Debatten um eine Wiedervereinigung vor dem November 1989
Es ist nichts Neues, wenn an dieser Stelle festgestellt wird, dass das sich nach den Umwälzungen des Herbstes 1989 rasch anbahnende Ende der Teilung Deutschlands das Gros der Diplomatinnen und Diplomaten sowie Politikerinnen und Politiker – nicht nur in Österreich – überraschte. Allerdings wurde die Einheit Deutschlands nicht erst nach dem Mauerfall diskutiert. Der österreichische Diplomat Thomas Nowotny analysierte bereits im September 1989 ausführlich Debatten über das "Gespenst der Widervereinigung" und die damit verbundenen Erwartungen, wie sie bei der Botschafterkonferenz, der jährlichen Zusammenkunft der Leiterinnen und Leiter der österreichischen Vertretungen im Ausland, Anfang September 1989 diskutiert worden waren. Man kam dabei zum Schluss, dass "die USA erwartet, dass ein wiedervereinigtes Deutschland gegen Osten drängen, und die UdSSR schwächen würde. Die UdSSR erwartet sich von einem wiedervereinigten Deutschland dessen Ausscheren aus der NATO und damit eine fatale Schwächung der NATO." Allerdings berichtet Nowotny, dass sich Friedrich Bauer, Österreichs Botschafter in Bonn, und Franz Wunderbaldinger, Botschafter in Ost-Berlin, davon überzeugt zeigten, dass "das Gerede nicht ernst zu nehmen" sei. Bauer meinte, dass "das Nebeneinander der beiden deutschen Staaten […] von praktisch allen akzeptiert" werde. Wunderbaldinger schätzte die Lage völlig falsch ein, als er behauptete, dass "es auch in der DDR keinen grossen Druck zu radikalen Veränderungen gäbe. Mit plötzlichen Aufwallungen und Kursänderungen sei nicht zu rechnen. Weil er im großen und ganzen [sic] funktioniert, würde der Staat von der Bevölkerung auch akzeptiert."
Nowotny schien die sich anbahnenden Veränderungen hingegen eher zu erwarten und zweifelte diese Einschätzungen an. Er betonte, dass es in beiden deutschen Staaten "Anzeichen für eine grundsätzliche Änderung des politischen Klimas" gebe und dass die Wiedervereinigung "in Zukunft sehr wohl auf der politischen Tagesordnung der beiden Staaten" stehe. Erstaunlich ist insbesondere Nowotnys Weitsicht: Neben einer sachlichen Kosten-Nutzen-Analyse bemühte er sich, die Ängste vor einem neuen großen Deutschland zu entkräften. So meinte er, dass "die jetzige DDR nicht sofort auf das wirtschaftliche Niveau der BRD gebracht werden" könne und "auch noch im Jahr 2025 die Produktivität auf dem Gebiet, das heute die DDR ist, etwas – vielleicht 15% – unter der Produktivität der jetzigen BRD liegen" werde.
Reaktionen nach dem 9. November 1989
Der Mauerfall wurde in der österreichischen Presse ausführlich behandelt und insgesamt positiv aufgenommen, wenngleich in Der Standard bereits Sorgen über die Konsequenzen formuliert wurden, insbesondere um die Aufrechterhaltung der Oder-Neiße-Grenze. Außenminister Alois Mock von der Österreichischen Volkspartei (ÖVP) würdigte das Ereignis als "gewaltigen Triumph des Strebens nach Freiheit und Demokratie über die Unterdrückung" und meinte schon am 10. November, dass er eine Chance sehe, "daß die leid- und schmerzvolle Teilung Europas und die darin verborgene Gefahr für den Frieden wegfällt". Seiner klaren Position sollte schnell vom Parteivorsitzenden der Kommunistischen Partei Österreichs (KPÖ), Franz Muri, widersprochen werden, der meinte, dass es sich dabei um eine "grobe Einmischung in die innere Angelegenheit eines anderen Staates" handle. Wenige Tage später fand sich die Haltung Mocks auch in der Schlusserklärung der eintägigen Sitzung des Ausschusses "Europäische Strukturen – Europäische Politik" der Europäischen Demokratischen Union (EDU), eines Zusammenschlusses mehrerer europäischer christdemokratischer und konservativer Parteien, deren Präsident Mock war. Dieser war zu entnehmen, dass Forderungen nach einer Wiedervereinigung der beiden deutschen Staaten von der EDU unterstützt würden.
Deutlich zurückhaltender agierte der österreichische Bundeskanzler Franz Vranitzky von der Sozialdemokratischen Partei Österreichs (SPÖ). Dieser bezeichnete den Mauerfall als "eines der denkwürdigsten Ereignisse in der politischen Geschichte Europas", betonte aber in der DDR-Zeitung Neues Deutschland (ND), dass Österreich die "traditionell guten, politischen und wirtschaftlichen Beziehungen mit der DDR […] auch in Zukunft fortsetzen" wolle. Im Gegensatz zu seinem Vizekanzler Mock wollte er zur Frage einer möglichen Wiedervereinigung Mitte November nicht Stellung nehmen, eine solche "käme einer Einmischung gleich. Die DDR solle ihre Probleme zunächst allein lösen", zitierte ihn das ND.
