"Sie waren jedes Wochenende unterwegs, um sich die Ländereien anzuschauen, die sie aufkaufen wollten. Manchmal glaubten sie, daß sie es nie schaffen würden. Das Land kam ihnen so groß vor. Das lag aber daran, daß ihr Moped so langsam war."
Macht und Herrschaft auf engstem Raum
Um das Verhältnis von Herrschaftsordnung, Raum und Machtchancen der Vielen in den beengten Verhältnissen der DDR zu diskutieren, soll zunächst von der klassischen Unterscheidung Max Webers ausgegangen werden. Demnach bedeutet "‘Macht‘ […] jede Chance, innerhalb einer sozialen Beziehung den eigenen Willen auch gegen Widerstreben durchzusetzen, gleichviel worauf diese Chance beruht". "‘Herrschaft‘ soll heißen die Chance, für einen Befehl bestimmten Inhalts bei angebbaren Personen Gehorsam zu finden."
Eine "soziale Beziehung" zwischen Individuen beinhaltet immer ein Nähe-Distanz-Verhältnis, das durch die Eigenschaften des Raumes, indem es situiert ist, wesentlich bestimmt ist: Die Kleinfamilie ist durch die private Wohnung, die Nachbarschaft durch den Häuserblock oder die Plattenbausiedlung, das Arbeitskollektiv durch Werkstatt, Fabrikhalle und Bürogebäude, die Zwangsgemeinschaft der Gefangenen durch das Gefängnis, und so weiter räumlich organisiert. Wir können uns diese Räume also als Machträume vorstellen. Damit folgen wir zugleich der von Foucault inspirierten Vorstellung, wonach soziales Handeln immer in Machtbeziehungen stattfindet und mit einem räumlichen Dispositiv verbunden ist, und dass dabei jeder Akteur mit Macht ausgestattet ist, wenn auch in unterschiedlichem Umfang und in unterschiedlicher Weise, vor allem auch mit unterschiedlichen Mitteln ("gleichviel worauf die Chance beruht") und in Verbindung mit unterschiedlichen Praxen (unter denen die Praxis des Diskurses eine besondere Stellung einnimmt).
Das ist eine sehr allgemeine Bestimmung, die wenig über den Inhalt, die Funktionsweise und schon gar nichts über die äußeren Umstände dieser Beziehungen aussagt. "Herrschaft" ist im Gegensatz dazu in einer Hinsicht eindeutig: Sie beinhaltet ein Oben und ein Unten. Offen bleibt in dieser Definition, wie die Errichtung und die Reproduktion von Herrschaft bewerkstelligt wird, zum Beispiel ob dieser Vorgang auf Willkür und Gewalt beruht oder in regelgebundenen und ergebnisoffenen Verfahren immer wieder erneuert wird, wie das für die Demokratie als "Herrschaft auf Zeit" charakteristisch ist. Wie sich im Einzelnen dieses Befehl-Gehorsam-Verhältnis in der Praxis gestaltet, variiert je nach historischen und gesellschaftlichen Umständen. Herrschaftsbeziehungen beruhen nicht nur auf formalen Befehlen und Anweisungen, sondern auch auf äußerlichem Einvernehmen und stummem Zwang. Entscheidend ist, dass die in einer Herrschaftsbeziehung angelegte "Chance" der einen Seite, bei der anderen "Gehorsam zu finden", auf Dauer gestellt und institutionalisiert, mithin Macht zwischen verschiedenen Akteuren ungleich verteilt ist.
Herrschaft in der DDR
Nach diesen Vorüberlegungen soll es im Folgenden darum gehen, wie sich Machträume und Herrschaftsverhältnisse in der DDR-Gesellschaft zueinander verhielten. Herrschaft in der DDR sollte in erster Linie politische Herrschaft sein. Das Gesellschaftssystem war darauf ausgerichtet, dass die von der Monopolpartei definierte Politik alle gesellschaftlichen Subsysteme (Ökonomie, Staat, Gesellschaft, Kultur, …) erreichte und affizierte.
