"In der Ukraine gibt es keine Juden mehr", schrieb der Schriftsteller Wasili Grossman im Herbst 1943 in der Zeitschrift "Einigkeit", die vom Jüdischen Antifaschistischen Komitee herausgegeben wurde. "In Poltawa, Charkow, Krementschuk, Borispol oder Jagotin – in keiner dieser Großstädte, in Hunderten kleiner Ortschaften und Tausenden von Dörfern wird man jemals wieder die tränengefüllten schwarzen Augen eines kleinen Mädchens sehen, die schrille Stimme einer alten Frau hören oder in das dunkle Gesichtchen eines hungrigen Babys blicken können. Überall Schweigen. Totenstille. Ein ganzes Volk ist brutal ermordet worden." Als er wenig später mit der Roten Armee in ein ukrainisches Städtchen kam, schrieb er in sein Tagebuch: "Und niemand ist mehr da in Kasary, um zu klagen, zu erzählen, oder zu weinen. Stille und Schweigen liegen über den Toten, die unter den eingestürzten, von Gras überwucherten Heimstätten begraben sind. Die Stille ist schlimmer als Tränen und Flüche."
Die Kosten des Sieges
Die Sowjetunion gehörte zu den Siegern des Zweiten Weltkrieges. Aber um welchen Preis war dieser Sieg erkämpft worden? 20 Millionen Menschen waren gefallen, verhungert oder waren ermordet worden. Es gab keine Juden mehr in den Städten der Sowjetunion, nachdem die Einsatzgruppen der SS sie heimgesucht hatten. Als die Wehrmacht im Juni 1941 Minsk verließ, blieb eine tote Stadt zurück. Ihre Bewohner lebten in Erdlöchern oder in den Trümmern, die die Besatzer hinterlassen hatten. Für die Soldaten der Roten Armee war der Krieg nicht nur ein Erlebnis des Sieges, er war auch eine deprimierende Verstörung. Denn auf ihrem Weg nach Westen marschierten sie durch verwüstetes Land. Sie sahen Zerstörung, Hunger und Elend, und sie wussten, wer für diese Katastrophe verantwortlich war. Als sie 1945 die Grenzen des Deutschen Reiches überschritten, brachten auch sie Tod und Zerstörung über ihre Gegner.
Nach dem zweiten Weltkrieg war in der Sowjetunion nichts mehr wie zuvor. Millionen waren gestorben, Millionen hatten als Soldaten fremde Länder gesehen, waren mit fremden Menschen in Berührung gekommen und hatten erfahren, wie die Welt jenseits der Dörfer aussah, aus denen sie gekommen waren. Millionen waren als Kriegsgefangene und Ostarbeiter nach Deutschland verschleppt worden, hatten Ausbeutung und Erniedrigung erfahren und mit eigenen Augen gesehen, dass die Verlierer besser lebten als die Sieger. Vor allem aber hatte der Krieg die Wahrnehmung der Eigenen und der Fremden für immer verändert. Aus einer Union der Werktätigen war eine Union der Völker geworden, aus Volksfeinden wurden Feindvölker und Kollaborateure. Für die politische Macht ergaben sich aus dieser Sicht auf die Welt auf Dauer mehr Vor- als Nachteile. Denn die Stigmatisierung von klar erkennbaren Feinden integrierte die Mehrheit der Bevölkerung über alle sozialen Grenzen hinweg und mobilisierte Feindbilder, die nach dem Ende des Krieges für viele Menschen einen Sinn ergaben. 1937 hatte kaum jemand der Versicherung geglaubt, die Verhafteten und Getöteten seien englische oder polnische Spione gewesen. 1946 aber, nach den Erfahrungen der Kollaboration und der ethnischen Säuberung, konnte niemand mehr behaupten, die Feindkategorien der Regierung seien aus der Luft gegriffen. Millionen hatten sich den deutschen Besatzern als Kollaborateure zur Verfügung gestellt, hatten ihnen geholfen, Juden und Kommunisten zu töten und die ethnische Pyramide der Sowjetunion auf den Kopf zu stellen. Kaum jemand beweinte die Wlassow-Soldaten, die nach dem Krieg erschossen oder in Lager verschleppt wurden, wenige empfanden Mitleid mit Deutschen, Tschetschenen und Krimtataren, die aus ihrer Heimat vertrieben und nach Kasachstan in die Verbannung geschickt wurden. Wahrscheinlich hatte es zu keiner Zeit mehr Zustimmung für die Gewalttaten des Regimes gegeben als in den ersten Jahren nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges.
