Totenstill war es im Parlament, als Bundespräsident Richard von Weizsäcker am 8. Mai 1985 seine Rede zum Gedenken an das Ende des Zweiten Weltkriegs hielt. So jedenfalls schilderte die New York Times die Atmosphäre, die in der Ansprache vor allem eine Aufforderung an die Deutschen, ihre Vergangenheit zu akzeptieren, sah. Der damalige israelische Botschafter Jitzhak Ben-Ari, zu Gast auf der Besuchertribüne des Bundestags, vernahm Worte, die "in Nüchternheit und mit Genauigkeit das Unverständliche verständlich machten". Weizsäckers Rede, die alle, "Opfer und die in Schuld Verstrickten, ansprach und berührte", sei "eine Sternstunde in der Geschichte der Bundesrepublik". Eine Flut an Zuschriften, die rekordverdächtige Verbreitung des Manuskripts, von dem zwei Millionen Exemplare gedruckt und Übersetzungen in 13 Sprachen angefertigt wurden – schon diese Zahlen geben einen Eindruck von der großen Resonanz auf die Rede, die heute als erinnerungskulturelle Zäsur gilt. Heinrich Böll befand gar, diese "sollte in die Schulbücher eingehen als die bestmögliche Einführung […] in die Beschäftigung mit der Geschichte des Nazireichs."
Dabei war die "Sternstunde" im Bundestag in dieser Form zunächst gar nicht vorgesehen gewesen. Eigentlich hätte des Kriegsendes am 8. Mai mit einem ökumenischen Gottesdienst im Kölner Dom gedacht werden sollen. Weizsäcker wäre am Vorabend in einer Funk- und Fernsehansprache zu Wort gekommen. Kritikern wie zum Beispiel dem SPD-Politiker Horst Ehmke erschien diese Art des öffentlichen Erinnerns jedoch als zu unpolitisch und von zu geringer Symbolkraft. Letztlich setzte sich die Idee durch, dem Gedenkgottesdienst einen offiziellen staatlichen Gedenkakt voranzustellen – und der Bundespräsident hielt seine sorgsam vorbereitete Rede, die er selbst im Rückblick als "die politischste und zugleich die persönlichste" seiner Amtszeit ansah, schließlich im Parlament. An diesem bedeutungsvollen Ort bezeichnete Weizsäcker den "Völkermord an den Juden" ausdrücklich als "beispiellos in der Geschichte". Auch schloss er zuvor marginalisierte Opfergruppen wie Sinti und Roma in das Gedenken ein. Für die öffentliche Wahrnehmung zentral, charakterisierte er den Tag des Kriegsendes als einen "Tag der Befreiung".
Doch vollkommen neu im Sinne einer erstmaligen Erwähnung und Benennung waren seine Aussagen nicht. Schon lange wurde über die Einordnung des Kriegsendes diskutiert; bereits vor Weizsäcker hatten sich westdeutsche Staatsvertreter zur deutschen Schuld bekannt und an die Opfer des Nationalsozialismus erinnert. Weizsäcker griff 1985 in seiner Rede auf vor ihm verwendete Formulierungen zurück, so dass sein Text bisweilen als ein "'Best-of‘ historischer Deutungsversuche" erscheint. Dass es ihm mit seiner Rede zum Kriegsende gelang, ein Konsensangebot zu machen, das identitätsstiftend und geradezu stilbildend wirkte, muss demnach andere Ursachen haben, die auch in der politischen Atmosphäre der frühen Kohl-Ära und den erinnerungskulturellen Entwicklungen zu suchen sind. Heute, mit dreißig Jahren Abstand, ist zu fragen, inwiefern die Worte des Bundespräsidenten dazu beitrugen, den Weg zu einer "Akzeptanzkultur", also einer Erinnerungskultur im Zeichen der Annahme der nationalsozialistischen Vergangenheit, zu ebnen.
