Die Auffassungen über den Zentralen Runden Tisch der DDR, seine Funktionen, Erfolge und Grenzen, gehen weit auseinander. Jens Reich, einer der Erstunterzeichner des zur Gründung des "Neuen Forums" führenden Aufrufs, betrachtete den Zentralen Runden Tisch rückblickend als "Kaffeekränzchen", durch das sich die revolutionäre Bewegung ihr Recht auf die Neugestaltung der Gesellschaft zugunsten "medienwirksamen Palaverns" habe abkaufen lassen.
Runde Tische verhinderten den Zusammenbruch
Zwischen November 1989 und Januar 1990 etablierten sich in der DDR Hunderte von Runden Tischen auf allen staatlichen Ebenen. Darüber hinaus gab es diese Gremien in zahlreichen Betrieben und als thematische Runde Tische, beispielsweise "Grüne Tische" mit unterschiedlichen Bezeichnungen, die sich mit Umweltproblemen auseinandersetzten, sowie Runde Tische unter anderem zu den Themen "Jugend", "Nationale Volksarmee", "Arbeitslosigkeit" und "Bildung".
Zum Zentralen Runden Tisch der DDR in Berlin lud – wie von den Oppositionellen gewünscht – der Bund der Evangelischen Kirchen in der DDR alle Parteien und Gruppierungen offiziell ein. Am 7. Dezember 1989 trafen sich 15 Repräsentanten von sieben Oppositionsgruppen (SDP, Demokratischer Aufbruch, Demokratie Jetzt, Initiative Frieden und Menschenrechte, Neues Forum, Grüne Partei, Vereinigte Linke) mit ebenso vielen Vertretern der SED und der vier Blockparteien aus dem wenige Tage zuvor aufgelösten "Demokratischen Block" (CDU, LDPD, NDPD, DBD).
Wie die Zentralen Runden Tische in der DDR und in sechs weiteren ostmitteleuropäischen Ländern verfolgten auch die zahlreichen Runden Tische in den Kommunen, Kreisen und Bezirken der DDR eine Strategie des Verhandelns mit den alten Machthabern. In der Praxis bedeutete das den Verzicht darauf, dieselben zu stürzen und die Macht durch oppositionelle Parteien und Gruppierungen zu übernehmen.
Bildung, Zusammensetzung, Arbeitsweisen, Schwerpunktsetzung in den Aufgaben, Modalitäten der Zusammenarbeit mit den staatlichen Institutionen, aber vor allem unmittelbare Einfluss- und Wirkungsmöglichkeiten lassen die Runden Tische äußerst unterschiedlich erscheinen. Zunächst entstanden sie spontan. Nach der Bildung des Zentralen Runden Tisches am 7. Dezember 1989 und des damit verbundenen Aufrufs der SED zur Etablierung derartiger Gremien vom 23. November
Zusammensetzung und Teilnehmer
In Hinblick auf die Zusammensetzung nach Parteien und Gruppierungen, aber auch auf die Vergabe von Stimmrechten, der Anzahl von Stimmen, von Beobachtungs-, Beratungs-, Rede- und Antragsrechten und auf das Beachten einer gewissen Parität, unterschieden sich die Runden Tische grundsätzlich voneinander. Damit war das gesellschaftliche Gewicht der vertretenen Gruppen quantitativ wie qualitativ sehr unterschiedlich. Gemeinsam war den meisten Gremien, dass die Teilnehmer der ersten Tischrunden recht willkürlich darüber entschieden, welche Parteien oder Gruppen außer ihnen noch stimmberechtigt, beratend oder beobachtend an den Tischen Platz nehmen durften. Die Zusammensetzung war aber auch deswegen willkürlich, weil sich Parteien im Verlaufe der Zeit nach Belieben zurückzogen. Ein einheitliches Muster der Zulassung und Zusammensetzung ist jedenfalls nicht erkennbar. Von einem demokratischen Wahl- oder Delegierungsverfahren durch die Parteien und Gruppierungen kann auch nicht durchgängig die Rede sein. Ausgangspunkt für diese durchaus kritisch zu betrachtende Situation war weniger die Intention, einem basisdemokratischen Modell zu folgen, sondern eher die Überzeugung, die Runden Tische vorrangig als Verständigungs- und nicht als Leitungsgremien zu verstehen.
