Sogenannte West-Waren, also alle Gegenstände oder Produkte, die in einem "westlichen" beziehungsweise "kapitalistischen" Land hergestellt wurden, waren in der DDR äußerst begehrt. Sie galten in vielen, wenn auch nicht in allen Fällen als qualitativ wesentlich besser als entsprechende Gegenstände aus DDR- beziehungsweise Ostblock-Produktion. Außerdem wurden sie in sozialistischen Ländern oft nicht einmal produziert, sei es, dass zu ihrer Produktion die notwendigen technischen und wirtschaftlichen Voraussetzungen fehlten, sei es, dass sie in der zentral verwalteten Planwirtschaft der sozialistischen Länder als unnötig erachtet wurden. Weiterhin war ihr im Allgemeinen qualitativ wesentlich höherwertiges Design, welches sich beispielsweise in größerer Farbigkeit, besserer Qualität der Verpackungsmaterialien und allgemein größerer Auffälligkeit widerspiegelte, für viele DDR-Bürger von großer Attraktivität. Hinzu kam, dass sie in der DDR relativ schwer erhältlich waren. Jenseits der offiziellen Wege wie Intershop-Läden beziehungsweise Genex-Geschenkdienst konnten sie eigentlich nur durch Geschenke bundesdeutscher oder sonstiger Besucher aus dem westlichen Ausland sowie Mitbringsel von DDR-Bürgern mit Westreiseprivileg bezogen werden. Da viele DDR-Bürger weder über Verwandte oder Bekannte in der Bundesrepublik noch über Kontakte zu entsprechenden Personen in der DDR verfügten, musste die DDR-Gesellschaft in gewissem Sinne zu einer "Zwei-Klassen-Gesellschaft" werden, mit dem Zugang zu Westwaren und/oder Devisen beziehungsweise entsprechenden persönlichen Kontakten als wichtigem Qualifikationsmerkmal. Daraus folgte wiederum, dass die Wege, an West-Geld beziehungsweise entsprechende Waren zu kommen, oft abenteuerlich waren und aus heutiger Sicht fremdartig anmuten. Ein exemplarischer Fall aus dem Jahr 1975 ist in den Akten des Rates des Bezirkes Erfurt dokumentiert. Er ist vor allem deshalb aufschlussreich, da sich hier Auswirkungen des Bedürfnisses nach westlichen Waren mit der besonderen Situation des innerdeutschen Transitverkehrs verbanden.
Transitzüge
Der Bau der Berliner Mauer und die endgültige Schließung der innerdeutschen Grenze veränderten die Verkehrsverbindungen zwischen beiden deutschen Staaten nachhaltig und führten zu einer Reihe von "Sonderphänomenen", die in ihrer speziellen Form und Eigenart nur durch die besonderen Bedingungen der deutsch-deutschen Situation erklärbar sind. Eines dieser Phänomene waren die sogenannten Transitzüge, die sowohl zwischen der Bundesrepublik Deutschland und dem formell "politisch-selbständigen Gebiet" West-Berlin als auch – als sogenannte "internationale Schnellzüge"– zwischen mehreren europäischen Staaten verkehrten und dabei auch das Gebiet der DDR durchquerten. Eine Besonderheit dieser Züge war, dass sie von DDR-Bürgern nur sehr eingeschränkt benutzt werden konnten. Seit dem Sommer 1975 gehörten dazu auch die Internationalen Schnellzüge Nr. 450 und 451 zwischen Paris und Warschau beziehungsweise in umgekehrter Richtung. Die Waggons für diese Züge wurden hauptsächlich durch die polnische Staatsbahn PKP gestellt, Reichsbahnwagen liefen nur zwischen Dresden und Frankfurt am Main. Ein Speisewagen der PKP verkehrte zwischen Warschau und Dresden. 1975 überquerten diese Züge die deutsch-deutsche Grenze jeweils an der thüringischen Grenzübergangsstelle Gerstungen-Bebra. Im Gegensatz zu anderen Zügen, etwa von und nach West-Berlin, waren diese beiden Züge ab dem Bahnhof Eisenach, dem ersten Haltebahnhof auf DDR-Territorium, "für den allgemeinen Reiseverkehr freigegeben" und somit für DDR-Bürger zugänglich. Innerhalb des Bezirkes Erfurt hielten die Züge insgesamt fünfmal: In Eisenach, Gotha, Erfurt, Weimar und Apolda. Aufgrund der Länge der zu bewältigenden Strecke zwischen Paris und Warschau gehörte zu diesen Zügen auch jeweils ein Schlafwagen der westdeutschen DSG (Deutsche Speise- und Schlafwagengesellschaft) mit einem sogenannten "Wirtschaftsabteil", welches vor allem Reiseproviant mit sich führte.
