Im Jahr 1995 durchsuchte die Polizei in der Nähe von Berlin ein Einkaufszentrum. Es war das "Handelscentrum Strausberg", damals eines der größten seiner Art östlich von Berlin. Die Polizeitruppe gehörte zu der Zentralen Ermittlungsgruppe für Regierungs- und Vereinigungskriminalität (ZERV), die 1991 unter anderem gegründet worden war, um unlautere Vermögensverschiebungen in der Transformationsphase der ehemaligen DDR zu bekämpfen.
Beim Strausberger Handelscentrum bestand der Verdacht der Untreue und des Betruges.
Zum Ende der DDR existierten 274 solcher BHGen, durchschnittlich mehr als eine in jedem der Kreise. Ihre Zweigstellen waren über die Dörfer verteilt, mit insgesamt 24.000 Angestellten. BHGen versorgten zu dieser Zeit vor allem Grundstücksinhaber und Kleingärtner mit Kleingartenbedarf und Baumaterialien. Sie betrieben auch Zahlstellen von Banken, wo die ländliche Bevölkerung Kleinkredite erhielt und Spareinlagen einzahlen konnte.
In den 1990er Jahren haben vor allem die Konflikte in den landwirtschaftlichen Produktionsgenossenschaften, zwischen LPG-Vorständen und den Genossenschaftsmitgliedern, Furore gemacht. Die Vorstände der gewandelten Genossenschaften gehörten einst zur SED-Nomenklatura. Daher wurden sie in der Publizistik oft als "rote Barone" bezeichnet, die sich anschickten, die landwirtschaftlichen Strukturen in Ostdeutschland zu dominieren. Von einem regelrechten Bauernkrieg war die Rede. Vereinfacht gesprochen, kann man sagen, die "roten Barone“ haben sich durchgesetzt, weil sie sich geschickt und rechtzeitig von opportunistischen Nomenklaturfunktionären in Interessensvertreter und Lobbyisten wandelten. Dabei spielte auch die Umwandlung der VdgB/BHG, unter anderem in den Bauernverband, eine entscheidende Rolle.
Ein Blick zurück
Um ländliche Strukturen und Mentalitäten zu verstehen, muss man in der Geschichte zurückgehen. Bei der VdgB lohnt sich ein Blick auf die "Stunde null" nach dem Zweiten Weltkrieg, um dann kurz in das 19. Jahrhundert zurückschauen und dann über die 1950er und 1980er Jahre zur "Wende"-Zeit zu gelangen. Gewöhnlich wird für den Umbruch 1989 heute der Begriff "Friedliche Revolution" benutzt. Für die hier beschriebene Form der Elitentransformation ist der von Egon Krenz geprägte Begriff der "Wende" jedoch treffender.
Nach 1945 existierte in Deutschland in den ländlichen Regionen ein dichtes Netzwerk von lokalen Bauern-Genossenschaften für den Einkauf von Saatgut und Dünger, den Verkauf von Getreide, ländlichen Produkten und für ländliche Kredite.
Das Netzwerk von Raiffeisengenossenschaften, von denen es allein 6312 auf dem späteren Gebiet der DDR gab, half nach dem Krieg, die bäuerliche Tätigkeit wieder anzukurbeln und ihre Produkte zu verteilen. Sie leisteten somit einen wichtigen Beitrag, die Nahrungsmittelversorgung der Bevölkerung aufrechtzuerhalten, waren aber auch Institutionen der Selbstbestimmung und des Selbstbewusstseins der traditionellen Bauernschaft, zumindest ihrer Eliten.
Zunächst hielten die sowjetischen Besatzungsbehörden die schützende Hand über diese Strukturen. Aber die deutschen Kommunisten waren misstrauisch. Selbstverwaltungsstrukturen waren ein Hindernis auf dem Weg, die ländliche Gesellschaft totalitär zu durchherrschen.
Aufgrund des nominellen Bekenntnisses der SED zu den Genossenschaftsbauern ist der Eindruck erweckt worden, dass die deutschen Kommunisten Anhänger des Genossenschaftsgedankens waren. Das ist bei genauer Betrachtung nicht zutreffend. Die in Agrarfragen eher unbewanderten deutschen Kommunisten stützten sich ganz auf die Klassiker des Marxismus-Leninismus. Marx beschrieb im Kommunistischen Manifest seine agrarische Utopie: Enteignung des Grundeigentums und "gleicher Arbeitszwang, Errichtung industrieller Armeen, insbesondere für den Ackerbau."
