Die Aufnahme der ersten "boat people" in die Bundesrepublik
Julia Kleinschmidt
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Ende 1978 beschloss die Bundesrepublik südvietnamesische Flüchtlinge in großer Zahl aufzunehmen. Vorangegangen war eine intensive mediale Berichterstattung über das Elend der sogenannten "boat people". Damit den 40.000 Vietnamesen lange Asylverfahren erspart blieben, wurde die Kategorie der "humanitären Flüchtlinge" geschaffen. Julia Kleinschmidt über eine Zäsur in der bundesrepublikanischen Menschenrechts- und Flüchtlingspolitik.
"Das kann man ja nicht ertragen." Mit diesen Worten bekräftigte der niedersächsische Ministerpräsident Ernst Albrecht seinen Entschluss, südvietnamesische Flüchtlinge von der Küste Malaysias aufzunehmen. Am 3. Dezember 1978 wurden die ersten 163 der sogenannten "boat people" in die Bundesrepublik Deutschland eingeflogen und in das südniedersächsisch gelegene Grenzdurchgangslager (GDL) Friedland gebracht. Sie gehörten zu den zumeist ethnisch chinesischen Flüchtlingen, die auf dem überfüllten und maroden Frachtschiff Hai Hong vor Malaysia ausgeharrt hatten und denen bis dato verweigert worden war, an Land zu gehen. Ihr Schicksal hatte erst wenige Wochen zuvor die mediale Aufmerksamkeit auf sich gezogen und einen in Westdeutschland ungeahnten zivilgesellschaftlich forcierten Aktivismus hervorgerufen, wie zuletzt der Biafra-Konflikt. Die mediale Präsenz der indochinesischen Flüchtlingskatastrophe führte zu einer Solidarisierungswelle ganz unterschiedlicher Gesellschaftsgruppen, die bis heute die Geschichte der humanitären Hilfe und die Rolle der Vietnamesinnen und Vietnamesen als Gruppe der geglückten Integration im bundesdeutschen kollektiven Gedächtnis prägt.
Die katastrophalen hygienischen Zustände und die Enge vor Ort waren die zentralen Umstände, auf die sich die Berichterstattung konzentrierte und welche lautstarke Empörung bei karitativen Verbänden, Politikern und Politikerinnen und einzelnen Bürgerinnen und Bürgern hervorgerufen hatte. So beschrieb Der Spiegel im November die Situation auf dem Flüchtlingsschiff: "Eine Gestankwolke aus Urin, Kot und Schweiß umgibt das Schiff. Menschen erleichtern sich an der Reeling, andere liegen reglos auf dem verrosteten Eisendeck des verfallenen Frachtschiffs." Das Leid der Geflohenen auf überfüllten kleinen Booten, ihr ohnmächtiges Warten auf eine Einreiseerlaubnis oder in überfüllten Lagern an der Küste Thailands und Malaysias ebenso wie auf sogenannten "Lagerinseln" teilten hunderttausende Vietnamesinnen und Vietnamesen und - wenn auch weniger prominent - Laotinnen und Laoten sowie Kambodschanerinnen und Kambodschaner in den Jahren von 1975 bis 1986. Nach den Statistiken der Aufnahmeländer ist davon auszugehen, dass mithilfe internationaler Aktionen über eine Million Menschen gerettet werden konnten, viele ungezählte jedoch ertranken oder starben in den Booten und Lagern. Während Frankreich und die USA aufgrund ihrer Kriegsbeteiligungen eine besondere Verantwortung gegenüber den Gegnern des Nordens sahen und große Kontingente zur Aufnahme bereitstellten, wurde auch seitens der Bundesrepublik Deutschland das anfängliche Aufnahmekontingent von 10.000 auf 38.000 Menschen erhöht.
