp eines Quislings. Darüber hinaus wurde sein Werk in die ideologischen Muster des kalten Krieges gepresst. Die ostdeutsche Kritik kreidete der westlichen Rezeption noch in den 70er Jahren einen unerträglichen Hang zur Apologetik an und deutete die ungebrochene Popularität Hamsuns als Wasserzeichen der faschistischen Durchdringung der Bundesrepublik. Vor dem Hintergrund solcher Überlegungen kann es nicht überraschen, dass um die Publikation von Hamsuns Texten lange gekämpft wurde und dass "August" (1976) als (indirekte) Frucht der umfassendsten Tauwetterperiode zu Beginn der 1970er Jahre angesehen werden kann.
Zum Teil finden sich umfangreiche Dokumente, die diesen langen Weg beschreiben und die hier im Telegrammstil aufgelistet werden sollen: Im Archiv des Aufbau-Verlags findet sich ein anonymes Gutachten aus dem Jahr 1965 zum Gesamtwerk Hamsuns. Die Bewertung der wichtigsten Hamsun-Texte fällt negativ aus, öffnet allerdings die Tür einen Spalt weit: Hamsuns Novellen könnten vielleicht publiziert werden, weil sie das eigentlich Hamsun-typische nicht wiederspiegelten. Neben der politischen Großwetterlage ist ein weiterer Faktor zu nennen, der entscheidend zur Wiederveröffentlichung von Hamsuns Texten in der DDR beigetragen hat: 1970 erschien eine zweibändige Ausgabe in der Sowjetunion. Das umfangreiche Vorwort von Boris Sutschkow wurde übersetzt und als 65-seitiges Dokument der HV Verlage und Buchhandel vorgelegt. Mit dieser Rückendeckung intensivierten die Verlage nun ihre Bemühungen. Zentral hierbei ist erneut der Greifswalder Nordist Horst Bien, der auch ein umfangreiches Gesamtgutachten und später die Nachworte verfasste. Grob vereinfacht kann man die Argumentation dahingehend zusammenfassen, dass Hamsuns Analyse der negativen Effekte des Kapitalismus große Tiefenschärfe aufweist, es ihm jedoch unmöglich war, die richtigen Schlüsse zu ziehen. Ihm wird attestiert, die Krankheit erkannt, jedoch bei der Wahl der Medizin versagt zu haben. Seine reaktionäre Utopie sei blind für die progressive Rolle des Proletariats gewesen, sein ausgeprägter Individualismus wurde zum Leiden und als Sehnsucht nach der Gemeinschaft der Werktätigen umgedeutet. Anhand dieser Argumentationslinie konnten in der DDR "August Weltumsegler", "Hunger", "Pan" und "Segen der Erde" erscheinen. Es finden sich zwar keine negativen Leserreaktionen in den Verlagsarchiven aber dennoch wurden die Pläne, größere Teile des Gesamtwerkes zugänglich zu machen, nicht realisiert.
Verwerfungen
Wie stark sich Hamsuns Texte und seine Biografie einer verändernden Lage anpassen ließen, soll abschließend an Erwin Strittmatter gezeigt werden. Hamsuns Vorbildcharakter für das Schreiben Strittmatters ist bereits erwähnt worden, doch mit dem Jahr 1989 trat die Identifikation mit der Biografie des Autors in den Vordergrund. Am 16. Juni 1989 vermerkte Strittmatter in seinem Tagebuch: "Möglich, dass man mich demnächst als einen ‚Quisling‘, wie es Hamsun geschah an den Pranger stellt, weil ich meine gesellschaftlichen Hoffnungen eine Zeitlang auf den Marxismus setzte, während Hamsun rehabilitiert wird." Mehrfach kehrte Strittmatter in seinen Tagebüchern in den Jahren bis zu seinem Tod 1994 zu Hamsun zurück. Die Ängste der Wendezeit erwiesen sich aber als unbegründet. Dadurch trat der politische Hamsun in den Hintergrund, die Identifikation mit dem gebrechlichen Autor und dessen Werk wurden für Strittmatter erneut wichtiger, wie seine Lektüre von Thorkild Hansens "Der Prozess gegen Knut Hamsun" zeigt: "Man wird beim Lesen dieses klärenden Buches zuweilen von Jammer und Abscheu gepackt, doch wenn man als Medikament ein, zwei Seiten von Hamsuns Prosa liest, spürt man wie unwichtig dieses politische Für und Wider gegen sein Werk ist, das er uns schliesslich [sic] hinterliess [sic]." Mit dieser Eintragung hatte Strittmatter natürlich auch das eigene Werk im Blick und man spürt die Selbstgewissheit, dass dieses trotz des epochalen Umbruches überleben werde – eine gewöhnliche Selbststilisierung in Schriftstellertagebüchern. In dem hier angerissenen Problemfeld von Literatur und Zensur im gesellschaftlichen Umfeld der DDR steht eine weitere Eintragung, die das Phänomen der Redefreiheit streift: „Ganz neu dabei das Gefühl, frei reden zu dürfen. Nicht jeden Satz, bevor ich ihn sage, im Inneren abklopfen zu müssen, ob es auch so ist, dass ihn die Zensur nicht sperrt, dass er politisch nicht allzu sehr stinkt. Wie gut das tut, über mein Verhältnis zu Laotse, über Hamsun und Tolstoi zu sprechen! Endlich offen sagen: Ich bin, der ich bin und nicht einer, der ich sein soll, damit man mich gelten lässt. Endlich den Ekel nicht mehr verbergen müssen, vor den engen geistigen Verhältnissen, in denen ich die letzten Jahre zu leben gezwungen war."