Keine Stunde Null
Und dennoch waren Gewalt, Hunger und Zerstörung eine schwere Prüfung für die Menschen in der Sowjetunion. Es gab auch dort keine Stunde Null, so wenig, wie es sie in Deutschland gegeben hatte. Auch nach dem Sieg blieb die Gewalt ein Medium der Informationsübermittlung und Machtdurchsetzung, wenngleich sie sich auf andere Weise zur Wirkung brachte als vor dem Krieg. Die Opfer wurden nicht mehr zufällig ausgewählt, sondern erkennbaren und definierbaren Gruppen zugeordnet.
Der Krieg hinterließ in der Sowjetunion zwei Millionen Invaliden, Krüppel und Obdachlose, mehrere Millionen Menschen mussten in den Osten des Landes evakuiert werden. Bauern, die vor den Gefechten geflohen waren, fanden nach ihrer Rückkehr nichts als Trümmer vor. Die Sowjetunion war ein Land auf der Flucht. Millionen demobilisierter Soldaten, obdachlose und entwurzelte Menschen zogen von Stadt zu Stadt und von Dorf zu Dorf, auf der Suche nach Essbarem, nach Arbeit und Wohnraum. Wie fahrende Bienenstöcke sahen die Güterzüge aus, die in der Nachkriegszeit durch die Sowjetunion fuhren. Verzweifelte Menschen saßen auf ihren Dächern und auf den Puffern zwischen den Waggons. Noch im Jahr 1948 lebten in Brjansk, westlich von Moskau, mehr als 9.000 Familien unter freiem Himmel, in Erdlöchern und Hütten. Im südrussischen Krasnodar lebten zu jener Zeit 200.000 Flüchtlinge aus allen Regionen der Sowjetunion. Sie litten an Unterernährung, Epidemien und Hunger. Niemand konnte diesen Menschen helfen, weil die Behörden keine Ressourcen zu ihrer Verfügung hatten, um die Not zu lindern. Die Flüchtlinge mussten sich selbst helfen. Sie bettelten, stahlen, überfielen Eisenbahnzüge und raubten Menschen auf offener Straße aus. Das Regime begegnete der Krise mit Gewalt. Im April 1947 wurden demobilisierte Soldaten und obdachlose Waisenkinder aus Krasnodar vertrieben und NKWD-Kommandos
Vergessen zum Machterhalt
Als der Krieg zu Ende war, hatten wenigstens die Soldaten geglaubt, dass nun alles besser werden würde. Sie hatten ihrem Staat loyal gedient, alle Entbehrungen auf sich genommen, die man ihnen abverlangt hatte. Erstmals in ihrem Leben durften Bauernsoldaten für eine kurze Zeit Sieger sein. Und auch mancher Offizier hoffte nun, dass sich das Regime großherzig zeigen und die Gewalt der Vergangenheit hinter sich lassen werde. Sie hatten die Wirklichkeit jenseits der sowjetischen Grenzen gesehen, sie hatten erfahren müssen, dass die Verlierer besser lebten als die Sieger. Man konnte das Elend nicht mit „einer Seite der Prawda“ zudecken, schrieb der Dichter Brodsky in seinen Erinnerungen.