Nicht nur die radikale Linke kritisierte den Krieg in Vietnam, auch die Bundesregierung hatte das Thema seit den 1960er Jahren erkannt und zum außenpolitischen Thema erhoben. Sie sandte neben dem Hospitalschiff "Helgoland", welches im Jahr 1965 nach langem Ringen um das Ausmaß der Beteiligung Westdeutschlands in den Vietnamkrieg nach einem Bundestagsbeschluss vor der südvietnamesischen Küste stationiert wurde, auch etablierte Wohltätigkeitsorganisationen wie die Caritas, die evangelische Diakonie und das Rote Kreuz in den Süden Vietnams. Nachdem die nordvietnamesische Armee die südliche Hauptstadt Saigon im Jahr 1975 eingenommen hatte, zog die Bundesrepublik ihre Vertreterinnen und Vertreter jedoch offiziell aus Vietnam zurück und die meisten karitativen Organisationen ihre Helferinnen und Helfer vor Ort ab.
Emotionalisiertes Schicksal
Die Aufmerksamkeit, die dem Schicksal der Flüchtlinge zuteil wurde, lässt sich durch verschiedene Entwicklungen erklären. Als nach dem Sieg der Viet-Kong im Jahr 1975 die Flüchtlingsbewegungen in die umliegenden Staaten Vietnams gravierend zunahmen, kam es durch eine breite mediale Aufmerksamkeit zu einer umfassenden Skandalisierung der Folgen des Vietnamkriegs. Als die Menschen Ende der 1970er immer häufiger ihren Fluchtweg über das offene Meer wählten, um nach Malaysia, Indonesien, Singapur oder Hongkong zu gelangen, gerieten sie in internationale Gewässer und wurden somit zu einer Angelegenheit der Vereinten Nationen und der Staaten, unter deren Flagge Schiffe in diesem Gebiet verkehrten. Durch verbessertes Mediengerät und Mobilität der Journalistinnen und Journalisten fand das Geschehen vor Ort seinen Weg in die Abendnachrichten. "Das tropisch-malerische Elend dieser Flüchtlinge aus Vietnam unterhält - auf seine Weise - die westliche Welt: Wie einst den Krieg in Indochina, so transportierte das Fernsehen auch das Flüchtlingsdrama farbig in die Wohnstuben", urteilte die Wochenzeitung Die Zeit verhältnismäßig selbstkritisch und früh die Rolle der Medien. Wenige Wochen vor dem Weihnachtsfest 1978 hatten solch dramatische Fernseh- und Printbilder nach eigener Darstellung des amtierenden niedersächsischen Ministerpräsidenten Ernst Albrecht eine bis dahin unerwartete Entschlussfreudigkeit, zunächst bei ihm und dann der Bundesregierung, erwirkt. Die Protagonisten der folgenden Rettungsaktion konnten mit einer breiten Unterstützung aus der Gesellschaft rechnen. Bis zu der niedersächsischen Initiative hatten bereits mehrere Bürgerinnen und Bürger beim Bundesinnenministerium angefragt, ob die Bundesregierung nicht in das Flüchtlingsdrama einschreiten könne. Sogar eine symbolische Geste in Anbetracht des 40. Jahrestags des Novemberpogroms wurde in einer Zuschrift gefordert.
Ebenso wie die Berichterstattung über das Flüchtlingsdrama vor Ort in Südostasien und die tagesaktuellen Informationen über den Entscheidungsprozess, wurde auch die Ankunft der ersten "boat people" in Niedersachsen ein mediales Großereignis. Die Akteure der Rettungsaktion, die innerhalb kürzester Zeit 2.500 Menschen nach Westdeutschland brachten, wurden auf Schritt und Tritt von Presse, Funk und Fernsehen begleitet. Noch am Flughafen Langenhagen bei Hannover entstanden eindrückliche Bilder von Flüchtlingen, die bei ihrer Ankunft, in Rote-Kreuz-Decken gewickelt, vor Ort versorgt wurden. Als anschließend die ersten Busse im Grenzdurchgangslager Friedland ankamen, mussten Lagermitarbeiter eine schaulustige Menge aus Bürgerinnen und Bürgern sowie Medienvertreterinnen und Medienvertretern vor den Flüchtlingen zurückhalten. Manche Zeitgenossen kritisierten diese Emotionalisierung mithilfe der Medien und konstatierten, "daß sie [die Flüchtlinge, J.K.] mediengerecht geflüchtet sind. Tage- und wochenlang wurden dramatische Filmberichte über das Fernsehen frei Haus geliefert, in denen man sich die vollkommen überladenen Fischerboote der vietnamesischen Flüchtlinge anschauen konnte."
