Der Anfang (fast) mit dem Ende: Eine Farce an der Grenze
Dass in Deutschland, dem Land der Dichter und Denker, eine prosaische Bürokratie regiert, musste Helga M. Novak im Herbst 2004 am eigenen Leib erfahren: Als die deutsche Dichterin, die sich Ende der 1980er Jahre in die polnischen Wälder zurückgezogen hatte, in ihre Heimat zurückkehren will, gilt sie der Obrigkeit als erwerbslose Ausländerin ohne festen Wohnsitz, die keiner Aufenthaltsgenehmigung, geschweige denn eines deutschen Passes würdig sei. Die Behörden vermuten, dass die – Zitat Wolf Biermann – "größte lebende Dichterin in Deutschland" sich deutsche Sozialleistungen erschleichen möchte.
Die frühen Lehrjahre: Adoptivelternhaus, Vater Staat und Mutter Partei
Damit ist ein Grundzug einer (Werk-)Biografie umrissen, die sich in Zu- und Abneigung, in Annäherung und Distanzierung um dieses "'Vater'land" dreht – und das, buchstäblich, von der Wiege an. Geboren 1935, verbringt Helga M. Novak die ersten 18 Monate ihres Lebens in einem Heim für elternlose Kinder in Berlin, bis sich ein kinderloses, nazihöriges Ehepaar ihrer annimmt, das eine strenge preußische Erziehung mit einem Unmaß an Kälte paart. Nach Kriegsende flieht die Heranwachsende aus der Gewalt des Adoptivelternhauses in die Arme von Vater Staat und Mutter Partei, eines neuen Staats und einer neuen Partei selbstverständlich: Sie tritt in die sozialistische Freie Deutsche Jugend (FDJ) ein und zieht sechzehnjährig in ein Kaderinternat der DDR. Wie viel Hoffnung, wie viel Rettung in diesem Weg steckt, veranschaulicht Novaks erster autobiografischer Roman, der 1979 unter dem Titel "Die Eisheiligen" erscheint:
"Hier fühle ich mich wohl. Hier brauchen sie mich. Hier werde ich anerkannt. Hier ist Aussicht auf Leben. Hier werde ich nicht unterworfen, hier bin ich nicht unterwürfig. Hier sind wir freundlich zueinander. Hier ist nicht alles umsonst. Hier ist Hoffnung. Hier lerne ich für den Sozialismus. Hier wird auf jeden von uns gebaut. Hier hat die Finsternis ein Ende. Hier wird gemeinsam gegessen. Hier wird auf das Leben losgegangen. Hier haben alle Schläge ein Ende. Hier bin ich nicht einsam. Hier hat die Angst ein Ende. Hier komme ich zu mir. Hier fange ich bei mir selber an. Hier wird nicht vorgeworfen und gedroht und erpreßt und bestraft. Hier ist Zuversicht. Hier bin ich richtig."
Die späten Lehr- und frühen Wanderjahre: Debüt als Dichterin und Ausbürgerung
Allerdings geht in der journalistischen Kaderschmiede nicht alles seinen geplanten Gang. 1957 tritt Novak, enttäuscht über die Haltung der SED zum Ungarn-Aufstand, aus der Partei aus, wird exmatrikuliert und flüchtet mit ihrem isländischen Freund, der zum Studium in die DDR gekommen war, nach Reykjavík. Damit – und mit einer in der isländischen Handelsvertretung der DDR abgegebenen Selbstkritik, für die sie im Gegenzug das Versprechen erhält, bei einer Rückkehr nicht wegen Republikflucht ins Gefängnis zu müssen – beginnen ihre Wanderjahre. Über Island, Ostberlin, Island, Süditalien, Westdeutschland und noch einmal Island, nach Arbeit in einer Fernsehröhrenfabrik, als Heringssalzerin und in einer Teppichweberei, nach einer Heirat, einigen Liebschaften und der Geburt ihrer beiden Kinder, kehrt sie 1965 schließlich nach Leipzig zurück, ans Literaturinstitut Johannes R. Becher, wo der sozialistische Schriftstellernachwuchs ausgebildet werden soll. Sie hofft auf kulturelles Tauwetter, spielt aber letztendlich die Hauptrolle in einer Tragikomödie: Für die gleichen Gedichte, mit denen sie sich beim Becher-Institut erfolgreich beworben hatte, wird sie 1966 aus der DDR ausgebürgert. Dass die SED-Führung die letztmögliche Konsequenz zieht, hat aber noch einen weiteren Grund: Novak unterhält eine enge Beziehung mit Robert Havemann, der als Regimekritiker 1964 aus der Partei ausgeschlossen worden war und 1965 Berufsverbot erhalten hatte.