Dem Beispiel des Zentralen Runden Tisches in Berlin, die Sitzungen von Kirchenvertretern moderieren zu lassen, folgten viele dieser Gremien. An diesen Tischen verstanden sich die Kirchenvertreter meistens nicht als Vertreter eigener Interessen, sondern wie die am zentralen Gremium als "Vermittler in Verantwortung für das Ganze", "Helfer zum Gespräch" und "Mahner zur Friedfertigkeit".
Im Gegensatz zum zentralen Gremium waren an vielen Runden Tischen die Funktionäre der staatlichen Institutionen, in den meisten Fällen die (amtierenden) Vorsitzenden der Räte, von Anfang an anwesend; sie beteiligten sich maßgeblich und in Ausnahmefällen sogar mit Stimmrecht an den Beratungen. Mag das Stimmrecht auch eher kritisch zu sehen sein, so hatte ihre Teilnahme durchaus ihre Berechtigung, ging es den Runden Tischen doch in erster Linie um die Kontrolle der staatlichen Institutionen in den Kommunen wie Regionen und damit um umfassende Informationen durch die Räte. Die einzelnen Tische besaßen jedoch aufgrund der verschiedenen Ansprüche, Intentionen, Ambitionen und Herangehensweisen nicht die gleichen Chancen, was ihre Kontroll- und Beratungstätigkeit in den staatlichen Institutionen und damit ihre Einflussnahme auf die Entwicklung in den Kommunen, Kreisen und Bezirken anging.
Erfolge und Misserfolge
Der Zentrale Runde Tisch tagte vom 7. Dezember 1989 bis zum 12. März 1990 insgesamt 16 Mal. In diesem kurzen Zeitraum wurden zahlreiche Beschlüsse verabschiedet, die alle Politikbereiche betrafen.
Die Zeit von drei bis maximal sieben Monaten war ein knapper Zeitraum, in dem an den Tischen viele Themen und Probleme diskutiert wurden, die jedoch oft nicht binnen Kurzem oder gar endgültig gelöst werden konnten. Die größte Leistung der Oppositionellen am Zentralen Runden Tisch der DDR war, dass der Staatssicherheitsapparat gegen den Willen des Ministerpräsidenten kompromisslos und vollständig aufgelöst wurde. Damit verbunden waren aber auch die größten Fehler des Zentralen Runden Tisches. So erklärten sich die Beteiligten damit einverstanden, dass sich die Hauptverwaltung Aufklärung, das heißt der Apparat der Auslandsspionage des MfS, bis zum 30. Juni 1990 weitgehend selbst auflösen und alle Akten vernichten konnte. Der zweite Fehler, die Zustimmung des Runden Tisches zur physischen Zerstörung aller Magnetbandspeicher am 19. Februar des Jahres, erregte die Öffentlichkeit noch wesentlich stärker.