Ernst Albrecht hatte aus vermeintlich tagesaktueller Brisanz einer menschlichen Katastrophe und dem anstehenden Weihnachtsfest einen emotional günstigen Zeitpunkt für die Rettungsaktion gewählt. In vielzähligen Interviews betonte er, dass ihn die schockierenden Bilder im Fernsehen dazu veranlasst hätten, in Bonn Druck auszuüben und die ersten Transporte nach Westdeutschland in die Wege zu leiten. Es spielte öffentlich zunächst keine Rolle, dass die USA bereits seit Längerem gedrängt hatten, dass man sich auch von deutscher Seite einem Teil der Flüchtlinge annehmen möge. Nach Akten des deutschen Bundesinnenministeriums gab es seit dem Sieg der nordvietnamesischen Truppen im Jahr 1975 die Anfrage der USA an Verbündete des Westblocks, sich der vietnamesischen Oppositionellen anzunehmen, nachdem sie selbst mit einem großen Aufwand knapp 130.000 Menschen ausgeflogen hatten. Eine Woche vor Ankunft der ersten Flüchtlinge stellte Albrecht dem ZDF gegenüber dennoch klar, dass er die Rettungsaktion als "…eine Frage an die ganze freie Welt" begreife und deshalb "ein Zeichen setzen" wollte. Ernst Albrecht gelang es, sein Engagement, das eigentlich aus der außenpolitischen Beziehung zu den USA und auch Frankreich als wichtige Bündnispartner zu erwarten gewesen war, innenpolitisch als Akt der Barmherzigkeit zu präsentieren.
Humanitäres Handeln
Das Problem, dass die Vietnamesinnen und Vietnamesen nicht nach der Genfer Flüchtlingskonvention zu behandeln waren, aber die notleidenden Menschen dennoch Hilfe brauchten, beschäftigte die Bundesregierung bereits seit einigen Jahren und mag ein Grund für das späte, aber dennoch unbürokratische Handeln im Winter 1978 gewesen sein. Zwar hatte es auch zuvor Gruppen gegeben, die als geschlossene Einheit aufgenommen worden waren, jedoch hatten diese, ebenfalls in Lagern wie Friedland oder Unna-Massen aufgenommenen und versorgten Flüchtlinge aus Ungarn und Chile, zunächst wie die ersten Flüchtlinge aus Vietnam das gängige Asylverfahren durchlaufen müssen. Niedersachsens Ministerpräsident Albrecht jedoch schuf durch das Handeln seines Kabinetts Tatsachen, die zukünftig in gesetzliche Bahnen gelenkt werden sollten. Als Ergebnis innenpolitischer Beratungen wurde festgestellt, dass "[a]ngesichts der Entwicklung im internationalen Bereich (…) auch in Zukunft mit derartigen Aktionen zu rechnen" sei. Die Suche nach einem passenden Status gestaltete sich als schwierig, da nicht alle Vietnamesinnen und Vietnamesen in die Kategorie der politischen Flüchtlinge und somit Asylberechtigten fielen, sondern häufig eher ökonomische oder sozial geächtete Opfer der Kriegsfolgen waren. Mit der Ankunft des ersten Transports im Jahr 1978 schlugen darum einzelne Bundes- und Landespolitiker vor, die Flüchtlinge aus Vietnam den Aussiedlerinnen und Aussiedlern gleichzustellen. Dennoch schien es vor der Bundesversammlung schwierig, die Gleichstellung humanitärer Flüchtlinge mit deutschstämmigen Einwanderern zu begründen.