"Befreiung" und "Erinnerung": Die Kerninhalte der Weizsäcker-Rede
"Der 8. Mai war ein Tag der Befreiung. Er hat uns alle befreit von dem menschenverachtenden System der nationalsozialistischen Gewaltherrschaft." So lautet die wohl am häufigsten zitierte Sentenz aus Weizsäckers Gedenkrede. Mit dieser Aussage hob sich der Bundespräsident deutlich vom Denken der Nachkriegszeit ab, wie es sich zum Beispiel noch bei Ludwig Erhard findet. Der Bundeskanzler hatte in seiner Rede zum 8. Mai 1965 betont, der Jahrestag des Kriegsendes sei eben kein "Gedenktag der Befreiung"; allenfalls wenn "mit der Niederwerfung Hitler-Deutschlands Unrecht und Tyrannei aus der Welt getilgt worden wären", könne man diesen so betrachten. Zehn Jahre später nannte Bundespräsident Walter Scheel den 8. Mai bereits einen "widersprüchliche[n] Tag in der deutschen Geschichte" und gedachte des Kriegsendes "mit Schmerz", aber auch eingedenk der Tatsache, dass die Deutschen "von einem furchtbaren Joch befreit [wurden], von Krieg, Mord, Knechtschaft und Barbarei". Für die Bundesrepublik war die Deutung dieses Datums bis in die 1980er Jahre zusätzlich erschwert, da die DDR den 8. Mai 1945 von Beginn an für sich und gerade auch als "Tag der Befreiung" beanspruchte. Im Gedenkjahr 1985 machten sich Tendenzen bemerkbar, das Kriegsende nun auch als "Befreiung" zu deuten. So griffen viele Redner zu Kompromissformeln wie "Tag der Befreiung und des Zusammenbruchs". Weizsäcker bezog mit seiner Formulierung hier also deutlicher Position, doch auch er schilderte das Kriegsende als ambivalente Erfahrung. Der Tag sei "für uns Deutsche kein Tag zum Feiern", vielmehr geprägt von "Erschöpfung, Ratlosigkeit und […] Sorgen“. Zudem versicherte der Bundespräsident: "Niemand wird um dieser Befreiung willen vergessen, welche schweren Leiden für viele Menschen mit dem 8. Mai erst begannen und danach folgten." Dem "deutschen Leid" räumte er also breiten Raum ein.
Auch in dem der Opfer gedenkenden Teil der Rede, den er mit der gebräuchlichen, aber auch pauschalisierenden Formel der Erinnerung an "alle […] Toten des Krieges und der Gewaltherrschaft" einleitete, erwähnte er das "Leid in Bombennächten, Leid durch Flucht und Vertreibung, durch Vergewaltigung und Plünderung". Zugleich aber gedachte er an erster Stelle (noch vor den Kriegsopfern) "insbesondere der sechs Millionen Juden, die in deutschen Konzentrationslagern ermordet wurden", ferner "der ermordeten Sinti und Roma, der getöteten Homosexuellen, der umgebrachten Geisteskranken, der Menschen, die um ihrer religiösen oder politischen Überzeugung willen sterben mußten". Bemerkenswert sind auch die ausführliche Würdigung des Widerstands, insbesondere des kommunistischen, und die explizite Erwähnung der sowjetischen und polnischen Kriegsopfer. Mit seiner Rede rückte der Bundespräsident Opfergruppen ins Bewusstsein, die bis dato im offiziellen Gedenken kaum repräsentiert waren. Der Holocaust und dessen "ganze unsagbare Wahrheit" war für Weizsäcker als Verbrechen singulär, und er wandte sich in eindrucksvollen Worten gegen Versuche, sich über das Argument des Nichtwissens zu entschulden: "Wer seine Ohren und Augen aufmachte, wer sich informieren wollte, dem konnte nicht entgehen, daß Deportationszüge rollten."