Kaufrausch
Da es sich bei den dort vorhandenen Artikeln fast ausnahmslos um Westprodukte handelte, die seit dem 1. Juli 1975 gemäß "internationalen Vereinbarungen" auch an mitreisende DDR-Bürger und – was das Wichtigste war – für Mark der DDR gekauft werden konnten, wurden diese Züge zum Objekt allgemeinen Interesses: Nicht nur Mitreisende sondern auch "normale" DDR-Bürger versuchten die Gelegenheit zum Kauf der begehrten Westwaren zu nutzen. Da die Haltezeit auf dem Bahnhof Erfurt 22 beziehungsweise in der Gegenrichtung zwölf Minuten betrug und – anders als etwa auf dem Ost-West Bahnhof Berlin-Friedrichstraße – keine Möglichkeit der Separierung beziehungsweise wirksamen Quarantäne bestand, gab es für Kaufwillige genügend Möglichkeiten, den Zug kurzfristig zu besteigen um Käufe zu tätigen. Von dieser Chance machten sowohl Bahnmitarbeiter als auch "Postangestellte und Bürger der Stadt Erfurt" Gebrauch, wie beunruhigte Angestellte der Deutschen Reichsbahn im Dezember 1975 an die Volkspolizei meldeten. Zu diesem Zeitpunkt waren diese Vorgänge bereits seit etwa fünf Monaten im Gange. Auch die konkreten Marken der auf diese Art umgesetzten Artikel waren der Volkspolizei bekannt – es handelte sich um DAB-Meisterpils zum Büchsenpreis von 1,25 DDR-Mark, Florida Boy-Limonade zum Büchsenpreis von 1,50 Mark sowie um eine nicht näher benannte Tafel "Vollmilch-Nuß Schokolade" für zwei Mark. Einer der seltsamen Aspekte der Situation war, dass der D-451 aus Richtung Eisenach, also westlicher Richtung, den Bezirk Erfurt zu sehr früher Tageszeit durchquerte: Er war 3.26 Uhr in Eisenach, erreichte Gotha um 3.51 Uhr und fuhr nach zweiminütigem Halt dann weiter nach Erfurt, wo er um 4.13 Uhr eintraf und um 4.27 Uhr weiterfuhr. Die Reisezeiten des D-450 in der Gegenrichtung waren entsprechend: Erfurt wurde um 2.38 Uhr erreicht, der Zug fuhr um 3.00 Uhr weiter. Die Reisezeiten im Winterfahrplan (gültig ab 28. September 1975) waren entsprechend (3.26 Uhr in Eisenach, 3.48 Uhr in Gotha, Weiterfahrt dort um 3.50 Uhr, Ankunft in Erfurt um 4.08 Uhr, Weiterfahrt um 4.20 Uhr), Fahrtzeiten in der Gegenrichtung: 2.40 Uhr in Erfurt, Weiterfahrt um 3.02 Uhr. Da in der DDR praktisch Vollbeschäftigung mit geregelten Tages- und Wochenarbeitszeiten herrschte, wird deutlich, wie groß das Opfer war, das Kaufwillige zu bringen bereit waren.
Der Andrang erreichte bald ein derartiges Ausmaß, dass sich das gestresste und völlig überraschte Zugpersonal zu ad-hoc Maßnahmen gezwungen sah: Nunmehr sollte nicht jeder potenzielle Käufer einzeln bedient, sondern die Masse der Wünsche durch "Sammelbestellungen" mittels speziell beauftragter Einzelpersonen abgewickelt werden. Bei den im Nachtdienst tätigen Reichsbahn-Mitarbeitern wurde dieser Ratschlag in der Art und Weise befolgt, dass die so beschafften Waren in einem Postsack verstaut und mit einem Elektrokarren abtransportiert wurden. Für die Volkspolizei bedeutete das nichts weniger als ein "organisiertes Ausnutzen der Situation".