Vranitzky setzte damit zu Beginn der nun unter neuen Vorzeichen geführten Debatten um die Deutschlandfrage auf eine Politik der Äquidistanz und des Abwartens. Bezeichnend für diese Grundeinstellung war sein Besuch in der DDR am 24. November 1989, also nur wenige Tage nach dem Mauerfall. Der Kanzler erklärte im Vorfeld, dass er mit diesem ein "nützliches Signal" geben wolle. Wie Neues Deutschland mit Bezug auf ein Pressegespräch berichtete, sei es ihm darum gegangen, "Aufmerksamkeit für die Umgestaltungsprozesse in der DDR in Taten umzusetzen." Um Instabilität "durch die Veränderungen in den sozialistischen Staaten" zu verhindern, müssten westliche Staaten "durch Kooperation zur Verbesserung der Lebensbedingungen in diesen Ländern beitragen."
Die Diplomaten des Außenministeriums hatten sich in der Zwischenzeit bereits Gedanken um die Wiedervereinigung gemacht, konnten sich aber zu keiner klaren Prognose zu den künftigen Entwicklungen durchringen. Die Österreichische Botschaft in Bonn verwies am 15. November 1989 auf die dort spürbare "Erwartung baldiger Wiedervereinigung", meinte aber, dass die Bundesregierung "zunächst abwarten [müsse], welche politischen Rahmenbedingungen die DDR abstecke." Aus Ost-Berlin berichtete Botschafter Wunderbaldinger am 17. November 1989 über die am gleichen Tag erfolgte Präsentation der Regierung Hans Modrow vor der Volkskammer, betonte, dass in der Erklärung von Modrow "[g]efährliche Spekulationen über eine Wiedervereinigung als Tagesaufgabe […] zurückgewiesen" worden seien.
Ähnliches bekam Vranitzky auch von Modrow persönlich zu hören: Die DDR sei "weiterhin im Warschauer Pakt verankert", und das "Naheverhältnis zur Sowjetunion" bleibe "auch in Zukunft der erste Orientierungspunkt der DDR"; eine Wiedervereinigung könne sich "geschichtlich in der Ferne darstellen […] und sich in einem größeren europäischen Haus vollziehen". Diese klare Positionierung, die Unterzeichnung eines Wirtschaftsübereinkommens sowie diverse Aussagen über positive Aussichten der bilateralen Beziehungen der DDR zu Österreich haben Vranitzky ein widerspruchsfreies Bild von der künftiges Entwicklung der DDR als eigenständiger Staat geliefert. Eine weitere Bestätigung dieses Bildes erhielt der österreichische Kanzler am gleichen Tag in West-Berlin, wo er den Regierenden Bürgermeister Walter Momper traf, der "ihm ausdrücklich versichert hat, dass die Wiedervereini¬gung nicht auf dem Programm steht". Die österreichische Diplomatin Gabriele Matzner berichtete in einem Schreiben vom 27. November, also drei Tage nach dem Besuch von Vranitzky, ausführlich über Mompers Einstellung, der ihr zufolge den politischen Absichten Bonns misstraute und außerdem der Ansicht war, dass keine politische Kraft in der DDR (weder die SED noch die Blockparteien, noch die im Aufbau befindlichen oppositionellen Kräfte) eine Wiedervereinigung wünsche. Momper meinte, so Matzner, aufgrund seiner Kontakte zu Entscheidungsträgern und Oppositionellen in der DDR einen Informationsvorsprung zu haben. Auch Matzner betonte, dass Momper seine Haltung im Gespräch mit Vranitzky deutlich gemacht habe, und behauptete darüber hinaus, dass auch für die Alliierten eine Wiedervereinigung kein Thema sei.
Dem Programm des Besuches von Vranitzky ist zu entnehmen, dass dem Gespräch mit Momper rund 75 Minuten eingeräumt wurden, im Ostteil der Stadt verbrachte die österreichische Delegation hingegen fast fünf Stunden, wobei ein Gespräch mit Modrow, die Unterzeichnung einer wirtschaftlichen Vereinbarung, ein gemeinsames Pressegespräch und ein offizielles Mittagessen stattfanden. Den Verlauf des Besuches bezeichnete die österreichische Delegation in West-Berlin als "[s]ymptomatisch für die neue Entspannung": "Eine Limousine des DDR-Protokolls mit Ost-Berliner Nummer, beflaggt mit der österreichischen Fahne, eskortiert von der West-Berliner Polizei […] brachte den Herrn Bundeskanzler zu seinem Termin bei Momper und von dort bis zum Grenzübergang beim Flughafen Schönefeld."
Der Besuch von Vranitzky in der DDR wurde im Rückblick sehr unterschiedlich bewertet: Botschafter Franz Wunderbaldinger meinte später, dass sich die Bundesrepublik erhofft hatte, über den Umweg der bundesdeutschen-österreichischen Diplomatie, Informationen über den Reformwillen der DDR zu erhalten. Lageeinschätzungen erhoffte sich wohl auch der französische Präsident François Mitterand, mit dem der Besuch abgesprochen worden sei, wie der österreichische Botschafter in Bonn Friedrich Bauer betont. Bundeskanzler Helmut Kohl hingegen schien wenig begeistert. Gernot Rumpold, Bundesratsmitglied der Freiheitlichen Partei Österreichs (FPÖ), warf Vranitzky in einer Pressemitteilung vor, "immer wieder versucht [zu haben], den falschen Machthabern den Rücken zu stärken." Vranitzky, der im Gespräch mit Modrow meinte, dass er "seinen Besuch hier zu diesem Zeitpunkt als Signalwirkung" verstehe, blendete diesen später aus, in seinen "Politischen Erinnerungen" wird er nicht erwähnt. Ganz im Gegensatz zu Modrow, der in "Aufbruch und Ende" festhielt, dass durch den Besuch unterstrichen wurde, "daß Österreich den demokratischen Umbruch in der DDR unterstützte und der DDR im Rahmen der europäischen Entwicklung entsprechende Bedeutung beimaß." Die ostdeutsche Berliner Zeitung kam kurz nach dem Besuch zu einem ähnlichen Schluss: "Beiderseitige Interessen sind im Spiel, und 'Bevormundung', so der Kanzler wörtlich, sei nicht seine Sache. Damit hat er seinem BRD-Kollegen nicht nur den Anreisetermin als erster Spitzengast der neuen DDR-Regierung voraus, sondern auch eine wichtige Erkenntnis für den Umgang der Mieter im künftigen Haus Europa."