Herrschaftsstrukturen in der DDR stellen sich daher, anders als in liberalen Gesellschaften, nicht als ein Neben- und Miteinander relativ autonomer Herrschaftsstrukturen dar, sondern als ein monolithisches, in sich mehrfach abgestuftes System von Bereichen, die untereinander in komplexen und angesichts des großen Anteils arkaner, das heißt geheimer, Herrschaftspraktiken nur teilweise einsehbaren Hierarchiebeziehungen standen. Das gesamte Land war in eine zentralistische Hierarchie von Zentrale – Mittelinstanz (Bezirk) – untere Ebene (Kreis) eingeteilt; der Instanzenzug jeder sachlichen Zuständigkeit fügte sich in dieses Schema ein. Auf jeder dieser Ebenen war die "führende Rolle der Partei" und die unsichtbare Hand ihrer Exekutionsorgane, insbesondere des Ministeriums für Staatssicherheit, gegenüber den anderen Instanzen statuarisch gesetzt. Sie legitimierte sich aus der historischen Mission der marxistisch-leninistischen Partei mit der den Bestand der DDR garantierenden Sowjetunion an der Spitze.
Wie im Einzelnen konkrete Machträume mit den Herrschaftsinstitutionen des SED-Staats verknüpft waren, gilt es zu rekonstruieren. Es handelt sich um eine genuin historische Frage. Es genügt nicht, etwa unter Berufung auf einen der totalitarismustheoretischen Ansätze zu unterstellen, dass die Parteiherrschaft alle Bereiche des sozialen Lebens von oben bis unten in gleicher Dichte und Totalität durchdrungen habe, daher jeder Machtraum in der sozialistischen Diktatur, mithin jede soziale Beziehung nur ein Rädchen im Getriebe des großen Ganzen gewesen sei, deren Funktionieren sich aus dem Herrschaftsapparat, dem sie unterstand, ohne weitere Anschauung ableiten ließe. Als heuristische Maxime muss vielmehr gelten: Die historische Frage nach dem Ob und Wie der Verknüpfung von Machträumen mit Herrschaftsbeziehungen lässt sich nicht durch den bloßen Rekurs auf die Herrschaftstheorie der Kommunisten vom "Demokratischen Zentralismus" beantworten. Letzteres zu tun hieße, das "Intelligent Design" der marxistisch-leninistischen Kybernetiker, Planer, Philosophen und Staatswissenschaftler für bare Münze zu nehmen anstatt für das, was es vor allem war: Ausfluss der Hybris einer Herrschaftselite von "Auserwählten", die sich weder unzensierter Kritik noch der Erneuerung ihres Herrschaftsauftrags durch ergebnisoffene Verfahren stellen musste.
Für detaillierte Untersuchungen konkreter Machträume müssen zunächst Handlungsfelder sozialer Beziehungen und ihrer Ver-Räumlichungen identifiziert und beschrieben werden. Es ist ihre Position im Verhältnis zu anderen Machträumen, und die Frage nach ihrer Verbindung zu Herrschaftspraxen zu bestimmen. Dabei stellt sich dann die Gretchenfrage nach der Reichweite der Parteiherrschaft und umgekehrt nach der Reichweite der Macht der von Herrschaftspositionen ausgeschlossenen Akteure.
Handlungsräume
Als eines der Handlungsfelder, das während der ersten zwanzig Jahre der Erforschung der DDR-Geschichte nach 1990 in dieser Perspektive vergleichsweise gut ausgeleuchtet wurde, ist der Betrieb anzusehen.