Stalin und seine Helfer verstanden sofort, das ihre Macht auf dem Spiel stand, wenn sie den Untertanen erlaubten, über das Erlebte so zu sprechen, wie sie es in Erinnerung hatten. Für die totale Diktatur wären freie Menschen verloren gewesen. Niemals würde Stalin ihnen erlauben, dass der Sieg als Leistung von Soldaten öffentlich erinnert wurde. Er durfte nichts anderes als ein Triumph des Führers gewesen sein. Schon im Jahr 1947 war der 9. Mai kein Feiertag mehr, weil der Diktator an den Sieg des Volkes nicht erinnert werden wollte. Die verordnete Wirklichkeit aber ließ sich nur erzwingen: durch Einschüchterung, Zwang und Gewalt.
Krieg im Frieden
Bauern sollten Sklaven bleiben, auch nach dem Sieg. Deshalb erteilte Stalin 1946 die Anweisung, dass die Kolchosordnung der Vorkriegsjahre in das Leben der Bauern zurückkehren sollte. Obwohl Hunger und Elend in den Dörfern herrschte, sollten Bauern Tribute entrichten und Zwangsdienst leisten. Auf Stalins Weisung wurde die Zahl der Arbeitstage in den Kolchosen erhöht und die Strafen für Arbeitsverweigerung und "Diebstahl" von Kolchoseigentum verschärft. In den Dörfern herrschte blanke Not. Noch zu Beginn der 1950er Jahre flohen mehr als neun Millionen Bauern in die Städte, weil es auf dem Land keine Lebensperspektiven mehr gab. Der großen Hungersnot der Jahre 1946 und 1947 fielen eineinhalb Millionen Menschen zum Opfer, 12.000 Kolchosvorsitzende wurden vor Gericht gestellt, zehntausende Bauern in Konzentrationslager verschleppt, weil sie Getreideähren für den eigenen Gebrauch gesammelt hatten. Der Minister für Staatssicherheit in Moldawien meldete im Dezember 1946 nach Moskau, dass in den Krankenhäusern der Republik Kinder verhungerten und Leichen die Straßen der Hauptstadt säumten. Stalin wollte von alldem nichts hören. In der Ukraine wurden Bauern, die ihre Arbeitspflichten nicht zur Zufriedenheit des Regimes erfüllt oder sich den kommunistischen Behörden widersetzt hatten, verhaftet. Nikita Chruschtschow, der Parteichef der Ukraine, empfahl dem Diktator, "unverbesserliche Verbrecher und Parasitenelemente" nach Sibirien deportieren zu lassen. Stalin stimmte sofort zu, und im Frühjahr 1948 setzten sich die ersten Züge nach Osten in Bewegung.
Rache
Nicht einmal in der Stunde des Sieges konnte sich das Regime großmütig zeigen. Es nahm Rache an Kollaborateuren, Ostarbeitern und Kriegsgefangenen, die die Erwartungen nicht erfüllt hatten. Überall wurden Schauprozesse organisiert, deutsche Offiziere und ihre russischen Helfer öffentlich hingerichtet. Wer während des Krieges unter deutscher Besatzung gelebt hatte, musste sich einer Überprüfung durch den NKWD unterziehen. Tausende kamen in Arbeitslager, aber selbst die Freien mussten mit dem Stigma des Verdachts leben, weil in ihre Pässe ein Vermerk über ihren Aufenthaltsort während des Krieges eingetragen wurde. Mit Kollaborateuren machte das Regime kurzen Prozess. General Wlassow und seine Offiziere wurden in Moskau vor Gericht gestellt und zum Tode verurteilt, zehntausende Soldaten seiner Armee in sibirische Straflager verschickt. So erging es auch den ukrainischen Hilfswilligen, die im Tross der Wehrmacht gedient hatten, und den Kosaken, die im Juni 1945 von der britischen Armee an die Sowjetunion ausgeliefert wurden. Im österreichischen Kärnten, wo die Übergabe stattfand, schnitten sich die Gefangenen die Pulsadern auf, warfen sich von Brücken, um der Rache ihrer Landsleute zu entgehen. Im Hafen von Odessa wurden Rückkehrer, die noch deutsche Uniformen trugen, von NKWD-Kommandos mit Maschinengewehren erschossen.