Der Besuch von Vranitzky zeigt, dass die DDR auch weiter an guten Beziehungen zu Österreich interessiert war, was dem österreichischen Diplomaten Ernst Sucharipa bereits im September 1989 vom Botschaftsrat der DDR-Botschaft in Wien mitgeteilt worden war. Dieser hatte betont, dass die Haltung Österreichs hinsichtlich der DDR-Flüchtlinge "keinerlei Erstaunen hervorgerufen" hätte. Es sei keinerlei Kritik geäußert worden, sondern im Gegenteil Verständnis für das Agieren Österreichs, das die Fluchten der Bürgerinnen und Bürger der DDR über die österreichisch-ungarische Grenze nicht behinderte und den Flüchtlingen bei der Weiterreise in die Bundesrepublik behilflich war. Die weiterhin sehr freundliche Haltung der DDR gegenüber Österreich, obwohl – wie neueste Studien eindeutig zeigen – insbesondere die Bilder vom Durchschneiden des Eisernen Vorhanges durch Mock und seinen ungarischen Amtskollegen Gyula Horn am 27. Juni und vom Paneuropäischen Picknick am 19. August 1989 die Fluchtbewegung der DDR-Bürger und damit den Zusammenbruch der DDR förderten, lässt sich wohl nur mit der zunehmenden internationalen Isolierung der DDR erklären.
Fortführung der Besuchsdiplomatie
Jahrzehntelang hatte Österreich die Position der Bundesrepublik unterstützt, die von einer Einigung Deutschlands ausgegangen war. Nach dem Grundlagenvertrag 1972 zwischen der Bundesrepublik und der DDR schien Österreich jedoch fest entschlossen, sehr rasch Kontakte zur DDR auf den verschiedensten politischen Ebenen aufzubauen. Bis 1989 wurde nicht nur eine rege Besuchsdiplomatie gepflegt (ausgehend vom Besuch des Bundeskanzlers Bruno Kreisky, der als erster westlicher Regierungschef in die DDR gekommen war), sondern es wurden auch zahlreiche bilaterale Verträge abgeschlossen, wovon beide Staaten finanziell profitierten. Dies mag ein wichtiger Faktor für die Bemühungen Österreichs um eine Fortführung der bilateralen Kontakte zur DDR gewesen sein, bis diese weder wirtschaftlich noch personell zur Aufrechterhaltung der internationalen Diplomatie in der Lage war.
Kurz nach dem Vranitzky-Besuch bei Modrow kam der stellvertretende Außenminister der DDR, Kurt Nier, am 30. November und 1. Dezember 1989 nach Österreich. Dabei kam es zu Gesprächen mit Mock und diversen Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern des Außenamts. Der österreichische Diplomat Ernst Sucharipa hielt in seinem Amtsvermerk zu diesen Gesprächen fest, dass Nier gemeint habe, dass es in der DDR einen Konsens zu drei Punkten gebe:
"Ziel der Reformen ist die Erneuerung der sozialistischen Gesellschaft (Erhaltung des erreichten sozialistischen Standards sehr wichtig)
[die] DDR ist und bleibt ein souveräner Staat
[die DDR] entscheidet selbständig über Art und Umfang der Reformen"
Den Beamtinnen und Beamten des Außenministeriums wurde bei der Gelegenheit die Position der damaligen DDR-Führung deutlich gemacht, die sich gegen das Ziel des Zehn-Punkte-Plans von Kohl richtete, der am 28. November 1989 im Bundestag einen Weg zur deutschen Einheit vorgestellt hatte. Eine "('Wieder')Vereinigung stehe im Widerspruch zum Grundlagenvertrag und zu den Schlussdokumenten von Helsinki". Sucharipa hielt außerdem fest: "Es bestand Übereinstimmung, daß Veränderungen in der DDR eine Intensivierung der Beziehungen ermöglichen; [der] Besuch des HBK [Herrn Bundeskanzlers, Anm. AB] am 24.11.1989 habe diesbezüglich Signalwirkung gehabt."