Demgegenüber wurden andere Handlungsräume, also diejenigen außerhalb von Betrieb und Produktion, zunächst nicht so umfassend erforscht. Ihre Bedeutung für die Reproduktion der SED-Herrschaft ist auch nicht so leicht zu bestimmen. Wenn wir uns auf das Wohngebiet oder den Stadtraum konzentrieren, werden wir rasch feststellen, dass es an der Basis der Hierarchie keine Schlüsselinstitution gab, die ähnlich den "Brigaden der sozialistischen Arbeit" im Betrieb als generalisierte und durchaus alltagstaugliche Schnittstelle zwischen Herrschaftssystem und den Individuen fungierte. "Hausgemeinschaften" und "Wohngebietsausschüsse der Nationalen Front", die "Wohngebietsorganisationen" der SED, in denen überwiegend Rentner aktiv waren, örtliche Hobby-Sparten des Kulturbundes, die Aktivisten der "Gesellschaft für Natur und Umweltschutz", aber auch die lokalen Ableger der staatlichen Verwaltung und der Sicherheitsorgane wie die bei den Fachausschüssen der örtlichen Volksvertretungen angesiedelten "Bürger-Aktivs", die von den Abschnittsbevollmächtigten der Volkspolizei geführten "Gruppen der freiwilligen Helfer der Volkspolizei", die Freiwillige Feuerwehr, sowie die Gesellschaft für Technik (GST) – diese und weitere Institutionen sollten bei der Gestaltung des sozialen Nahraums "vor Ort" zusammenwirken – zumindest laut den zahlreichen Organigrammen, die die Bürokratien der DDR hinterlassen haben. Ein Blick in die Archive zeigt, dass viele dieser "Kollektive" eine Papierexistenz fristeten oder nur sporadisch aktiv waren. Dennoch erzeugten sie eine alle Bereiche des offiziellen öffentlichen Lebens repräsentierende Kulissenlandschaft. Ihre weithin sichtbaren Fassaden und Losungen sorgten auch außerhalb des primären Sozialisationsraums "Betrieb" dafür, dass kein DDR-Bürger und keine DDR-Bürgerin der obrigkeitlichen Aufforderung zur Mitwirkung am großen Ganzen aus dem Weg gehen konnten. "Arbeite mit! Plane mit! Regiere mit!" lautete der seit Ende der 1950er Jahre propagierte Slogan, der Angebot und Drohung zugleich enthielt, da diese Vision von Gesellschaft für das Nicht-Mitarbeiten keinen legitimen Raum vorsah.
Räume des Mitmachens in der SED-Diktatur
Eine der hartnäckigen Forschungslücken in der Erforschung der DDR-Gesellschaft sind die vielfältigen Formen des "gesellschaftlichen Engagements", die in diesen Basiseinheiten der Institutionenlandschaft angesiedelt waren.
Stillschweigender Minimalkonsens und Eigen-Sinn
Die Bedeutung dieser vordergründig banalen Gegenstände örtlich begrenzten Engagements zu unterschätzen, ist eine der typischen Fallstricke einer zu ausschließlich auf die "große Politik" und die repressive Willkür des SED-Staats ausgerichteten Erforschung der DDR-Vergangenheit. Die über lange Zeit ungefährdet erscheinende und offenkundig nicht ausschließlich auf physischer Gewaltandrohung gestützte Stabilität der SED-Herrschaft beruhte, so meine bereits an anderer Stelle ausgeführte These, auch auf einem stillschweigenden Minimalkonsens zwischen Regime und Bevölkerung.
Dieser Minimalkonsens musste "stillschweigend" bleiben. Es konnte nicht öffentlich zur Sprache gebracht werden, dass das SED-Regime im Höchstfall auf bis zu 20 Prozent der Bevölkerung als innerlich überzeugte Unterstützer rechnen konnte,
Um diese Interaktionen zu verstehen, und zwar aus der Perspektive der von den "Höhen" der politischen Herrschaft Ausgeschlossenen, stellt das Konzept des Eigen-Sinns einen vielversprechenden Zugang dar.
Die "Diktatur der Grenzen" als Herrschaftsprinzip
Wie ist nun das Verhältnis von Eigen-Sinn und dem, was man die politische "Raum-Ordnung" des SED-Staats nennen könnte, zu denken? Konstitutiv für die Anordnung der verschiedenen Machträume innerhalb der DDR-Gesellschaft war das Prinzip der "Diktatur der Grenzen": Die erwähnten bürgerschaftlichen Partizipationsmöglichkeiten waren nicht nur begrenzt – das sind sie in demokratischen Gemeinwesen auch – ; diese Grenzen waren erstens unverhandelbar, zweitens äußerst unflexibel und undurchlässig, und drittens sehr weit unten angesiedelt, wenn man das Ganze zugleich als eine Machtpyramide betrachtet.