Als sich die Deutschlandpolitik der Sowjetunion zu wandeln begann und sich ein ostdeutscher Separatstaat herausbildete, erhielt die SED die Erlaubnis, die Raiffeisengenossenschaften zu zerstören. Es gab dafür keine ökonomische Notwendigkeit, es ging um reine Herrschaftsinteressen.
Gründung der Vereinigung der gegenseitigen Bauernhilfe
VIII. Kongress der Vereinigung der gegenseitigen Bauernhilfe (VdgB) der DDR in Karl-Marx-Stadt 1989 (© picture alliance / ZB, Foto: Wolfgang Thieme)
VIII. Kongress der Vereinigung der gegenseitigen Bauernhilfe (VdgB) der DDR in Karl-Marx-Stadt 1989 (© picture alliance / ZB, Foto: Wolfgang Thieme)
Der Prozess verlief ähnlich wie bei der Zwangsvereinigung von SPD und KPD. Die SED hatte 1947 die von ihr abhängige VdgB als Organisation für Neusiedler gegründet. Diese sollte nun mit den Raiffeisengenossenschaften, zu diesem Zeitpunkt Bauerngenossenschaften genannt, fusionieren. Im Vorfeld wurde ein Schauprozess gegen angeblich korrupte Raiffeisen-Führer geführt.
Die Bauern wurden nicht enteignet, aber durch die Fusionierung und den forcierten Massenbeitritt der ländlichen Bevölkerung zur VdgB wurden die alten Raiffeisen-Genossenschaftsanteile faktisch entwertet. Da alle VdgB-Mitglieder automatisch Genossenschaftsanteilseigner wurden, waren die einzelnen Anteile faktisch bedeutungslos. In späteren Jahren wurde das Eigentum mit einem zivilrechtlichen Trick zu unteilbarem genossenschaftlichen Eigentum der VdgB/BHG umgewandelt.
Der Dachverband VdgB wurde zur ländlichen Massenorganisation, mit Sitzkontingenten in den Parlamenten und schließlich 650.000 Mitgliedern.
Friedliche Revolution und Wende
Dies war die Situation, als die Friedliche Revolution ausbrach, als "Wir sind ein Volk" zuerst gerufen, dann zur offiziellen Politik wurde. Auch die VdgB-Offiziellen mussten um ihre Stellung bangen. Die Funktionäre befürchteten die Enteignung und Zerschlagung ihrer Organisation.
Zunächst beschlossen die Funktionäre in der Ost-Berliner VdgB-Zentrale, die örtlichen Genossenschaften, die BHGen, abzuspalten. Diese sollten von ihren Mitarbeitern, an deren Spitze ein ehemaliger VdgB-Nomenklaturkader, weiter geleitet werden. Durch diese Pseudoprivatisierung erhofften die Funktionäre der Enteignung zu entgehen. In Wirklichkeit sollten die Einzel-BHGen als Zwangsmitglieder in einem Dachverband bleiben, und mit einer Zwangsabgabe den Apparat aus alten VdgB-Funktionären finanzieren. Die BHGen hatten schon zu DDR-Zeiten die VdgB finanziert und man hoffte, dass das auf diesem Wege weiter gesichert werde. Das Altvermögen der einzelnen BHGen sollte ohnehin als "unteilbares Genossenschaftseigentum",
Die Altgenossen, die die Raiffeisengenossenschaften aufgebaut hatten, und die VdgB-Mitglieder blieben bei diesem Szenario freilich außen vor. Die Vorbereitung von Vorschlägen für die Zukunft der BHGn lag in den Händen von BHG-Leitern und Vorständen, also örtlichen VdgB-Funktionären.
Tarnung und Umbildung zum Bauernverband
Der zweite Reformschritt war die Umgründung der VdgB zum Bauernverband der DDR.
Im März 1990, auf dem Bauerntag in Suhl, ließ sich die VdgB-Führung dieses Konzept von den 900 Delegierten bestätigen. Auf dieser Versammlung gab es auch Widerspruch. Einzelne betonten das "Prinzip der Freiwilligkeit und der Eigenständigkeit"
Doch VdgB-Funktionär Seifert beschwor, dass "uns also die Gefahr ins Haus [steht], wenn wir heute keine Aussage zu den Genossenschaften treffen, dass die VdgB bezüglich der Genossenschaften enteignet wird."