Erbarmungslosigkeit überall. Mit Misstrauen begegnete das Regime auch jenen vier Millionen Menschen, die in deutsche Kriegsgefangenschaft geraten oder als Ostarbeiter nach Deutschland verschleppt worden waren. Bis Juli 1945 wurden mehr als 800.000 sowjetische Soldaten, die sich den Deutschen ergeben hatten, in Filtrationslager eingeliefert, 600.000 ehemalige sowjetische Kriegsgefangene mussten Zwangsarbeit in der "Arbeitsarmee" des NKWD leisten. Für Offiziere, die in Gefangenschaft gegangen waren, gab es keine Gnade. 120.000 Offiziere wurden vom NKWD überprüft und die meisten von ihnen für die Dauer von sechs Jahren in Straflager geschickt. Auch für jene zwei Millionen Zwangsarbeiter, die sich im Mai 1945 noch in Deutschland befanden, war das Ende des Krieges nicht das Ende ihrer Leidenszeit. In ihrer Heimat erwartete sie nichts als Trostlosigkeit, Schimpf und Schande, denn sie hatten in die Ferne geschaut und gesehen, was sie nicht sehen sollten. In langen Kolonnen marschierten die befreiten Zwangsarbeiter in die Unfreiheit zurück. In den Lagern für Displaced Persons konnten die Internierten nur durch Zwang dazu veranlasst werden, in ihre Heimat zurückzukehren. Die sowjetischen Repatriierungsoffiziere drohten ihnen mit der Verhaftung ihrer Verwandten, sollten sie sich weigern, in die Sowjetunion zurückzukehren. Nicht einmal Esten, Letten und Litauer konnten sich berufen, vor dem Überfall der Sowjetunion auf die baltischen Staaten Bürger souveräner Staaten gewesen zu sein. In Stalins Reich gab es keine Bürger, nur Untertanen, die von den Behörden als Eigentum des Staates behandelt wurden. Über Jahrzehnte blieben Kriegsgefangene und Ostarbeiter im Verdacht, Verräter gewesen zu sein. Sie konnten und durften über ihr Leiden nicht sprechen. In der Heldengeschichte vom Großen Vaterländischen Krieg gab es für sie keinen Platz.
Trotz Frieden – Terror und Vertreibung
Das Ende des Krieges war nicht das Ende ethnischer Säuberungen und rassistischer Exzesse. In manchen Regionen war er der Anfang des Schreckens. Im Frühjahr 1944 wurden eine halbe Millionen Tschetschenen aus ihrer Heimat vertrieben und nach Kasachstan deportiert, und auch die Wolgadeutschen, Krimtataren und Kalmücken traf dieses Schicksal. Niemandem half jetzt noch die Versicherung, Kommunist oder Soldat der Roten Armee gewesen zu sein. Jeder, der einer Feindnation angehörte, sollte für immer ein Ausgeschlossener bleiben. Selbst in der Armee wurden tschetschenische und deutsche Soldaten verhaftet und nach Zentralasien geschickt, obgleich sie doch auf Seiten der Roten Armee gegen die Invasoren kämpften. Die Opfer verstanden nicht, was mit ihnen geschah, für die politische Führung aber gab es keinen Zweifel, dass Kollektive bestraft werden müssten, so wie auch die deutschen Besatzer mit ihren Untertanen verfahren waren. Als die sowjetischen Truppen im Herbst 1943 in die Ukraine vorrückten, bestraften die Tschekisten nicht nur Kollaborateure und Helfer der Nationalsozialisten. Sie begaben sich auch auf die Suche nach Deutschen und Rumänen, die sie aus ihren Dörfern vertrieben, deportierten oder erschossen. In der westlichen Ukraine, die vor dem Hitler-Stalin-Pakt ein Teil Polens gewesen war, kam es zu grausamen Exzessen: Ukrainer vertrieben Polen und Polen Ukrainer aus ihren Dörfern. Niemand erlebte das Jahr 1944 als ein Jahr des Friedens. In der Ukraine und im Osten Polens kämpften Partisanen der polnischen Heimatarmee gegen Partisanen der ukrainischen Nationalisten. In diesem Krieg, der auf beiden Seiten mit beispielloser Grausamkeit geführt wurde, zeigte sich das Erbe der nationalsozialistischen Terrorherrschaft, die Freunde und Feinde ethnisch und rassisch definiert hatte. Niemand konnte sich in dieser Region noch eine friedliche Koexistenz von Polen und Ukrainern vorstellen. Am Ende traf Stalin die Entscheidung, alle Polen, die im westlichen Teil der Ukraine lebten, aus der Region zu deportieren und nach Polen abzuschieben und alle Ukrainer, die sich auf polnischem Territorium befanden, in die Ukraine umzusiedeln. Nicht nur für Deutsche, sondern auch für Millionen Ukrainer und Polen war das Ende des Zweiten Weltkrieges mit dem Verlust ihrer Heimat verbunden.