"Unverhandelbar" bedeutete: Der politische Führungsanspruch der SED durfte nicht, weder rhetorisch noch de facto, in Frage gestellt werden. "Unflexibel“ bedeutete: die Machträume des SED-Staats, also jene, zu denen nur Amtsträger der Partei und des Staatsapparat Zutritt hatten, und in denen die Genossen unter sich waren und bleiben sollten, bildeten eine Arkansphäre, die von der Sphäre der gesellschaftlichen Öffentlichkeit sorgsam geschieden wurde. Die Grenze zwischen beiden wurde bewacht und illegaler Grenzübertritt bekämpft beziehungsweise verhindert. Die Funktionäre, die an dieser Grenze Dienst versahen, waren sehr zahlreich und bildeten gewissermaßen das große Korps der Frontoffiziere zur Verteidigung der SED-Herrschaft gegen die ihr aus der Gesellschaft drohenden Gefährdungen und oder auch nur Begehrlichkeiten. Der Historiker Christoph Classen hat sie angesichts ihrer Sisyphusaufgabe einmal scherzhaft als die "armen Schweine an der Schnittstelle" bezeichnet.
Wie eine gläserne Decke hing diese Grenze, in der Vertikalen betrachtet, sehr tief im Gesamtgebäude des DDR-Gemeinwesens. Als – zu überprüfende – Arbeitshypothese schlage ich vor, die untere Außengrenze dieses Arkanums der DDR-Herrschaftsapparate ungefähr dort zu lokalisieren, wo die Zuständigkeitsbereiche hauptamtlicher Funktionsträger begannen. Von unten her gesehen hatte der gewöhnliche DDR-Bürger damit spätestens auf Kreisebene kaum mehr Möglichkeiten, durch Einsatz seiner Machtressourcen etwas Nennenswertes zu bewirken – es sei denn er verlegte sich auf das Schreiben von Eingaben. Diese konnten auch an höhere, ja an höchste Stellen gerichtet werden, dies jedoch unter strikter Beachtung des Prinzips ihrer Nicht-Öffentlichkeit, und dazu gehörte auch, dass sich der DDR-Bürger auf diese Weise nur als Einzelperson an die "Organe" des Parteistaats wenden durfte. Vereinzelt und außerhalb ihrer sozialen Beziehungen waren Eingabenschreiber jedoch weitgehend machtlos. Ob und wie die massenhaften Eingaben im Machtarkanum der Bürokratien des SED-Staats Entscheidungen im Sinne ihrer Autoren und Autorinnen bewirkten oder auch nicht, blieb der Willkür überlassen.
Das lange Scheitern des Minimalkonsenses
Soweit ein Erklärungsmodell, das wesentliche Komponenten und Wirkungsweisen im Verhältnis von Herrschaftspraxis, Machträumen (auch und vor allem der "einfachen" DDR-Bürgerinnen und -Bürger) und Eigen-Sinn umreißen soll. Historisches Forschen und Erkennen ist aber bekanntlich weniger an Zustandsbeschreibungen als an Veränderungen über die Zeit interessiert. Was hier als die Stabilität dieses Herrschaftsarrangements begünstigender "stillschweigender Minimalkonsens" skizziert wurde, war in der DDR keineswegs von Anfang an vorhanden, im Gegenteil: Die 1950er Jahre waren vom offenkundigen und – man denke an den 17. Juni 1953 – auch gewaltsam ausgetragenen Dissens zwischen Regime und Bevölkerung geprägt. Der stillschweigende Minimalkonsens hingegen hat sich erst in den Jahren nach dem Mauerbau bis zur frühen Honecker-Zeit entwickelt. In diese Zeit fällt auch die Konsolidierung und Routinisierung jenes DDR-Alltags, zu dem die beschriebenen, eng begrenzten Räume des bürgerschaftlichen Mitmachens und der von der Obrigkeit erwarteten "gesellschaftlichen Aktivitäten" ganz selbstverständlich dazu gehörten.