Im Großen und Ganzen ging der Plan der VdgB-Funktionäre also auf. Selbst als das Vermögen der Parteien und Massenorganisationen in der DDR 1990 unter Treuhandverwaltung gestellt wurde, konnten sie weitermachen. Die Treuhand gab jeweils so viel Geld frei, dass sie mit einem abgespeckten Apparat weiterarbeiten konnten. Nach der deutschen Einheit sollte sogar ein Teil der Grundstücke und des Gesamtvermögens an die Bauern- und Genossenschaftsverbände beziehungsweise die örtlichen BHGn zurückgegeben werden.
Im ersten Quartal 1990 bildete sich noch ein weiterer, zunächst konkurrierender Verband. Die LPG-Vorsitzenden waren misstrauisch gegenüber den VdgB-Funktionären. Sie befürchteten, dass diese sich zu stark an den Interessen aller Bauern, auch derer, die die LPG verlassen wollten, orientieren könnten. Daher gründeten sie im März 1990 in Markleeberg den Genossenschaftsverband der LPG und GPG.
Zunächst standen der Bauernverband der DDR und der Genossenschaftsverband LPG/GPG in Konkurrenz. Doch als die Wirtschafts- und Währungsunion und die Einführung der Marktwirtschaft nahten, organisierten sie am 12. April 1990 gemeinsam eine Demonstration vor der DDR-Volkskammer, um auf die Nöte der Landwirtschaft aufmerksam zu machen. Es sollte nicht der letzte Auftrieb von Landarbeitern, Traktoren und Kühen vor dem DDR-Parlament sein. Nach der Demonstration kamen die Vorstände des Bauernverbandes der DDR und des Genossenschaftsverbandes LPG/GPG zusammen. Sie waren sehr zufrieden, denn die Aktion war ein voller Erfolg. Die Themen der Landwirtschaft waren nunmehr medial und politisch auf die Agenda gesetzt worden. Die ehemaligen Nomenklaturkader hatten eine Lektion gelernt. Statt wie früher opportunistisch auf Entscheidungen "von oben" zu warten, mussten sie in den neuen Zeiten selber als Pressure-Group handeln. Beide Verbände schlossen einen geheimen Pakt zum ostdeutschen Agrarlobbyismus. Er umfasste folgende Punkte:
Nach außen hin sollten beide Organisationen getrennt auftreten, aber ihre Ziele abstimmen. Das Hauptziel bestand darin, möglichst viel von den alten Strukturen der DDR zu retten.
Sie würden nicht, wie die VdgB zu DDR-Zeiten, mit eigenen Kandidaten an Wahlen teilnehmen, sondern versuchen, Mitglieder aller Parteien zu beeinflussen.
Lobbyarbeit gegenüber der DDR- und der Bundesregierung,
Beeinflussung der Verwaltung in den ostdeutschen Regionen, vor allem auf der Kreis- und der noch existierenden Bezirksebene.
Gerade letzteres erwies sich als nachhaltig. Denn noch lange bevor die ostdeutschen Länder im Herbst 1990 wiederbegründet waren, entstand so auf der unteren Administrationsebene ein Beziehungsgeflecht. Dieses hatte sich schon verwurzelt und ausgebreitet, als die neuen Landwirtschaftsministerien zu arbeiten begannen.
Schon kurz nach dem Treffen der Verbandsspitzen forderten sie in einer gemeinsamen Stellungnahme den DDR-Ministerpräsidenten Lothar de Maizière auf, "nicht tatenlos zu[zu]sehen, wenn LPG und GPG ruiniert werden".
Einfluss auf regionaler Ebene
Bald nach dem Geheimtreffen der beiden DDR-Agrarverbände im April 1990 bildeten sich gemischte Initiativgruppen, die die regionale Verwaltung beeinflussen sollten. Diese konnten sich auf gewachsene Beziehungen zur ehemaligen SED-Verwaltung stützen. Die Bedeutung der unteren Verwaltungsebene für die Agrartransformation in Ostdeutschland ist nicht zu unterschätzen. Sie war in der Folgezeit an Entscheidungen über die strukturentscheidenden Verpachtungen und Verkäufe staatlicher Ländereien beteiligt. Auch die ersten rechtlichen Umwandlungen und rechtswirksamen Umtragungen im Genossenschaftsregister wurden hier vorgenommen.