Die Umsiedlung aber beendete nicht den Krieg, denn in der Ukraine und in Litauen lieferten sich die Partisanen auch mit den Truppen der Roten Armee blutige Gefechte. In den Partisanenverbänden der ukrainischen Aufstandsbewegung dienten Soldaten, die aus der sowjetischen Armee desertiert waren, ehemalige Kollaborateure der Deutschen, Angehörige der nationalistischen Bandera-Einheiten und Bauern, die vor dem Terror der Kommunisten aus ihren Dörfern geflohen waren. Die Rote Armee setzte Panzer und Flugzeuge gegen die Aufständischen ein, verwüstete Dörfer und zerstörte die Lebensgrundlagen der Rebellen. Bald griff das Regime auch auf die Praktiken des Bürgerkrieges zurück. Sein Geheimdienst nahm Geiseln und drohte mit ihrer Erschießung, damit die Dorfbewohner den Aufenthaltsort von Aufständischen verrieten. Wie schon in den Jahren des Bürgerkrieges brachte das Regime Bauern gegeneinander auf, denn es wurden mehr als 60.000 Bauern für den Dienst in sogenannten "Vernichtungsbataillonen" rekrutiert, die keinem anderen Zweck dienten, als Furcht und Schrecken in den Dörfern anderer Bauern zu verbreiten. Nun beruhte die Feindschaft der Bauern nicht nur auf Einbildung, denn manche hatten auf der Seite der Roten Armee gekämpft, während andere den Besatzern geholfen oder in den Einheiten der ukrainischen Nationalisten gedient hatten. Wer noch eine Rechnung offen hatte, konnte sie jetzt begleichen.