Als Konsequenz aus der südostasiatischen Flüchtlingskatastrophe wurde 1980 im Bundestag schließlich das "Gesetz über Maßnahmen für im Rahmen humanitärer Hilfsaktionen aufgenommene Flüchtlinge" verabschiedet. Mit dem Gesetz konnte fortan Menschen in Gruppenzusammenhängen aufgrund einer Krisensituation im Herkunftsland eine unbefristete Aufenthaltsgenehmigung erteilt werden. Dies hatte zur Folge, dass vietnamesische Kontingentflüchtlinge gegenüber Asylbewerberinnen und Asylbewerbern aufenthaltsrechtlich deutlich privilegiert behandelt werden konnten und auch wurden, da ihnen das oft Monate bis Jahre dauernde Asylanerkennungsverfahren erspart blieb. Sie erhielten aufgrund ihrer Gruppenzugehörigkeit einen sofortigen Flüchtlingsstatus, der ihnen staatsbürgerliche Rechte einräumte.
Das verhältnismäßig unbürokratische Handeln der Behörden gegenüber den knapp 40.000 südostasiatischen Flüchtlingen sollte fortan ihre Aufnahme in der Bundesrepublik charakterisieren. Schon die ersten Flüchtlinge, die noch nicht unter dieses Gesetz fielen, konnten aufgrund des offensichtlichen Übereinkommens darüber, dass diese Menschen dauerhaft bleiben würden, von breit initiierten Integrationsmaßnahmen profitieren. Auf die Frage des ZDF, wie es den Flüchtlingen in Deutschland im Verhältnis zu ihrem vorherigen Aufenthaltsort ergehen würde, ob ihnen "nicht jetzt in Europa auch ein langes Lagerleben bevor[stünde]", antwortete Ernst Albrecht: "Nein, ich glaube, dass wir da spätestens in zwei Monaten sie aus dem Lager herausnehmen können, […] Auch unsere Städte und Gemeinden haben eigentlich phantastisch reagiert". Die Feststellung, dass sich die Gemeinden anscheinend großzügig in der Bereitstellung von Wohnraum zeigten, hatte vor allem finanzielle Hintergründe. Anders als bei gängigen Asylverfahren übernahm das Land die Kosten der weiteren Unterbringung. Darum hatten die Flüchtlinge in Niedersachsen das Grenzdurchgangslager Friedland spätestens zu Weihnachten wieder verlassen und wurden zunächst in das karitative Wohnheim "Sozialwerk Nazareth" in Norden-Norddeich verlegt. Roman Siewert, der damalige wie heutige Wohnheim-Leiter, charakterisiert die Funktion von Friedland demnach als "Durchlauferhitzer", in dem sich alles um die bürokratischen Auflagen der Aufnahme drehte, während anschließend eine umfassende Betreuung angestrebt wurde. Die Bundesrepublik Deutschland investierte bis Ende der 1980er Jahre geschätzte 52 Millionen Deutsche Mark ausschließlich in Rettungsaktionen und Aufnahmeleistungen wie Sprachkurse, Arbeitsvermittlung und Wohnungssuche für südostasiatische Flüchtlinge. Die außergewöhnlich intensiven Integrationsbemühungen, kombiniert mit einer seit einigen Jahren viel diskutierten, angeblich großen Leistungsbereitschaft, trugen zu einer weitaus positiveren Haltung der bundesdeutschen Gesellschaft gegenüber den Vietnamesinnen und Vietnamesen bei als gegenüber anderen Flüchtlingsgruppen.