Nier verwies bei den Gesprächen auch auf eine bestehende Einladung an Mock, die man im 1. Halbjahr 1990 realisieren wollte. Im Gegensatz zu Vranitzky ließ sich Mock jedoch nicht so leicht in die DDR locken. Der österreichische Außenminister, der sich bereits vor 1989 um eine Überwindung der Grenzen des Kalten Krieges bemüht hatte und sich schließlich im Juni 1989 im Zuge der medienwirksamen Durchschneidung des Grenzzaunes gemeinsam mit seinem ungarischen Amtskollegen Horn auch aktiv eingebracht hatte, war ganz auf der Linie von Kohl. Bei einer Pressekonferenz der EDU am 7. Dezember 1989 erklärte Mock, dass das "Zehn-Punkte-Programm des Bonner Bundeskanzlers Helmut Kohl zur Deutschlandfrage […] eine wichtige politische Positionsbestimmung" sei, "die er voll unterstütze". Aus einem Statement bei einer Pressekonferenz drei Tage später wird deutlich, dass die Vereinigung der beiden deutschen Staaten für ihn schon zu diesem Zeitpunkt nur mehr eine Frage der Zeit war, wenn er meinte "[j]e konsequenter die Reformen in der DDR durchgeführt werden, desto länger wird die DDR bestehen". Vranitzky betonte hingegen wenige Tage später, dass es "der einheitliche Standpunkt der Bundesregierung [sei], daß diese Angelegenheit von den Bewohnern der beiden deutschen Staaten zu beantworten" sei. Auch der damalige Klubobmann (Fraktionsvorsitzende) der SPÖ, Heinz Fischer, meinte, dass österreichische Politiker "mit Stellungnahmen zur sogenannten 'Wiedervereinigung' sehr zurückhaltend sein" sollten.
Dieser Haltung der SPÖ und der nach wie vor unterschiedlichen Auffassung der Regierungsspitze hinsichtlich der Deutschen Frage entsprach die Verwirklichung eines Gegenbesuches von Modrow bei Vranitzky am 26. Januar 1990. Wie der ehemalige österreichische Botschafter in Ost-Berlin Wunderbaldinger betont, hatte sich insbesondere Modrow um einen möglichst frühen Termin für den Gegenbesuch bemüht. Der Vertreter Österreichs in Bonn, Friedrich Bauer, betonte später, dass er den Besuch für "unnötig" gehalten habe, aber nicht explizit gefragt worden sei.
Im Vorfeld des Besuches sprach Modrow mit dem neuen (und letzten) österreichischen Botschafter in der DDR, Erich Binder. Der Regierungschef der DDR erklärte diesem, dass er Unterstützung zur Aufrechterhaltung der Stabilität brauche, und bat um Wirtschaftshilfen, wie Österreich sie schon Polen und Ungarn gewährt habe. DDR-Staatssekretär Herbert Krolikowski sprach ebenfalls mit Binder und bat ihn "fast beschwörend" darum, dass Österreich "der BRD auf wirtschaftlichem Gebiet nicht alleine das Feld überlassen möge". Die Berichte von Binder über die beiden Gespräche zeigen, wie hilflos die Regierenden in der DDR zu diesem Zeitpunkt bereits wirkten und wie sehr sie versuchten, Österreich als Verbündeten für ihre Bemühungen um ein Weiterbestehen der DDR zu gewinnen.
Modrow wurde bei seinem Österreich-Besuch von Außenminister Oskar Fischer, Außenwirtschaftsminister Gerhard Beil und Tourismusminister Bruno Benthien begleitet. Beschlossen wurde insbesondere eine vorübergehende Suspendierung der Visumpflicht, die am 1. Februar 1990 in Kraft trat. Hinsichtlich der Frage der Vereinigung der beiden deutschen Staaten bekräftigte Modrow, "unter Hinweis auf die diesbezüglich verstärkte Stimmung in der DDR, daß eine Vertragsgemeinschaft mit konföderativen Zügen angestrebt werde; mit Augenmaß ('wie von Kohl in Dresden formuliert') und eingebettet in einen europäischen Einigungsprozeß." Damit wurde die ablehnende Haltung der DDR gegenüber einer deutschen Einheit abermals deutlich gemacht, es zeigte sich jedoch schon eine gewisse Abschwächung dieser Position. Der Botschafter der DDR in Wien, Klaus Wolf, hatte bei seiner Vorsprache beim Leiter der Sektion II im Außenministerium am 4. Januar 1990 noch gemeint: "Eine Wiederherstellung Deutschlands in den Grenzen von 1937 stehe […] keinesfalls zur Debatte." Vranitzky äußerste sich anlässlich des Modrow-Besuches zur Deutschlandfrage abermals wortkarg und meinte vorsichtig, dass ihm eine Wiedervereinigung "keine Sorge" bereite. Weitsichtiger als Modrow zeigte sich im Rahmen des Staatsbesuches vom 26. Januar DDR-Außenminister Fischer gegenüber Mock, der deutlich machte, "daß es zur Vereinigung kommen werde; sie müsse in die Überwindung der europäischen Spaltung eingebunden sein." Somit waren der österreichischen Regierungsspitze zwei unterschiedliche Auffassungen zur deutschen Frage präsentiert worden.
Im Rückblick kann man freilich erkennen, dass sich schon eine gewisse Entwicklung abzeichnete, auch wenn Modrow nach dem Gespräch mit Vranitzky mit dem Präsidenten der Bundeskammer der gewerblichen Wirtschaft, Rudolf Sallinger, über wirtschaftliche Kooperationen sprach und Außenwirtschaftsminister Beil mit dem damaligen österreichischen Wirtschaftsminister Wolfgang Schüssel ein neues Kooperationsabkommen unterzeichnete. Dass die DDR-Presse sich auf den wirtschaftlichen Austausch konzentrierte, verwundert nicht. Für die Berliner Zeitung war Österreich ein "Freund in schwerer Zeit": "Neue Zusammenarbeit, willkommene Hilfe. Und zwar zur rechten Zeit. Das ist kein Zufall. Österreich und die DDR unterhalten ein sehr konstruktives Verhältnis nicht erst seit heute. Es bewährt sich nun auch in schweren Zeiten." Auch in der Zeitung Neue Zeit war man sichtlich erleichtert über die Bereitschaft Österreichs in die DDR-Wirtschaft zu investieren: "Österreich möchte seinen zweiten Platz als westlicher Handelspartner der DDR behalten und ist gewillt, daß seine [sic!] dafür zu tun; wie z. B. breite Unterstützung der mittelständischen Betriebe in der DDR, Kapitalfluß in neue private Unternehmen und jede Menge Erfahrungen für diesen Teil der Wirtschaft."