Weizsäcker führte den Deutschen also die (kollektive) Verantwortung für die NS-Verbrechen unmissverständlich vor Augen. Hinsichtlich der Schuldfrage konstatierte er an anderer Stelle jedoch: "Schuld ist, wie Unschuld, nicht kollektiv, sondern persönlich. […] Jeder, der die Zeit mit vollem Bewußtsein erlebt hat, frage sich heute im Stillen selbst nach seiner Verstrickung." Den Aufruf zur kritischen Selbstbefragung verschob er demnach auf die individuelle Ebene, wodurch dieser eher verhalten wirkt, zumal der Terminus der "Verstrickung" die Möglichkeit einer Abwehr direkter Schuld bot. Die "deutsche Schuld am Ausbruch des Zweiten Weltkriegs" benannte der Bundespräsident in seiner Rede zwar ausdrücklich und deutete NS-Diktatur und Krieg nicht mehr im Sinne einer metaphysisch hereingebrochenen "Katastrophe". Indem er aber Hitler als "die treibende Kraft" "[a]uf dem Weg ins Unheil" sah, kam er einem gängigen Interpretationsmuster der Nachkriegszeit, das die Verantwortung für die NS-Massenverbrechen allein beim "Führer" verortete, bis in die Formulierungen hinein erstaunlich nahe. So hatte sich Ludwig Erhard 1964 auf das "Unheil" berufen, das "in unserem Namen von einem brutalen Machthaber ausgelöst wurde".
Weizsäcker sprach also Schuld und Verantwortung durchaus an, bot zugleich aber auch Möglichkeiten zur Entlastung. Diese Ambivalenz zeigte sich auch zu Beginn der Rede in der Aufforderung, "der Wahrheit so gut wir es können ins Auge zu sehen, ohne Beschönigung und ohne Einseitigkeit". Definierte der Bundespräsident die Schuld als eine individuelle, nahm er aber hinsichtlich der kollektiven Verantwortung und den daraus erwachsenden Konsequenzen alle Deutschen in die Pflicht: "Wir alle, ob schuldig oder nicht, ob alt oder jung, müssen die Vergangenheit annehmen. Wir alle sind von den Folgen betroffen und für sie in Haftung genommen." Er plädierte also für die Akzeptanz der belastenden Vergangenheit, die sich nicht nachträglich ändern oder ungeschehen machen und daher auch nicht "bewältigen" lasse. Vielmehr – und hier verknüpfte er Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft – sei es "lebenswichtig", die Erinnerung wachzuhalten, sonst werde man blind für die Gegenwart. Entsprechend sei der 8. Mai auch ein "Tag der Erinnerung".
Gedenken und Erinnern erscheinen somit in der Ansprache zunächst als Aufgabe der Deutschen "unter sich". Diesen wird in diesem Erinnern und Akzeptieren der Vergangenheit zugleich aber auch eine Art "Erlösung" in Aussicht gestellt, wenn Weizsäcker ein viel zitiertes jüdisches Sprichwort anführt: "Das Vergessenwollen verlängert das Exil, und das Geheimnis der Erlösung heißt Erinnerung" – eine problematische Vereinnahmung, kann dies doch als "kühne[…] Umwandlung einer jüdischen Sentenz in einen postnationalsozialistisch-deutschen Erinnerungsimperativ" erscheinen. Zudem nutzte er die historische Distanz von vierzig Jahren zum Kriegsende um im "Blick auf das Alte Testament" die Deutschen mit den – vierzig Jahre lang – durch die Wüste wandernden Juden zu vergleichen. Mit dieser Referenz verband er zudem den generationellen Aspekt: Vierzig Jahre seien notwendig gewesen für einen vollständigen Wechsel der damals verantwortlichen Vätergeneration.