Im weiteren Verlauf wurde dann deutlich, dass es zu regelrechten "Einkaufsfahrten" konsumhungriger DDR-Bürger auch aus der weiteren Umgegend gekommen war: Einwohner aus den benachbarten Bezirken "Halle, Suhl und Karl-Marx-Stadt" fuhren mit dem ausschließlichen Ziel des Einkaufes dieser westlichen Reiseartikel von Gotha nach Erfurt. Das Bizarre daran war wiederum das Missverhältnis zwischen den betreffenden Entfernungen und der Tageszeit: So betrug beispielsweise die günstigste Reisezeit – mit einem nicht auf allen Unterwegs-Bahnhöfen haltenden D-Zug zwischen Erfurt und Halle – immerhin eine Entfernung von 109 Kilometern – 89 Minuten, zwischen Erfurt und Suhl waren die Fahrtzeiten entsprechend. Um den Zug um 3.51 (Winterfahrplan 3.48) Uhr in Gotha zu erreichen, bestand etwa für Reisende aus Richtung Halle als letzte Möglichkeit die Nutzung des Personenzuges Nr. 3569 mit Abfahrtszeitpunkt 0.36 Uhr in Halle mit Umstieg in den D-450 (also den Gegenzug) in Richtung Paris in Weißenfels (Anschluss 1.20 Uhr) oder Naumburg (um 1.36 Uhr), nach Ankunft in Gotha (3.29 Uhr, Winterfahrplan 3.26 Uhr) verblieb eine Wartezeit von zwanzig Minuten. Da Zugverspätungen in der DDR keine Seltenheit waren, musste bei Verpassen des Anschlusszuges mit einer Wartezeit von mindestens knapp einer Stunde gerechnet werden, bis um 4.44 (Winterfahrplan 4.47) Uhr die erste Möglichkeit der Rückfahrt in Richtung Erfurt bestand. Erreichte man dort den sogenannten "Städteschnellverkehr" Nr. D-150 (eine Art Expresszug) um 5.31 Uhr, so hatte man die Möglichkeit um 7.01 (Winterfahrplan 7.00) Uhr wieder in Halle zu sein – mit dem eventuellen Gefühl einer sinnlos "um die Ohren geschlagenen" Nacht. Auch wenn man berücksichtigt, dass von den findigen DDR-Bürgern wahrscheinlich Pkw-Fahrgemeinschaften gebildet wurden, sowie der Hauptteil der Einkäufe am Wochenende stattfand, bleibt es doch eine für den DDR-Alltag kennzeichnende Abweichung vom normalen Geschehen, oder, anders betrachtet, eine Bereicherung des Alltags, die in ihrer Eigenart nur unter den Bedingungen der DDR möglich war.
Sicherheitsrisiko
Die DDR-Behörden sahen in den geschilderten Vorgängen eine Gefahr. Daher wurden die Bezirksleitung der SED, die Bezirksverwaltung für Staatssicherheit sowie der Präsident der Reichsbahndirektion Erfurt mit dem Ziel informiert, "dass gegenüber dem infrage kommenden Personenkreis eine zielgerichtete politisch-ideologische Einflussnahme erfolgen" könne. Dies bedeutete im Klartext, dass Parteibehörden, Staatssicherheit, aber auch betriebliche Vorgesetzte sowohl mit den betroffenen Reichsbahn-Mitarbeitern als auch, nach Möglichkeit, mit den "Kunden" aller Art klärende Gespräche führen sollten, um diese von ihrer Handlungsweise abzubringen. Dazu gehörte unter Umständen auch, wie vergleichbare Fälle zeigen, die Androhung schwerwiegender beruflicher oder persönlicher Repressalien.
Hintergrund dieser Besorgnisse und ins Auge gefassten Maßnahmen war die ständig präsente Sorge der DDR-Behörden "dass bei weiterer Häufung dieser Einkäufe der Gegner das für seine Hetze gegen unsere Republik ausnutzen" würde. Damit war vor allem die Furcht vor dem peinlichen Bild der DDR im – vor allem westlichen – Ausland gemeint.
Fazit
Diese Befürchtungen waren nicht völlig unbegründet. Zumindest mussten diese Vorgänge klar vor Augen führen, wie groß das Bedürfnis der DDR-Bürger nach westlichen Erzeugnissen war, auch wenn es sich – wie im vorliegenden Fall – nur um "Pfennigartikel" handelte. Weiterhin machen die geschilderten Ereignisse deutlich, dass grundlegende Voraussetzungen für die bekannten Bilder nach der Maueröffnung am 9. November 1989 bereits 1975 gegeben waren.
Zitierweise: Thomas Weißbach, "Für den allgemeinen Reiseverkehr freigegeben"– Ost-West Transitverkehr und West-Warenrausch in Erfurt 1975, in: Deutschland Archiv, 31.3.2016, Link: www.bpb.de/223754