Die Texte, die für das "Leseland DDR" offenbar zu gefährlich sind, können zumindest die westdeutschen Leserinnen und Leser mittlerweile schwarz auf weiß einsehen. 1965 war nämlich Novaks Debüt mit dem Titel "Die Ballade von der reisenden Anna" ausgerechnet im Luchterhand Verlag erschienen – ausgerechnet, weil das in Neuwied und Westberlin angesiedelte Unternehmen der Stammverlag von Günter Grass ist, der in der DDR-Kulturpolitik als "die literarische Unperson par excellence" gilt.
Diese undogmatisch linke Schnoddrigkeit ist offensichtlich auch für die (westlichen, männlichen) Literaturkritiker zu viel. Stellvertretend sei der erst 22-jährige Lothar Baier zitiert, der sich später als exzellenter Kenner der DDR-Literatur einen Namen machen sollte. Sein Urteil über die "dümmliche[n] Invektiven", die in einer simplifizierenden, also verfälschenden Sprache verfasst seien, lautet: "Dem Rezensenten will scheinen, als habe sich der Verlag über einer imponierenden Biographie in der Bewertung seiner Autorin vergriffen. Es ist alles so gut gemeint in diesen Gedichten, aber, mit wenigen Ausnahmen, so schlecht gemacht."
Helga M. Novak und ihre Dichtung in der literarischen Öffentlichkeit
So entwickelte sich Helga M. Novak zu einer Schriftstellerin, die von ihren Kollegen und einem kleinen Fachpublikum hochgeschätzt, in der literarischen Öffentlichkeit aber kaum wahrgenommen wurde – und wenn, dann eher kritisch. Das hatte im Wesentlichen drei interdependente Gründe:
Erstens: Novak verweigerte sich der Kulturindustrie und ihren Normen. Selbst wenn sie geehrt werden sollte, entzog sie sich. Als sie beispielsweise 1968 den Bremer Literaturpreis erhielt, verließ sie ohne Dankesrede den Saal. Das war sicher ein Grund, warum Novak in den Folgejahren bei Preisverleihungen übergangen wurde.
Zweitens: Novak verletzte. Ihre Texte waren inhaltlich ungeniert und sprachlich rabiat, handelten von den Ausgestoßenen, Verlierern und Erniedrigten, passten zudem nicht ins Formgefüge der wechselnden literarischen Moden. In ihrer Wahrheitssucht war sie rücksichtlos, auch gegen sich selbst. Deswegen wirkte ihre Lyrik, so erklärte der 15 Jahre jüngere Autor Jürgen Fuchs, wie ein poetischer Vorschlaghammer, der den kleinen, gemütlichen Frieden zertrümmert, die Selbstlügen und faulen Kompromisse.
Drittens: Auch in der Lebenswelt der Bundesrepublik kam sie nie so richtig an, fügte sich nicht, blieb anarchisch, rebellisch. Zwar stürzte sie sich nach ihrer Ausbürgerung mit ihrem Gefährten Horst Karasek optimistisch in den Frankfurter Häuserkampf, wovon die 1970 erschienene Dokumentation "Wohnhaft im Westend" berichtet. Doch überwog bald die Enttäuschung über die konservative Trägheit der bürgerlich-kapitalistischen Gesellschaft und die Staatsgewalt des Westens, die ihr nicht freundlicher als die im Osten erschien. Das, was Novak als Heimat empfand, im geografischen und utopischen Sinn, lag in der DDR. So hieß es beispielsweise in ihrem Gedicht "Bekenntnis", geschrieben 1966, aber ungebrochen aktuell: "ich bin deutsch und nicht nur / der Sprache nach / ich bin ostdeutsch solange / die Pfähle nicht morschen / solange Mißtrauen und Spitzel / die hausgemachten Soßen würzen / sitze ich an der kahlen Seite des Tisches // ich bin ostdeutsch und ziehe / einen Klumpen Hoffnung hinter mir her".