Die Hilfsbereitschaft des niedersächsischen Kabinetts ist eine prominente Erzählung von staatlicher Flüchtlingshilfe der neueren Geschichte und steht im Gegensatz zu der ansonsten rigide verfolgten Asylpolitik der CDU, vor allem der nun folgenden 1980er Jahre. Jedoch könnte hier, angesichts der Ablehnung des sozialdemokratischen Bundeskanzlers Helmut Schmidt einer dezidiert westdeutschen Menschenrechtspolitik gegenüber repressiven Regimen, auch eine taktische Positionierung der CDU im Hintergrund gestanden haben. Ähnlich wie in der Thematisierung der „Sozialen Frage“ gelang es der CDU, sich nun auch für globale humanitäre Probleme einzusetzen und damit ein eindeutiges Statement zur menschenrechtlichen Ausrichtung der Bundespolitik abzugeben. Dieser christdemokratische Vorstoß in der Flüchtlingspolitik passte in das politische Konzept der Bundesregierung, einerseits den Pflichten gegenüber dem Hohen Flüchtlingskommissariat der Vereinigten Nationen nachzukommen, andererseits eine steuerbare und zumindest vordergründig entpolitisierte Gruppe aufzunehmen.
Geregelte Flüchtlingsaufnahme
Das Grenzdurchgangslager Friedland galt in der jungen Bundesrepublik als "das bundesweit bekannte und symbolisch vielfältig aufgeladene Tor zur Freiheit". Dennoch war das Lager seit Ende der 1950er aus dem öffentlichen Interesse gewichen und so bot sich den Wohlfahrtsverbänden und Behörden die Chance, mit der Aufnahme von Flüchtlingen aus Indochina den Ort zu einem Symbol der westdeutschen, global agierenden Humanität umzuschreiben. Da die Flüchtlinge meist aus dem Süden Vietnams kamen bzw. sich auf der Flucht befanden, schien es zudem erwiesen, dass sie Opfer des siegreichen sozialistischen Nordens waren. Es stellte sich zwar heraus, dass nicht alle Flüchtlinge an Leib und Leben bedroht waren oder bereits in Arbeitslagern und Gefängnissen inhaftiert waren, dennoch waren viele mindestens vom wirtschaftlichen Ruin oder einer öffentlichen Schmähung als Teile der eher wohlhabenderen Bevölkerung betroffen. Die Flüchtlinge hatten den politischen Vorteil, als Verfolgte des Kommunismus betrachtet und somit im Westen zumindest öffentlich als Gesinnungsgenossen behandelt werden zu können.
Trotz der Ankündigung, dass die in Friedland aufgenommene Gruppe erst die Vorboten einer viel größeren Zahl von Flüchtlingen waren, blieb die Hilfsbereitschaft vor allem auf lokaler Ebene bis Anfang der 1980er Jahre außerordentlich großzügig und beständig. Dabei stieß die überschwängliche Hilfsbereitschaft und institutionell breit angelegte Versorgung der Vietnamesinnen und Vietnamesen auch auf Kritik. Flüchtlingsaktivisten bemängelten die in Teilen sehr unterschiedliche Versorgung und Unterbringung der verschiedenen Asylsuchenden und forderten eine größere Aufnahmebereitschaft von Flüchtlingen. So wurde das Asylheim Augsburg, in dem zu diesem Zeitpunkt bis zu 15 Menschen auf nur 45 Quadratmetern leben mussten, mit vier, zwischen 1979 und 1980 gebauten Wohnheimen für Indochinaflüchtlinge verglichen, wovon jedes nicht mehr als 80 Personen aufzunehmen hatte und die nach Aussage der Autoren des Berichts „alle eine ideale Größenordnung haben.“