Vranitzky betonte später insbesondere seine Kontakte zu Kohl im Vorfeld dieses Besuches, und dass die Idee zu diesem Staatsbesuch von der DDR ausgegangen war. Kohl soll "hocherfreut" gewesen sein und gesagt haben, dass der Besuch "der Entspannungspolitik nur guttun" könne. Vranitzky meinte, dass er "keine Lust" gehabt habe, in "deutsch-deutsche Annäherungskonkretisierungen verwickelt zu werden." Den Besuch selbst bewertete Vranitzky als "konstruktiv", die "österreichischen Unternehmen mit starker Marktpräsenz in der DDR waren […] zufrieden." Auch Modrow erwähnte den Besuch in seinen Memoiren, bewertete diesen grundsätzlich positiv, äußerte sich aber nicht zur Haltung Vranitzkys zur Deutschlandfrage. Deutlich kritischer zeigte sich die Medienlandschaft: In der österreichischen Tageszeitung Die Presse machte sich der damalige Ressortleiter Außenpolitik, Andreas Unterberger, Gedanken über die Rolle Wiens als neue Drehscheibe Europas. Er meinte, dass vor allem die Staaten des früheren Ostblocks "Hoffnungen auf Wien setzen". Hinsichtlich des Besuchs von Modrow betonte Unterberger jedoch, dass man "hätte davon ausgehen müssen, daß ein Modrow oder gar noch ein unter Honecker aktiv gewesener Außenminister Fischer bald vom Fenster weg sein werden" und dass "allzugroße Innigkeit mit ihnen kein gutes Entree bei den Nachfolgern bringt."
Andauernde Uneinigkeit der österreichischen Regierungsspitze
Nach dem Besuch von Modrow zeichnete sich immer konkreter ab, dass es zu einer Einheit kommen und dass diese nicht lange auf sich warten lassen würde. Dabei wurde auch von Österreich über die Auswirkungen auf die weltpolitischen Konstellationen nachgedacht. Bei einem Gespräch mit dem sowjetischen Botschafter in Wien, nur wenige Tage nach der Publikation des "Drei-Stufen-Plans" durch Modrow, der auf eine Neutralisierung eines vereinigten Deutschlands hinauslief, meinte Mock, dass "keine Verschiebung des Gewichts der militärischen Allianzen erfolgen sollte. Andererseits wäre auch eine Entlassung Deutschlands aus seinen Bindungen durch Neutralisierung gefährlich." Einer Umwandlung Deutschlands in einen neutralen Staat mit einem ähnlichen Status wie Österreich oder die Schweiz ihn haben stand er also deutlich ablehnend gegenüber. Dies hatte möglicherweise damit zu tun, dass sich seine eigene Partei, die ÖVP, bereits 1983 dafür ausgesprochen hatte, die "selbstverständliche Zugehörigkeit [Österreichs] zu den freien westlichen Demokratien deutlicher (zu machen)" und sich die Partei bald darauf offiziell für eine NATO-Mitgliedschaft aussprach. Wie also hätte Mock für einen Austritt der Bundesrepublik aus diesem Militärbündnis argumentieren sollen? Gegenüber den österreichischen Medien wurde er noch deutlicher: Er bezeichnete diese Idee als "irreal". Abermals ergab sich hier eine Gegenposition zur SPÖ, die auch eine NATO-Mitgliedschaft Österreichs ablehnte. Deren Klubobmann Heinz Fischer meinte:
"es könne aus österreichischer Sicht keinen zwingenden Grund geben, eine sorgfältige Prüfung des Modrow-Planes einschließlich seiner Überlegungen betreffend eines neutralen Status für ein vereinigtes Deutschland zu verweigern, obwohl die Neutralität eines so großen und potenten Staates wie Deutschland erhebliche Probleme aufwirft und eine Reihe flankierender Maßnahmen erfordern würde."
Der Politologe Peter Pelinka warf Mock in der österreichischen Arbeiter-Zeitung vor, Probleme mit der eigenen Neutralität zu haben und deshalb eine Neutralisierung Deutschlands abzulehnen. Klar für eine solche sprach sich der KPÖ-Vorsitzende Walter Silbermayr aus: "Ein friedliches Europa braucht heute mehr statt weniger Neutralität."
In der ersten Februarhälfte deutete sich eine Änderung der Haltung von Vranitzky an. In der Plenarsitzung des Weltwirtschaftsforums in Davos am 4. Februar 1990 meinte er, dass niemand das Recht habe, "die Deutschen an der Vereinigung zu behindern oder Vorbehalte dagegen zu entwickeln". Er meinte jedoch auch, dass die Ängste bei den europäischen Nachbarn ernst zu nehmen seien und deshalb der KSZE-Prozess fortzusetzen und auszubauen sei. Wenige Tage später machte er in einem Interview deutlich, dass "Österreich die Bestrebungen um eine Vereinigung der beiden deutschen Staaten mit Sympathie und Gelassenheit verfolgt und auch nicht die Befürchtung hegt, daß davon eine Gefährdung der Nachbarstaaten oder eine Destabilisierung der Lage in Europa ausgehen könnte." Die Linie von Vranitzky schien damit neu definiert und den offenkundig nicht aufzuhaltenden Entwicklungen angepasst worden zu sein, auch wenn er eine gewisse Skepsis wohl nicht so bald verlor. So berichtete ND im Mai 1990, dass der österreichische Kanzler Bedenken zu einer "allzu raschen Währungs- und Wirtschaftsunion" geäußert habe.