Andauernde Brüche
Die Beschäftigung mit den Zensurmaterialien der DDR zeigen, dass die Kontrolle des geschrieben Wortes in ein Sprachspiel mündete, das nur noch Wiederholungen produzierte und sich somit selbst von Erneuerungsreserven abschnitt. Die DDR ist – metaphorisch gesprochen – an der eigenen Redundanz erstickt. Die weitere Beschäftigung mit dem Leben und Werk Erwin Strittmatters zeigt allerdings, dass auch dessen ‚Happy End‘ blinde Flecken hat. Die eigene Rolle während des Zweiten Weltkrieges, die in den letzten Jahren viel wissenschaftliche und publizistische Aufmerksamkeit erfahren hat, blieb im Dunkeln.
Christa Wolf, literarisch ein Gegenpol zu Strittmatter, berührt sich biografisch mit ihm durch die Amnesie ihrer Stasi-Tätigkeit als IM Margarethe. In ihrer Selbstbefragung "Die Stadt der Engel oder The overcoat of Dr. Freud" zitiert sie aus dem Tagebuch Thomas Manns: "Über alles bekennend zu schreiben, würde mich zerstören. Ich dachte: Gar nicht darüber zu schreiben hätte ihn erstickt." Den Riss zu ertragen, der durch alle Dinge geht und diesen in der wissenschaftlichen, publizistischen und zivilgesellschaftlichen Auseinandersetzung zu pflegen und in der privaten Auseinandersetzung nicht zu negieren, ist der schwierige Imperativ. Der Schlussstrich unter das Phänomen Knut Hamsun, sowohl als historische Person als auch literarischer Autor, ist auch in der norwegischen Öffentlichkeit noch nicht gezogen und wird lange nicht gezogen werden.
In allen diesen Auseinandersetzungen besteht allerdings die Gefahr, dass ein gesellschaftlicher Konsens entsteht, worüber kein Konsens besteht und man es sich in dieser Konstellation bequem macht. Die daraus resultierenden Ritualisierungen können als Feigenblätter, die andere Kontroversen verdecken, fungieren. So erfuhr der mehrfach erwähnte Nordahl Grieg im Zusammenhang mit den Trauerfeierlichkeiten für die Opfer der Anschläge Anders Behring Breiviks in Oslo vom 22. Juli 2011, in denen sein Gedicht "An die Jugend" einen emotionalen Knotenpunkt bildete, eine Renaissance. Die Wucht und Bedeutung dieses Gedichts in diesem Kontext ist unleugbar. In einer ‚pars-pro-toto‘ Bewegung wurde Nordahl Grieg zu einem Repräsentanten der friedlichen und offenen Zivilgesellschaft Norwegens. Ein äußerst diskutabler Schluss, wenn man liest, wie ambivalent dieser den Gebrauch von Gewalt und Terror beispielsweise in seinem Stück über die Pariser Kommune "Die Niederlage" (1937) thematisierte.
Paradoxerweise sind es in solch einer Perspektive die Auseinandersetzungen, die vereinen, so lange sie ausgetragen werden.
Zitierweise: Benedikt Jager, Zwischen Nora und Nagel. Norwegische Literatur in der DDR, in: Deutschland Archiv, 15.8.2016, Link: www.bpb.de/232538
Dr.; Associate Professor für skandinavische Literatur am Institut für Kultur- und Sprachwissenschaften der Universität Stavanger.
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