Dass die vietnamesischen Flüchtlinge von Beginn an einen anderen Status in der Gesellschaft und bei den Behörden einnahmen und einnehmen sollten als andere Flüchtlinge, lässt sich auch daran erkennen, dass knapp 400 argentinische Flüchtlinge zeitgleich mit der Begründung abgelehnt worden waren, dass das Kontingent für politische Flüchtlinge erschöpft sei. Die argentinischen Asylsuchenden waren, wie die aufgenommenen Chileninnen und Chilenen seit 1973, den linken Parteien angehörige Oppositionelle. Die deutschen Behörden rechneten die Zahlen der Flüchtlinge aus Chile auf die Argentinierinnen und Argentinier an, sodass die entsprechenden Entscheidungsträger zu dem Entschluss kamen, dass die Bundesrepublik zurzeit über keine Aufnahmekapazitäten für politisch Verfolgte aus Lateinamerika verfügen würde. Ernst Albrecht versuchte seine Entscheidungen in Bezug auf „seine“ Flüchtlinge in einem Interview mit dem „Länderspiegel“ vom 2. Dezember 1978 zu entpolitisieren und somit die Kritiker moralisch zu treffen:
"Ja, es gibt – das ist nun eine Erfahrung, die ich nicht das erste Mal mache - immer Neid, es gibt immer schlechtes Gewissen, das da auch eine Rolle spielt, und dann glaubt man dem anderen unlautere Motive unterlegen zu müssen. Für mich ist dies eine Frage der Menschlichkeit. Wir sind gefordert, wir sehen ja, was dort vor sich geht".
Dass die Ungleichbehandlung im Interesse der Politik lag, formulierte der niedersächsische Staatssekretär Gernord Haaßengier viel dezidierter: "Die einen kommen, die anderen holen wir. Das ist der Unterschied."
In der weiteren Geschichte der Bundesrepublik zeigte sich allerdings, dass auch die Kriterien bezüglich der Indochinaflüchtlinge nur teilweise so großzügig angesetzt wurden, wie zuvor angekündigt. Die Regierung wollte die Kontrolle über die Auswahl der Flüchtlinge behalten. Nachdem die ersten Flüchtlinge in den Ad-hoc-Aktionen Niedersachsens aufgenommen worden waren, richtete die Bundesregierung ein Schiff vom Roten Kreuz ein, das Flüchtlinge nach Westdeutschland bringen sollte. Gleichzeitig engagierten sich auch, unter Wortführung von Prominenten, zahlreiche Bürgerinnen und Bürger auf zivilgesellschaftlicher Ebene für die Flüchtlinge aus Indochina. Unter anderem Heinrich Böll, Martin Walser, Norbert Blüm und der Journalist Rupert Neudeck gründeten den Kölner Verein "Ein Boot für Vietnam e.V.". Sie kauften ein Schiff, das in die Gewässer um Vietnam gesandt wurde, um Flüchtlinge von ihren Booten zu retten. Zwischen 1979 und 1986 wurde die "Cap Anamur" zur Rettung von 10.375 Menschen aus dem Pazifik eingesetzt. Die ehrenamtliche Besatzung der "Cap Anamur" geriet schon bald mit den deutschen Behörden in Konflikt, da sie ihre Aktionen nur selten mit diesen abstimmte. Da die Besatzung des Rettungsschiffes immer wieder von anderen Schiffen Flüchtlinge übernahm, die nicht mehr akut in Seenot waren, schritt das Auswärtige Amt ein und wies die Besatzung der "Cap Anamur" an, zukünftig diese Praxis zu unterlassen. Aus den Akten des Bundesinnenministeriums lässt sich erschließen, dass immer mehr der noch aufzunehmenden Flüchtlinge schon im Vorhinein feststanden. Dabei stand die Familienzusammenführung an vorderster Stelle, ebenso genossen Menschen Vorrang, die für deutsche Firmen gearbeitet hatten oder minderjährig und ohne Angehörige waren. Die Willkür bei der Festsetzung der Quoten wurde denn auch zum wunden Punkt der Quotenregelung. Wonach sollten die Maßstäbe gesetzt werden, wann "genug" aufgenommen worden wären? Die Politik orientierte sich nicht an den tatsächlichen Flüchtlingszahlen, sondern setzte eigene, nach außen hin undurchsichtige Parameter an, um eine endgültige Aufnahmekapazität zu begründen. Bereits zu Beginn der Aufnahme forderte Die Zeit, diesen Ansatz zu überdenken: "Aber allein mit weihnachtlichen Almosen ist den südostasiatischen Flüchtlingen jetzt nicht mehr zu helfen. Die Bundesrepublik muß mehr Flüchtlinge aufnehmen, mehr als die 2500 Vietnamesen zur Weihnachtszeit."