Die späten Wanderjahre: Anerkennung und Eigensinn
Als 1975 ihre "Balladen vom kurzen Prozess" im Rotbuch Verlag erscheinen, hatte sich Novak mal wieder aus Deutschland verabschiedet, in diesem Fall, um die Nelkenrevolution in Portugal mitzuerleben. Davon zeugt 1976 die "Landnahme von Torre Bela". Den Deutschen Herbst erlebt sie 1977 im nordbayrischen Zonenrandgebiet. Was die dort manifestierte staatliche Spaltung für sie bedeutet, lässt das Gedicht "Versuchsfeld" erahnen: "Grenze bei jedem Wetter und ich denke / die ist längst durch mich hindurchgewachsen / ich fühle direkt die Spieße die Pfähle im Fleisch".
Ein größeres Publikum erreichen diese Verse noch immer nicht. Wolf Biermann, zehn Jahre nach Novak aus der DDR ausgebürgert, doch als Medienprofi auf beiden Seiten der Mauer ungleich populärer, schreibt in diesem Sinne 1979 über seine Kollegin: "[D]iese Dichterin ist schlimmer als nur verkannt und ist schlimmer als nur vergessen. Sie blieb einfach unbemerkt – nicht den Literaten, aber für die schreibt sie wohl nicht."
Obwohl Novak mit ihren autobiografischen Romanen, mit einer höchst eigenwilligen Prosaform also, erstmalig breite Anerkennung erfährt, konzentriert sie sich anschließend wieder auf ihr lyrisches Werk. 1983 erscheint mit "Grünheide Grünheide" ihre ganz eigene "Heimatdichtung", 1985 dann die sibirische Traumreise "Legende Transsib". Doch steht sie damit wieder am Rand des deutschsprachigen Literaturbetriebs, in poetischer Hinsicht, bald auch wieder in geografischer: Sie lebt für einige Zeit im jugoslawischen Korčula, bevor sie in die polnische Woiwodschaft Kujawien-Pommern umsiedelt, die sie landschaftlich an ihre märkische Heimat erinnert. Von dort aus verfolgt sie die Vereinigung der beiden deutschen Staaten. Als sich einige ihrer Schriftstellerkollegen über die Stasi-Dienste anderer Kollegen echauffieren und eine Verdächtigungswelle durch die geeinte Republik schwappt, schreibt Novak im Spiegel an Wolf Biermann, Jürgen Fuchs und Sarah Kirsch:
"Wenn schon, denn schon – ich war auch mal ein Spitzel! […] Die Scham beißt ein Leben lang, aber sie ist auch eine energische Lehrerin. Ihr seid auch mal in der Partei gewesen, genau wie ich. Zwar habe ich mir erlaubt auszutreten, was damals ('57) noch verboten war, doch Komplizen waren wir alle. Das kriegt Ihr nie raus, was ich alles weiß über Leute, mit denen wir befreundet sind. Und eher will ich im polnischen Wald verbluten, als mich auf einen deutschen Richterstuhl setzen."
Die doppelte "Heimkehr": Obdach und Verwilderung
Ein Lebenszeichen aus den polnischen Wäldern erscheint 1997 im Schöffling Verlag, der sich der unbequemen Autorin mittlerweile angenommen hat. In "Silvatica" schlägt Novak einen neuen Ton an, schreibt über ein archaisches Leben, beschreibt Obdach und Verwilderung. Beides ist im famosen Gedicht "dieser Wald" zu spüren: "dieser Wald in dem ich nie alleine bin mit meiner / heilsamen Einsamkeit dieser Wald aus Jagen und Revieren / der sich hinzieht wie alte Liebe und streichelt / die gefurchte Stirn mein Heim und dauerndes Versteck".
Unter den polnischen Partisanen scheint die deutsche Partisanin schließlich zur Ruhe zu kommen, bis sie, auch wegen einer schweren Krankheit, 2004 nach Deutschland zurückkehrt – womit wir wieder bei der lumpigen Farce angelangt sind. Dass es in ihrem Leben und Werk aber keinen Seelenfrieden geben konnte, zeigen die letzten Zeilen des Gedichts "zerfallen": "wieviel Herzen habe ich pochen hören / Seelen keine und ich wünsche niemand / erlitte die Qual eine Art Herberge / meiner Seele später zu werden solche / Strafe hat wirklich keiner verdient / mein Herz aber wird zerfallen schade".
Zitierweise: Konstantin Ulmer, Ungebunden, ungehorsam, ungezügelt. Zum Leben und Werk der Dichterin Helga M. Novak, in: Deutschland Archiv Online, 07.03.2014, Link: http://www.bpb.de/180114