Polarisierte Erinnerungskultur: Zum historischen Kontext der Rede
Weizsäckers Rede fiel 1985 in eine Transformationsphase des Gedenkens, die nicht nur, aber auch generationelle Wurzeln hatte. Zwar war bereits seit Ende der 1950er Jahre und den NS-Prozessen der 1960er Jahre die Frage nach der deutschen Schuld auch gesellschaftlich virulent geworden und von der "68er"-Bewegung mit Nachdruck an die Vätergeneration gestellt worden. Erst 1979 aber löste die im westdeutschen Fernsehen ausgestrahlte U.S.-Serie "Holocaust" eine breite gesellschaftliche Erschütterung und Empathie mit den Opfern des NS-Regimes aus. "[S]eit der Wende zu Helmut Kohl von 1982/83", so Edgar Wolfrum, "[beherrschten] die Öffentlichkeit zahlreiche geschichtspolitische Kontroversen". Denn der Bundeskanzler hatte nicht nur mit dem Satz von der "Gnade der späten Geburt“ bei seinem Staatsbesuch in Israel 1984 den Eindruck erweckt, dass die Schuld an Nationalsozialismus und Holocaust relativiert werden solle. Auch der so genannte "Bitburg-Skandal" beförderte diese Befürchtungen: Gemeinsam mit U.S.-Präsident Ronald Reagan hatte Kohl am 5. Mai 1985 Kränze auf dem Soldatenfriedhof Bitburg-Kolmeshöhe niedergelegt, wo auch Mitglieder der Waffen-SS bestattet waren. Weizsäcker und seine drei Tage später gehaltene Rede erschienen so als "korrekter Gegenpol" und "Kontrapunkt" zur "Bitburg-Affäre", aber auch zur gesamten Geschichtspolitik im Zeichen der "geistig-moralischen Wende".
Doch es gab auch kritische Stimmen. Bei Rechtskonservativen in der CDU/CSU wie Franz Josef Strauß sorgte die Ansprache vor allem wegen der Thematisierung der Schuld der Deutschen an der nationalsozialistischen Vergangenheit für Empörung. Teile der politischen Linken kritisierten Weizsäcker ebenfalls. Grünen-Politikerin Petra Kelly etwa bezeichnete die Rede als inhaltsleer, andere nahmen Anstoß daran, dass Weizsäcker die Deutschen selbst zu den Opfern ihres eigenen Krieges zählte.
In der Tat bot die Rede des Bundespräsidenten sowohl durch die Schilderung des "deutschen Leids" als auch in der Art seines Plädoyers für die Akzeptanz der NS-Vergangenheit Entlastungsmöglichkeiten. Sprach er dabei, wie Helmut Dubiel meint, "aus der Perspektive der ihre Verantwortung reflektierenden Tätergeneration"? Biografisch stellte sich die Frage nach der persönlichen Verantwortung für Weizsäcker jedenfalls, hatte er doch als junger Wehrmachtsoffizier am Zweiten Weltkrieg teilgenommen und seinen Vater, den NS-belasteten Diplomaten Ernst von Weizsäcker, im gegen die Mitarbeiter des deutschen Außenministeriums geführten "Wilhelmstraßen-Prozess" 1947-1949 als Anwalt verteidigt. In seiner Gedenkrede präsentierte Weizsäcker ein Deutungsangebot, mit dem sich nicht nur weite Teile der "Täternation", sondern auch Überlebende und Nachfahren der Opfer identifizieren konnten. Für Romani Rose, Vorsitzender des Zentralrats Deutscher Sinti und Roma, kam die Rede, indem sie die Verantwortung für die Vergangenheit und dabei bis dato im öffentlichen Gedenken übergangene Opfergruppen wie Sinti und Roma benannte, einer "Anerkennung" derselben "als einer eigenständigen ethnischen Minderheit" gleich. Auch führte die Ansprache zu einer Einladung Weizsäckers nach Israel für Oktober 1985 und damit dem ersten Staatsbesuch eines deutschen Bundespräsidenten in diesem Land.