Wie am Zentralen Runden Tisch ging es auch an den Runden Tischen der Bezirke – hier vergleichsweise sogar noch mehr – um kurzfristige Maßnahmen für das praktische Leben; sie entwickelten jedoch ebenso konkrete längerfristige Reformvorschläge für ausgewählte Bereiche der Gesellschaft. Die Teilnehmer diskutierten zahlreiche wichtige und teilweise hochbrisante, vor allem die Regionen betreffende Themen und führten einen Teil den erforderlichen Lösungen zu. Fast alle Runden Tische der Bezirke konnten – analog dem zentralen Gremium – die größten Erfolge ihrer Arbeit in der begleitenden Kontrolle der Auflösung der MfS-Strukturen in den Bezirken und in der Beaufsichtigung der Wahlvorbereitungen verbuchen. Manche Tische nahmen sich aber auch durchgängig bestimmter Schwerpunktthemen an, was sie deshalb maßgeblich von anderen Bezirkstischen unterschied. Diese Schwerpunkte wurden zum einen durch die ungleichen Ausgangssituationen in den einzelnen Bezirken mitbestimmt. An manchem Runden Tisch wie dem des Bezirkes Gera ging es deshalb in erster Linie und von Anfang an um die Aufrechterhaltung von Strukturen, damit die Versorgung der Bevölkerung weiterhin ausreichend gewährleistet werden konnte. Zum anderen gab es bei der Schwerpunktsetzung der Themen auch Sonderfälle. So gingen von einzelnen Runden Tischen, beispielsweise vom Dresdner Bezirkstisch, erste Impulse zur Länderbildung aus; in anderen Gremien wie dem Runden Tisch des Bezirkes Suhl spielten die Wahlvorbereitungen eine überdurchschnittlich große Rolle.
Eine reale Macht?
Von Dezember 1989 bis Mitte Februar 1990 waren die Runden Tische zwar nicht Inhaber der realen Macht, was die meisten Teilnehmer auch bewusst nicht wollten. Aber es ging ebenfalls nichts (mehr) gegen und schon gar nichts ohne sie. Mit ihren Kritiken und daraus folgenden Empfehlungen, Anregungen, Weisungen und Beschlüssen versuchten die Teilnehmer an den Runden Tischen, Einfluss auf die Beschlüsse der Räte und damit auf die Entwicklung in den Orten und Regionen zu nehmen. Seit der zweiten Dezemberhälfte konnte es sich kein Repräsentant einer staatlichen Einrichtung mehr leisten, Einladungen oder Anträge Runder Tische auszuschlagen. Die Anfragen der Gremien zu ignorieren, wäre nur um den Preis eines sofortigen Absturzes in die politische Bedeutungslosigkeit möglich gewesen.
Ab Ende Januar 1990 dominierten die Runden Tische zwar das politische Leben in der DDR.
Bedeutungsverlust und Auflösung
Im Verlauf des Wahlkampfes favorisierten immer mehr DDR-Bürger eine möglichst rasche Wiedervereinigung Deutschlands. Sie wandten sich deshalb vor allem den Politikern zu, die schnell und konsequent auf die Einheit hinarbeiteten. Die in dieser Zeit am Runden Tisch noch agierenden Vertreter leisteten das nicht.
Die anderen Runden Tische lösten sich ebenfalls nach der Volkskammerwahl am 18. März 1990 beziehungsweise spätestens nach den Kommunalwahlen am 6. Mai 1990 auf. Für den Zentralen Runden Tisch und die Kreis- wie Stadttische hatte die Beendigung ihrer Tätigkeit durchaus ihre Berechtigung, immerhin agierten jetzt demokratisch legitimierte Parlamente, deren Kontrolle durch Runde Tische nicht mehr nötig erschien. Dagegen hatten in den Bezirken aufgrund der zu erwartenden Länderbildung keine demokratischen Wahlen stattgefunden. Die Runden Tische in den Regionen sollten dennoch aufgelöst werden, noch bevor demokratische Wahlen stattgefunden haben und grundlegende Personalentscheidungen für die Exekutiven und ihre Verwaltungen getroffen werden konnten. Deshalb fühlten sich die meisten Teilnehmer an den Tischen der Bezirke – abgesehen von den Wahlsiegern – auch noch weiterhin als Ansprechpartner für Anliegen von Bürgern und zugleich verantwortlich für die Belange in den Regionen. Doch verließen bereits ab März 1990 die Vertreter der Parteien, welche als Sieger aus der Volkskammerwahl hervorgegangen sind, die Gremien. Außerdem erklärte die Regierung de Maizière, die Arbeit der Runden Tische der Bezirke nicht (mehr) anzuerkennen. Im Frühjahr 1990 verloren die Bezirkstische endgültig an Bedeutung. Bis zu diesem Zeitpunkt waren aber fast alle Runden Tische der Bezirke durchaus noch nicht gewillt, ihre Arbeit einzustellen. Dennoch gaben fast alle Bezirkstische ihre Tätigkeit bis Mai 1990 auf. Das ging nicht überall konfliktfrei zu.