Die Ukraine versinkt erneut im Chaos
Nirgendwo starben mehr Menschen als in der Ukraine. Mehr als 150.000 ukrainische Partisanen wurden zwischen 1944 und 1953 getötet, entweder im Gefecht oder in Gefangenschaft, 130.000 Menschen als Volksfeinde und "Spione" verhaftet, 200.000 nach Zentralasien deportiert. Aber auch in den baltischen Republiken kannte der Terror keine Grenzen. Als die Rote Armee im Herbst 1944 in Riga einmarschierte, kam es zu Plünderungen und Vergewaltigungen, im November holte die Staatssicherheit Menschen aus ihren Häusern, die sie für Feinde des sowjetischen Regimes hielten. In Litauen wurden alle Menschen verhaftet, die im Verdacht standen, den deutschen Besatzern geholfen zu haben: Intellektuelle, katholische Geistliche, Staatsbeamte. Niemals wieder sollte es den Unterworfenen gelingen, sich gegen das sowjetische System zu erheben. Zu diesem Zweck musste die Elite des alten Staates vernichtet werden. Diese Gewalt aber blieb nicht ohne Antwort. In Litauen kam es zu einem erbitterten Krieg zwischen Truppen des NKWD und nationalen Partisanen, den "Waldbrüdern". Bis 1953 fielen 13.000 Kommunisten und Kollaborateure des sowjetischen Regimes Anschlägen und Überfällen der Partisanen zum Opfer. Mehr als 28.000 Soldaten des NKWD waren im Einsatz, um die Erhebung niederzuschlagen. Der Widerstand brach erst am Ende der 1940er Jahre zusammen, als die Tschekisten begannen, Angehörige der alten Eliten aus der Region zu deportieren. Im Mai 1948 wurden in Litauen 40.000 Menschen verhaftet, im Jahr 1949 weiteten sich die Vertreibungen auf alle baltischen Republiken aus. 95.000 Menschen fielen diesem Terror zum Opfer. Allein in Litauen wurden zwischen 1944 und 1953 20.000 Menschen getötet, 240.000 in Gefängnisse oder in sibirische Straflager gesperrt, ein Zehntel der Bevölkerung. Der sowjetische Krieg vollbrachte ein Werk der totalen Zerstörung. Er vernichtete, was sich dem Regime Stalins in den Weg stellte. Niemals wieder sollten sich Esten, Letten, Litauer und Ukrainer gegen die Sowjetmacht erheben. Stalins Kalkül ging auf, die Unterwerfung eröffnete keinen Ausweg. Im kollektiven Gedächtnis der Unterworfenen aber wird das Ende des Zweiten Weltkrieges als Katastrophe erinnert, als Beginn einer Unfreiheit, die erst im Jahr 1991 zu Ende ging.
Das verspätete Ende des Krieges
Und die Juden? Was geschah mit ihnen? Nur wenige hatten den Holocaust überlebt, und dennoch verweigerte Stalins Regime ihnen die Anerkennung, Opfer der deutschen Vernichtungsmaschinerie gewesen zu sein. Wenngleich das Jüdische Antifaschistische Komitee sowie die Schriftsteller Wasili Grossman und Ilja Ehrenburg dokumentierten, was mit den jüdischen Bürgern der Sowjetunion geschehen war, durfte nicht sein, was der Diktator nicht als Wirklichkeit ausgegeben hatte. Das "Schwarzbuch" über den Genozid an den sowjetischen Juden wurde beschlagnahmt, die Mitglieder des Jüdischen Antifaschistischen Komitees verhaftet, ihr Vorsitzender Solomon Michoels getötet. Als im September 1945 in Kiew Judenpogrome ausbrachen, gab es niemanden, der solche Ereignisse für bemerkenswert hielt. Für Stalin und seine Helfer gab es keinen Zweifel: die Leiden der vergangenen Jahre sollten Leiden des Sowjetvolkes, nicht der Juden gewesen sein. Deshalb verschwand der Holocaust in der Heldengeschichte des Großen Vaterländischen Krieges. 1948, nach der Gründung des Staates Israel, verwandelten sich Juden wieder in Feinde, weil Stalin sie im Verdacht hatte, eine fünfte Kolonne ausländischer Mächte zu sein. Die Erinnerung an den Holocaust hätte den zweiten Gründungsmythos der Sowjetunion zerstört, der die Prüfungen des Zweiten Weltkrieges als siegreichen Abschluss der Revolution präsentierte.
In den Ländern im Westen Europas war der Krieg 1946 zu Ende, für Amerikaner, Briten und Deutsche sogar früher. In der Sowjetunion aber ging er erst zu Ende, als Stalin starb und das Imperium seine innere Macht wiederhergestellt hatte. So gesehen war für Millionen Bürger der Sowjetunion nicht das Jahr 1945, sondern das Jahr 1953 das Ende ihrer Leiden.
Zitierweise: Jörg Baberowski, Verwüstetes Land: Die Sowjetunion nach Holocaust und Krieg, in: Deutschland Archiv, 22.5.2015, Link: http://www.bpb.de/207010