Wie geschichtspolitisch aufgeladen die 1980er Jahre auch nach der Gedenkrede blieben, zeigte sich, als 1986 der "Historikerstreit" um die Ansichten des Historikers Ernst Nolte eskalierte, der unter anderem die Singularität des Holocaust in Frage stellte. 1988 sorgte die Rede von Bundestagspräsident Philipp Jenninger (CDU) zum 9. November, in der er – rhetorisch ungeschickt – die Täterperspektive wählte, um an die Pogromnacht 1938 zu erinnern, für einen Skandal.
Ein Maßstab für Deutschland und Europa? Nachwirkungen der Weizsäcker-Rede
Unmittelbar nach der Ansprache des Bundespräsidenten zum Kriegsende hatte der britische Historiker Nevil Johnson prophezeit, "daß der von Richard von Weizsäcker empfohlene Weg zur Bejahung der eigenen Geschichte […] nicht über die Jahre hinaus begehbar ist". Doch das Gegenteil sollte der Fall sein: Weizsäckers Aufforderung, die belastete Vergangenheit anzunehmen, wurde ein zentrales Element öffentlichen Gedenkens und seine Worte avancierten zu einem sprachlichem "Fundus" – nicht nur in der Bundesrepublik. So griff man in der nur kurz existierenden freiheitlich-demokratischen DDR, die sich um eine Korrektur der von der SED-Diktatur lange versäumten beziehungsweise einseitig und ideologisch betriebenen "Vergangenheitsbewältigung" bemühte, auf Weizsäckers Formulierungen zurück. Die Erklärung der Volkskammerpräsidentin Sabine Bergmann-Pohl (CDU) zum 8. Mai 1990 orientierte sich zum Teil wörtlich an seiner Rede. Dies zeigt auch: Weizsäcker hatte einen Maßstab gesetzt, einen "doppelten Maßstab", wie Harald Schmid meint, nämlich "[w]ie staatlicherseits würdig und doch differenziert mit der nationalsozialistischen Vergangenheit umzugehen und wie der 8. Mai 1945 politisch-moralisch angemessen zu deuten sei." In der neuen, zusammenwachsenden Bundesrepublik bildete dann Anfang der 1990er Jahre die dem Gedenken der verschiedenen Opfergruppen gewidmete Passage aus der Ansprache die Grundlage für eine der Gedenktafeln der Berliner "Neuen Wache". Nach heftigen Diskussionen um Inschrift und Gestaltung dieser "Zentralen Gedenkstätte der Bundesrepublik Deutschland für die Opfer von Krieg und Gewaltherrschaft" waren es die Worte Weizsäckers von 1985, die – unter Vermittlung des Vorsitzenden des Zentralrats der Juden in Deutschland Ignatz Bubis – einen Kompromiss ermöglichten. Da die ursprüngliche Inschrift "Den Opfern von Krieg und Gewaltherrschaft" als undifferenzierte Gleichsetzung von NS- und Kriegsopfern kritisiert worden war, werden nun auf der ergänzenden Gedenktafel zahlreiche Opfergruppen berücksichtigt.
Heute scheinen sich die Aussagen des Bundespräsidenten endgültig in allen politischen Lagern als eine Art (Minimal-)Konsens etabliert zu haben. Unter Berufung auf die oben zitierte, den 8. Mai zum "Tag der Befreiung" erklärende Passage aus Weizsäckers Ansprache plädierte die Bundestagsfraktion der Linken im Mai 2015 dafür, dem Beispiel Mecklenburg-Vorpommerns zu folgen und "diesen Tag zum gesetzlichen Gedenktag zu erklären". Die Gedenkrede von 1985 ist zu einem "Eckpfeiler für das Selbstverständnis der Republik" geworden.