Fazit: Was waren die Runden Tische?
Die Runden Tische waren operative Organe, deren Sinn und Zweck darin bestand, das Alltagsleben weitgehend störungsfrei ablaufen zu lassen. Ihnen wurde vor allem eine Kontrollfunktion zugeschrieben, die zugleich eine neue Qualität von Öffentlichkeit etablierte.
In den ersten Wochen und Monaten ihrer Existenz stellten sie gewissermaßen die politische Autorität in der DDR dar, denn die alte Autorität war zu großen Teilen weggebrochen und eine neue noch nicht etabliert.
Die Runden Tische waren Kontroll- und Beratungsgremien, aber keine Platzhalter für nachfolgende demokratisch legitimierte Institutionen. Sie begleiteten die Tätigkeit der staatlichen Institutionen, wickelten sie aber nicht ab. Sie arbeiteten weitgehend eigenständig, verfügten realiter aber nicht über Macht und auch nur über weniger Einfluss als erhofft. Dennoch trugen die konkordanzdemokratisch konzipierten Runden Tische ohne Zweifel dazu bei, die Proteste zu kanalisieren und eine gewaltfreie Institutionalisierung der Demokratie zu gewährleisten. Sie gestalteten den Prozess der Befreiung und Demokratisierung in der DDR mit – allerdings in höchst unterschiedlichem Maße. Ihre Anteile an diesem Prozess hingen demzufolge maßgeblich von den jeweils gestellten Zielen, den Herangehensweisen, den konkreten Machtstrukturen und den handelnden Personen vor Ort ab. Es gab – so Uwe Thaysen – offensichtlich viele Wege zur Demokratie und eine "wie auch immer begrenzte Handlungsautonomie der Akteure, die unter jeweils anderen Bedingungen jeweils eigenwillig wahrgenommen wurde".
Dieser vielfältige Demokratisierungsprozess von unten bestätigt: Zahlreiche sich an den Runden Tischen engagierende DDR-Bürger waren nach Jahrzehnten Diktatur kurzfristig in der Lage, sich eigenständig zu organisieren, Probleme anzusprechen, sachkundig wie sachlich zu diskutieren und gemeinsam nach Lösungsansätzen zu suchen, ohne dass es ihnen – wie jahrzehntelang geschehen – von einer zentralen Stelle offeriert oder gar vorgeschrieben wurde. Tausende DDR-Bürger brachten sich an den Runden Tischen ein – Politik war Bürgersache geworden. Das ist nicht zuletzt Ausdruck einer – immer noch zu wenig beachteten und gewürdigten – eigenständigen DDR-Demokratisierung. Selbstdemokratisierung oder "Demokratisierung von unten" durch Runde Tische fand allerdings nur in der DDR statt; in den anderen ostmitteleuropäischen Staaten gab es neben dem zentralen Gremium nicht auch noch Hunderte lokaler, regionaler und thematischer Tische.
Die Tische waren weder Institutionen einer repräsentativen noch – wie häufig deklariert – einer direkten Demokratie, sie arbeiteten jedoch mit basisdemokratischen Elementen. Die allerwenigsten Teilnehmer verstanden sie damals als Institutionen zivilgesellschaftlicher Aktivitäten. Heute steht dagegen fest, dass 1989/90 auf ostdeutschem Boden fast ein halbes Jahr zivilgesellschaftliche Selbststeuerung durch Runde Tische und Bürgerkomitees praktiziert worden ist.
Zitierweise: Francesca Weil, "Weniger als Feigenblätter…" oder Institutionen zivilgesellschaftlichen Engagements? Die Runden Tische 1989/90 in der DDR, in: Deutschland Archiv, 24.3.2016, Link: www.bpb.de/223436