Bekanntlich scheiterte die SED aber je länger sie herrschte umso gründlicher mit ihrem durchaus ernst gemeinten Versuch, unter Maßgabe der systematischen diktatorischen Begrenzungen von Selbstbestimmung und Partizipation – beim Mauerbau angefangen bis zum unbedingt abgeschirmten Herrschaftsarkanum – gesellschaftliche Entwicklung so zu befördern, dass die Bürger nicht nur ihr Land, sondern eines Tages auch ihre Obrigkeit lieben würden. Das zeitigte spätestens ab den 1980er Jahren widersprüchliche Resultate: einerseits finden sich Anzeichen dafür, dass die Menschen im lokalen Nahbereich die vorhandenen Machträume eigenständiger zu nutzen begannen und sich dort verstärkt als "Bürger" zur Geltung zu bringen verstanden. Um seine internationale Reputation besorgte, begann der SED-Staat vermehrt kleine Konzessionen zu machen. So kann lassen sich einige der von Jan Palmowski in seinem großartigen Buch "Inventing the Socialist Nation" beschriebenen Konfliktverläufe zwischen lokalen Heimataktivisten und dem SED-Staat lesen.
Gleichzeitig gingen immer mehr DDR-Bürger dazu über, dieses der DDR innewohnende Prinzip der "Diktatur der Grenzen" samt und sonders in Frage zu stellen, und dies unmissverständlich und in den meisten Fällen unverhandelbar. Die Rede ist von den Antragstellern auf Ausreise aus der DDR. Der dramatische Anstieg ihrer Zahlen vor allem in den 1980er Jahren zeigt, dass die Mühen, sich in diesem Land sinnvolle Lebensperspektiven zu erarbeiten, immer häufiger frustriert wurden, weil immer weniger funktionierte. Um das im Eingangsmotto evozierte Bild aufzugreifen: Es stellte sich bei immer mehr Menschen die Gewissheit ein, dass die "Schwalbe" (so der Name des heute Kultstatus genießenden DDR-eigenen Mopeds) einfach zu langsam war, um selbst in diesem kleinen Land ordentlich voranzukommen. Auch die zweite Hälfte des Lebens unter diesen eingeengten Bedingungen in diesem kleinen Land zu verbringen, wurde immer mehr DDR-Bewohnern und -Bewohnerinnen ein unerträglicher Gedanke, und zwar nicht nur Intellektuellen, Künstlern und anderen Großstadtmenschen, sondern gerade auch Krankenschwestern und LKW-Fahrern, Ingenieuren und Konsumverkäuferinnen in der Provinz. Das hat Renate Hürtgen eindringlich und kenntnisreich in ihrem Buch "Ausreise per Antrag: Der lange Weg nach drüben" herausgearbeitet.
Die staatliche Reaktion auf die Antragstellung bekräftigte ein weiteres Mal die hier skizzierte Matrix von SED-Herrschaftsanspruch und den Bürgern zugänglichen Machträumen: Wer einen Antrag auf Ausreise stellte, wurde umgehend aus diesen entfernt beziehungsweise in ihnen isoliert und ausgegrenzt, gewissermaßen bereits im Innern des Landes ausgebürgert, lange bevor er oder sie die Landesgrenze überquert hatte. Die Härte, mit der diese systematische Isolierung im lebensweltlichen Nahbereich die Antragsteller häufig unvorbereitet und zu ihrer eigenen Überraschung traf, und die in ihren Erinnerungen an die Zeit des Wartens auf die Ausreisegenehmigung als traumatische Erfahrung eine zentrale Rolle spielt, bezeugt zweierlei: Der SED-Staat suchte mit äußerster Konsequenz bis in die feinsten Verästelungen des Alltags hinein die Sichtbarkeit einer prinzipiellen Infragestellung des Status quo zu unterbinden. Zugleich unterstreicht die einschneidende Erfahrung des Ausschlusses aus diesen Machträumen ihre fundamentale Bedeutung für das Leben der "einfachen" Bürgerinnen und Bürger in der DDR.
Zitierweise: Thomas Lindenberger, Das Land der begrenzten Möglichkeiten. Machträume und Eigen-Sinn der DDR-Gesellschaft, in: Deutschland Archiv, 10.8.2016, Link: www.bpb.de/232099