Ihre Wirkung war auch Thema der Trauerreden und Nachrufe, als Richard von Weizsäcker Anfang des Jahres 2015 verstarb. Beim offiziellen Staatsakt zu seinem Tode am 11. Februar 2015 betonte der amtierende Bundespräsident Joachim Gauck, sein Amtsvorgänger habe sich mit seiner "Rede [zum 8. Mai 1985] um sein Vaterland verdient gemacht. Nicht, weil er gesagt hätte, was damals niemand gewusst hat. Er hat vielmehr das gesagt, was 1985 alle wissen mussten, was aber auch 1985 noch immer nicht alle wissen wollten. […] Es war ein Bekenntnis." Die ehemalige Grünen-Politikerin Antje Vollmer, die der Gedenkveranstaltung seinerzeit distanziert gegenüberstand, verglich die Wirkung von Weizsäckers Rede in ihrer Traueransprache mit dem Kniefall von Willy Brandt vor dem Mahnmal für die Opfer des Warschauer Ghetto-Aufstands 1970. Dies zeigt auch, dass die Ansprache des Bundespräsidenten mittlerweile den Status eines Erinnerungsorts erlangt hat, sogar für einige der damaligen Kritiker. Brandt wie Weizsäcker, so Vollmer weiter, "erlaubten uns, den damals Jüngeren, ganz vorsichtig wieder einzuwandern in das eigene Land, in dem wir gelebt hatten wie Fremde". Vollmer griff also Weizsäckers Analogie vom durch die Wüste wandernden (Täter-)Volk auf, um damit die von der Rede bewirkte Selbstversöhnung der Deutschen zu beschreiben. Sie hob aber auch hervor, dass Weizsäckers Worte "den traumatisierten europäischen Nachbarn die Angst vor den Deutschen" genommen hätten.
Dass Weizsäckers Rede über den nationalen Horizont hinaus wirkt, zeigt der Blick auf die mittlerweile zu konstatierende Transnationalisierung und Europäisierung der Erinnerung an den Zweiten Weltkrieg und den Holocaust. In einer Plenardebatte des Europäischen Parlaments zur "Zukunft Europas 60 Jahre nach dem Zweiten Weltkrieg" bemerkte am 11. Mai 2005 der damalige Ratspräsident und heutige Präsident der Europäischen Kommission Jean-Claude Juncker: "Wenn man sich erinnert, wenn man diese dringende Pflicht zur Erinnerung verspürt, dann muss man auch die Wahrheit sagen. Der 8. Mai 1945 war für Europa ein Tag der Befreiung." Und der französische Abgeordnete Francis Wurtz würdigte in seinem Wortbeitrag den Bundespräsidenten direkt als Vorbild, indem er sagte, er "überlasse das Schlusswort einem führenden europäischen Politiker, der vor zwanzig Jahren die richtigen Worte fand, um über den 8. Mai 1945 zu sprechen, und zwar in einem Land, in dem es am schwersten war, sie offen auszusprechen." Gerade in der Übertragung der Kernaussagen von Weizsäckers Rede, die "weltweit große Beachtung fand, weil sie das Verständnis dafür weckte, daß Besiegtsein und Befreiung unlöslich miteinander verbunden waren", auf die europäische Ebene zeigt sich noch einmal deren Bedeutung – aber auch deren heikle Implikationen. So ist im gegenwärtigen Europa zu fragen, wie in diesem Befreiungs-Diktum die Geschichte Mittel- und Osteuropas mitgedacht werden kann, wo dem Ende des "Dritten Reichs" kommunistische Diktaturen, also mitnichten eine „Befreiung“ im eigentlichen Sinne, folgten. Es gilt heute also, eine die unterschiedlichen europäischen Erfahrungen des Kriegsendes integrierende Geschichtsdeutung zu finden, ein Narrativ, das die Vergangenheit gesamteuropäisch annimmt, wie sie war, und Schuld nicht durch Verteilung auf viele europäische Schultern relativiert.
Zitierweise: Katrin Hammerstein, Birgit Hofmann, "Wir […] müssen die Vergangenheit annehmen" - Richard von Weizsäckers Rede zum Kriegsende 1985, in: Deutschland Archiv, 18.12.2015, Link: www.bpb.de/217619