Mitte April 1990 erwartete das österreichische Außenministerium bereits eine baldige Wiedervereinigung. Das Ergebnis der Volkskammerwahlen vom 18. März 1990 und die Bildung der Regierung de Maizière wurden als Voraussetzung hierfür angesehen, und man war sich bewusst, dass ein "[ü]berwiegender Teil der Bevölkerung für [eine] möglichst rasche Vereinigung" war. Mock meinte zum Ausgang der Wahlen, dass mit diesem Votum "die gefährliche Sprengkraft einer geteilten Nation" aus der politischen Landschaft Europas verschwinde, wie die Neue Zeit am 20. März 1990 berichtete. Neben Mock wurden auch Japans Premierminister Toshiki Kaifu, der den "Wahlsieg der 'Allianz für Deutschland' in der DDR als 'ein außerordentlich bemerkenswertes Resultat'" bewertete, "da dieses Bündnis eine positive Haltung zur schnellen Vereinigung Deutschlands eingenommen habe" und EG-Kommissionspräsident Jacques Delors zitiert, der ebenfalls betonte, dass das Wahlergebnis "die Hoffnung auf eine schnelle Wiedervereinigung zum Ausdruck [bringe], wie sie Bundeskanzler Helmut Kohl versprochen habe." Margaret Thatcher wurde hingegen mit dem Statement zitiert: "Wir sehen der Errichtung einer demokratischen Regierung in Ostdeutschland hoffnungsvoll entgegen, und wir wünschen mit ihr zusammenzuarbeiten", und der Sprecher des polnischen Außenministers Wladyslaw Klaczynski habe betont, so die Neue Zeit, dass das Wahlergebnis die Haltung Polens nicht verändern werde.
Ebenfalls im April 1990 sprach der damalige Generalsekretär des österreichischen Außenministeriums Thomas Klestil mit diversen Vertretern der bundesdeutschen Regierung in Bonn. Von Staatssekretär Jürgen Sudhoff erfuhr er, dass man in der Bundesrepublik "die positive österreichische Haltung zur Deutschen Vereinigung mit großer Freude zur Kenntnis genommen" habe. Wichtige Informationen erhielt er ebenso von Kohls Berater Horst Teltschik. Dieser betonte "Nicht KOHL sei die 'Dampfwalze', sondern die Bevölkerung in der DDR sei ungeduldig! … Die SU [Sowjetunion] werde sich wundern, wie schnell das alles gehen werde. Die BRD habe keine Zeit zu verlieren!"
Letzte Besuchskontakte
Die Besuchsdiplomatie mit der DDR sollte dennoch weiter fortgeführt werden: Auf Einladung der damaligen österreichischen Ministerin für Unterricht, Kunst und Sport, Hilde Hawlicek, kam Mitte Juli 1990 – wenige Tage nach dem entscheidenden Treffen von Helmut Kohl und Michail Gorbatschow im Kaukasus – DDR-Kulturminister Herbert Schirmer nach Wien. Die Gespräche führten zur Vereinbarung einiger Kulturaustauschprojekte, die noch bis Ende des Jahres 1990 verwirklicht werden sollten. Zu den Vereinbarungen, die "ungewöhnlich schnell ‚vor Torschluss’ getroffen wurden", wie Schirmer zu Journalisten meinte, zählten eine Filmwoche in Wien ab 29. September, österreichische Filmwochen in Berlin und Dresden im November und ein Treffen von Literaturverlegern am 21. September. Im Résumé-Protokoll zum Arbeitsgespräch der beiden Minister wurde schließlich festgehalten: "Sowohl Kulturminister Schirmer als auch Frau BM Dr. Hawlicek äußerten ihr Interesse an einer weiteren Zusammenarbeit, unabhängig davon, ‚wie das heutige Gebiet der DDR heißen wird.’" Vereinbart wurde schließlich auch die Aufnahme von Arbeiten für eine Gemeinschaftsausstellung von Künstlern beider Länder, wie bereits im Kulturübereinkommen festgehalten. Es wurde angedacht, diese im Frühjahr 1991 zu eröffnen und eventuell in die Wiener Festwochen einzubinden.
Österreich, in dem Falle das Ministerium für Unterricht, Kunst und Sport, scheint also nach wie vor um eine Fortführung der Beziehungen bemüht gewesen zu sein. Auch zu einem Zeitpunkt, als nur mehr darüber diskutiert wurde, wann und nicht mehr ob es zu einer Einheit der beiden deutschen Staaten kommen werde, wurden mit Vertretern der DDR konkrete Vereinbarungen getroffen. Mit welchem Ziel? Vielleicht befürchtete man, dass derartige Projekte mit der vereinigten Bundesrepublik nicht möglich sein würden, zumal mit der Bundesrepublik kein Kulturabkommen existierte.