Fazit
Die Aufnahme der ersten "boat people" in Niedersachsen steht für den bundesrepublikanischen Auftakt der "humanitären Flüchtlingshilfe" und zeigt somit eine Zäsur in der bundesdeutschen Menschenrechts- und Flüchtlingspolitik der 1970er Jahre auf. Mit der Aufnahme der vietnamesischen Flüchtlinge ging die Bundesrepublik Deutschland einen entscheidenden Schritt in die Richtung, humanitäre, global ausgerichtete Hilfsaktionen als politische Strategie in der Innen- wie Außenpolitik zu integrieren. Durch die neue Kategorie der "humanitären Flüchtlinge" gelang es den Bundespolitikerinnen und -politikern gleichermaßen, ihrer Verantwortung der internationalen Gemeinschaft gegenüber gerecht zu werden und neue rechtlich verankerte Instrumente zur Regelung der internen Flüchtlingspolitik zu etablieren.
Die eigentliche politische Symbolkraft der "humanitären Flüchtlinge" im Kalten Krieg lässt sich gerade am Beispiel der Indochinaflüchtlinge darlegen. Bereits die zeitgenössischen Medien erkannten, dass die Bilder der Menschen auf den Booten und in den Flüchtlingslagern in Indonesien, Thailand und Malaysia zu einem kollektiv erlebten Ereignis beitrugen, das sich im Engagement vor Ort manifestierte. Durch die "boat people" gelang in einer Kontinuität der Aufnahme von Ungarnflüchtlingen und tschechoslowakischen Dissidenten, anders als durch die von chilenischen Pinochet-Gegnern und politischen Flüchtlinge aus dem Nahen Osten, ein Bedeutungswandel des Begriffs "Lager" als Institution der Diktatur, der deutschen Kriegsschuld und Ort der Aufarbeitung der Kriegsfolgen. Nun ging es vielmehr darum, dem Systemfeind eine Struktur der Barmherzigkeit und kapitalistischen Freiheit entgegenzusetzen. Insbesondere für das Grenzdurchgangslager Friedland wandelte sich das Narrativ als Sammel- und Registrierstelle der Nachkriegszeit zu einem Ort des bundesdeutschen Humanitarismus und hielt dabei zugleich erfolgreich am symbolischen Etikett des "Tores zur Freiheit" fest.
Zitierweise: Julia Kleinschmidt, Die Aufnahme der ersten "boat people" in die Bundesrepublik, in: Deutschland Archiv Online, 26.11.2013, Link: http://www.bpb.de/170611
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Julia Kleinschmidt, M.A., ist Promotionsstipendiatin der Hans-Böckler-Stiftung mit einem Dissertationsprojekt zum Thema "Globale Flüchtlinge und zivilgesellschaftliches Engagement. Die Menschenrechtsdebatte in der westeuropäischen Asylpolitik." Sie studierte Mittlere und Neuere Geschichte, Wissenschaftsgeschichte und Neuere Deutsche Literatur in Göttingen, Nanterre/Paris und Groningen. Als Mitherausgeberin und Themenredakteurin ist sie seit 2010 für die Zeitschrift WerkstattGeschichte aktiv.
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