Der regionale Lobbyismus war in Ostdeutschland schon etabliert, bevor es am 3. Oktober zur Einheit kam, bevor mit dem 14. Oktober Länderparlamente gewählt und in der Folge Landesregierungen gebildet wurden. Der großagrarisch geprägte Lobbyismus konnte also schon effektiv in die Entstehung der neuen Landesverwaltungen eingreifen. Sichtbares Zeichen dieses starken Einflusses ist, dass bei der Bildung der ersten Länderkabinette in mehreren der ostdeutschen Bundesländer ehemaliges LPG-Führungspersonal in die Position von Landwirtschaftsministern aufrücken konnte.
Ein gesamtdeutscher Bauernverband
In der Altbundesrepublik wurde die Entwicklung in der DDR zunächst mit Misstrauen beobachtet. Man wähnte in der ostdeutschen Großlandwirtschaft eine unliebsame Konkurrenz. Angesichts der effektiven Verbandsarbeit in Ostdeutschland mussten sich jedoch die altbundesrepublikanischen Verbände, wie der Deutschen Bauernverband und die Raiffeisenverbände, arrangieren. Denn sie fürchteten, dass andernfalls die ostdeutschen Agrarfunktionäre konkurrierende Verbandsstrukturen aufbauen könnten. Um dies zu verhindern, wurde im Sommer bei einem Treffen in Warberg ein Kompromiss vorgezeichnet, der zu einem dominanten einheitlichen Bauernverband führte.
Auch die örtlichen BHGen bekamen teilweise ihre Grundstücke zugesprochen. Waren- und Bankgenossenschaften wurden getrennt. Auf Druck der Öffentlichkeit und der Raiffeisenverbände im Westen mussten die örtlichen Warengenossenschaften und Banken oft nachbessern. Im Nachhinein sollten die alten Mitglieder als Teilhaber einbezogen werden. Ob das wirklich überall geschah, ist zweifelhaft. An Orten wie Strausberg wurden die "Ehemaligen" nicht zu Versammlungen eingeladen, angeblich, weil sie nicht bekannt waren. Eine Clique aus ehemaligen VdgB-Leuten und mit ihnen Verbündete, eine Melange aus örtlichen Funktionären, westlichen Steuerberatern, sogar zwielichtigen Figuren aus dem Rotlichtmilieu, wirtschaftete mit dem Handelszentrum zunächst weiter, als ob es ihnen gehörte. Faktisch hatten sie die Altgenossen damit auf eine Art enteignet, wie es sich nicht einmal die SED 1952 getraut hatte. Doch die staatsanwaltlichen Ermittlungen versandeten ohne greifbares Ergebnis, auch weil die ehemaligen Genossenschaftsanteilseigner nicht die Kraft und das Geld hatten, ihre Ansprüche professionell zu verfolgen. Der Staatsanwaltschaft fehlte es an professionellem Personal, um die wirtschaftlichen Verflechtungen zu durchdringen. Groteskerweise holte sich die Justiz gutachterlichen Rat gerade bei Personen, die sich im Rahmen der alten VdgB derartige Umwandlungen ausgedacht hatten. Folglich weigerten sich die Gerichte, Anklage zu erheben.
Wenn man sich fragt, warum sich die Genossenschaftsmitglieder, die in diesen Auseinandersetzungen unterlagen, so schwer taten, sich zu organisieren und den Altfunktionären etwas entgegenzusetzen, dann ist das nicht nur mit den Wirren der Transformation zu begründen. Es ist auch eine Spätfolge der Zerschlagung der Selbstverwaltungsstrukturen und der Demoralisierung der DDR-Bauernschaft seit den 1950er Jahren.
Zitierweise: Christian Booß, Von der Massenorganisation zur Landwirtschaftlichen Pressure Group - Die Wandlung der Vereinigung der gegenseitigen Bauernhilfe (VdgB) zum Bauernverband 1990, in Deutschland Archiv, 10.11.2015, Link: www.bpb.de/215020