Auch auf höchster Ebene gab es im Sommer 1990 noch einen Besuch: Der neu gewählte DDR-Ministerpräsidenten Lothar de Maizière kam am 25. Juli 1990 nach Wien. Diese Begegnung stand jedoch schon ganz im Zeichen der bevorstehenden deutschen Einheit und diente der österreichischen Seite wohl auch als Quelle für Einschätzungen der weiteren Entwicklung. Im Außenamt wurde im Vorfeld des Besuches von de Maizière bilanziert, dass die Vereinigung noch vor Jahresende zu erwarten sei. Die Einigung über die Eckpunkte der Einheit wurde als Wegbereiter "für die angestrebte Errichtung einer neuen politischen Architektur in Europa" gesehen. Die Einigung von Kohl und Gorbatschow im Kaukasus war auch in den Medien positiv kommentiert worden. Burkhard Bischof hatte etwa in der Zeitung Die Presse gemeint:
"Kohl und Gorbatschow haben mit ihren jüngsten Vereinbarungen vor allem den gesamteuropäischen Prozeß einen wichtigen Anstoß gegeben, ja diesen beschleunigt. Sie sollten sich nicht irritieren lassen, wenn es in ihren eigenen Ländern wie außerhalb jetzt gewiß wieder zahlreiche Kritiker geben wird, denen die gewählte Gangart viel zu schnell ist."
Ähnlich fiel auch die Bewertung von Vranitzky – nun scheinbar auf der Linie seines deutschen Amtskollegen und der seines Vizekanzlers – aus: Er bezeichnete in seiner Tischrede die Einigung Deutschlands als Ereignis "größter politischer Tragweite. Sie verkörpert wie kein anderes Ereignis die Überwindung der Teilung unseres Kontinents." Allerdings betonte er auch bei dieser Begegnung – ganz im Sinne seiner bisherigen DDR-Politik –, dass die österreichische Wirtschaft "sehr daran interessiert [sei], sich in der DDR zu engagieren". Wie die beiden Staatsmänner betonten, galt es, die bislang staatlich geregelten Wirtschaftsbeziehungen auf die betriebliche Ebene zu verlagern. Hinter der Fortsetzung der Besuchsdiplomatie standen also offenkundig auf beiden Seiten wirtschaftliche Überlegungen. Botschafter Binder hatte bereits im Vorfeld des Besuches von de Maizière darauf hingewiesen, dass auch die Firmen in der DDR "allerhöchstes Interesse" daran hätten, "ihre Beziehungen zu österreichischen Unternehmungen aufrechtzuerhalten, ja auszubauen." Allerdings seien Fälle bekannt, dass "DDR-Firmen erklärt haben, von ihren westdeutschen Partnern abgehalten worden zu sein, mit österr. Firmen zu kooperieren".
Reaktionen zum 3. Oktober 1990
Die österreichischen Reaktionen auf den "Tag der Deutschen Einheit" folgten größtenteils der allgemeinen Jubelstimmung. Vranitzky sprach von einem "Tag der Genugtuung, der Freude und der Hoffnung", mit dem nicht nur eine jahrzehntelange schmerzliche und unnatürliche Trennung unseres Nachbarlandes, sondern darüber hinaus auch eine Nachkriegsordnung zu Ende [gehe], die durch Gegensatz und Mißtrauen gekennzeichnet war." Allgemeines Befremden löste die Aktion des Wiener Bürgermeisters Helmut Zilk aus, der am Rathausturm die Fahne der Bundesrepublik hisste: Die Aktion wurde parteiübergreifend und auch von Historikern kritisiert.
Die österreichischen Medien waren voll mit Berichten über die Feiern in Berlin. Der Standard versuchte mit einer Blitzumfrage verschiedene Persönlichkeiten aus unterschiedlichen gesellschaftlichen Bereichen zur deutschen Einheit zu befragen, musste aber in seiner Ausgabe vom 3. Oktober 1990 berichten, dass viele dazu keine Stellungnahme abgeben wollten – vielleicht ein Ergebnis der im Verlauf des Jahres 1990 nicht nur in Österreich immer wieder geäußerten Befürchtungen, dass ein "Viertes Reich" entstehen könne, obwohl von der bundesdeutschen Regierung immer wieder der Wille zur weiteren Eingliederung in Europa betont worden war. Der Journalist, Verleger und Diplomat George Weidenfeld hatte die Leser des Standard bereits Anfang Februar unter anderem mit dem Hinweis auf sinkende Geburtenraten in beiden deutschen Staaten zu beruhigen versucht, weshalb nicht zu befürchten sei, dass es ein neues Bedürfnis nach Ausweitung des Lebensraumes oder den Wunsch, verlorene Gebiete zurückzugewinnen, entstehen werde.
Die im Standard am Tag der Deutschen Einheit abgedruckten Statements von Prominenten zeigen, dass die Österreicher dennoch teilweise skeptisch blieben, und nicht alle die insbesondere über die Bilder aus Berlin verbreitete Jubelstimmung teilten. Der Parteivorsitzende der FPÖ, Jörg Haider meinte etwa, dass die Einheit Deutschlands eine "Chance für Österreich" sei, denn Deutschland sei "zwar reich und groß, aber kulturlos. Die Kultur kommt aus Österreich." Der Architekt und Karikaturist Gustav Peichl meinte kritisch: "Eigentlich war die Einheit notwendig. Zum anderen aber gibt es viele Dinge, die notwendig sind, aber nicht nur nützlich. Ob die Einheit zum Nutzen Deutschlands und Europas sein wird, wird sich erst zeigen." Richtiggehende Ängste schürte der Grünen-Politiker Peter Pilz mit der Aussage "Ich fürchte mich jetzt vor dem deutschen Anschluß." Ähnlich äußerte sich Susanne Sohn von der KPÖ: "Ich habe das Gefühl einer Bedrohung, wir müssen jetzt unsere Unabhängigkeit und Selbständigkeit behaupten." Der Architekt Hans Hollein wiederum kommentierte das Ereignis mit "Deutschland, Deutschland über alles", der ersten Zeile der ersten Strophe des Deutschlandliedes, welche auch von den Nationalsozialisten verwendet wurde. Ob ihm diese Tatsache bekannt war und ob er damit auf vergangene Großmachtansprüche Deutschlands anspielte oder nur Jubelstimmung ausdrücken wollte, muss offen bleiben. In eine ganz andere Richtung dachte der damalige Wirtschaftsminister Wolfgang Schüssel (ÖVP), der die Einheit Deutschlands als einen "positiven Impuls für die österreichische Exportwirtschaft" ansah und meinte, dass diesem Ereignis für die wirtschaftliche Entwicklung Europas "und ganz besonders Österreichs" große Bedeutung zukomme.
Schlussbemerkung
Ein Blick auf die Jubiläumsfeierlichkeiten in den Jahren 1999 und 2009 zeigt, dass die Befürchtungen des Jahres 1990 bald vergessen waren und in Österreich überaus positive Narrative zum Jahr 1989 (und auch zur deutschen Einheit) entstanden. Auch die österreichische Bevölkerung beurteilte die deutsche Einheit überwiegend positiv, wie eine Umfrage Anfang der 1990er-Jahre zeigte. Die Sympathiewerte für das wiedervereinigte Deutschland sind über 20 Jahre nach der Verwirklichung der deutschen Einheit höher als für die alte Bundesrepublik und viel höher als für die DDR. Im Vergleich zu anderen zentralen Ereignissen seit 1989 schreibt die österreichische Bevölkerung dem deutschen Einigungsvertrag von 1990 aber relativ geringe Bedeutung für Österreich zu.
Betrachtet man die verschiedenen Reaktionen der österreichischen Akteure auf die sich ab dem November 1989 ankündigende deutsche Einheit, dann trifft die Einschätzung von Botschafter Bauer zu: "Österreich hat weder gegen die deutsche Wiedervereinigung agitiert, noch haben wir sie besonders begrüßt". Die Analyse hat gezeigt, dass sich insbesondere die ÖVP und ihr damaliger Parteivorsitzender Mock schnell für die Linie aussprach, die von Kohl Ende November 1989 mit seinem Zehn-Punkte-Programm vorgegeben worden war, und die Einheit Deutschlands als Chance zur Überwindung der Blockkonfrontation in Europa betrachtete. Auch (der infolge der Debatte um seine NS-Vergangenheit umstrittene) Bundespräsident Kurt Waldheim (ÖVP) vertrat diese Meinung und bezeichnete die "Vereinigung der beiden deutschen Staaten als eine Markierung der Überwindung der Teilung Europas und der Ost-West-Konfrontation". Die Haltung der ÖVP ist als logische Fortsetzung der Bemühungen der Partei zur Überwindung der Systemgegensätze in Europa zu sehen. Neben Mock hatte sich insbesondere Erhard Busek in den 1980er-Jahren in den osteuropäischen Nachbarstaaten engagiert und Kontakte zu Dissidenten gepflegt. Bundeskanzler Vranitzky entschied sich hingegen (zunächst) dafür, die DDR – insbesondere symbolisch in Form von Besuchskontakten – weiter zu unterstützen, was, wie der damalige bundesrepublikanische Botschafter in Wien, Dietrich Graf von Brühl, in einem Interview betonte, viele in der Bundesrepublik und insbesondere Kohl sehr geärgert hatte.
Bis zum Sommer 1990 pflegte die österreichische Außenpolitik die Kontakte zur DDR in möglichst normalen und freundlichen Bahnen, was unter anderem der Besuch von DDR-Kulturminister Schirmer Mitte Juli zeigt, als die Weichen bereits ganz klar in Richtung deutsche Einheit gestellt waren. Die Bewertungen der Staatsspitze am 3. Oktober waren allesamt positiv. Verschiedene Oppositionelle und Personen des öffentlichen Lebens äußerten jedoch Befürchtungen hinsichtlich neuer Großmachansprüche der neuen Bundesrepublik, was darauf hindeutet, dass "Anschlussbefürchtungen" in Österreich nie ganz überwunden wurden, und den Eindruck bestätigt, dass die Bundesrepublik Österreichs "verfreundeter Nachbar" ist.
Der Text basiert auf Forschungen im Rahmen des vom Zukunftsfonds der Republik Österreich finanzierten und bei der Dr.-Wilfried-Haslauer-Bibliothek angesiedelten Forschungsprojekts mit dem Titel "Offene Grenzen, neue Barrieren und gewandelte Identitäten. Österreich, seine Nachbarn und die Transformationsprozesse in Politik, Wirtschaft und Kultur seit 1989". Für die Ermöglichung neuer Aktenzugänge sei an dieser Stelle sehr herzlich Ministerialrat Dr. Gottfried Loibl sowie Mag. Eva Wotawa-Hahlheimer gedankt.
Zitierweise: Andrea Brait, "Österreich hat weder gegen die deutsche Wiedervereinigung agitiert, noch haben wir sie besonders begrüßt". Österreichische Reaktionen auf die Bemühungen um die deutsche Einheit, in: Deutschland Archiv, 23.9.2014, Link: www.bpb.de/191601