Ein unbequemes Denkmal mitten in der Stadt
Interview mit Prof. Dr. Axel Klausmeier, Direktor der Stiftung Berliner Mauer
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Der Direktor der Stiftung Berliner Mauer, Prof. Dr. Axel Klausmeier, schildert im Gespräch mit dem Deutschland Archiv den heutigen Auftrag und die Bedeutung des Denkmals Berliner Mauer. Mit über 700.000 Besucherinnen und Besuchern im Jahr zieht die Gedenkstätte zur DDR-Aufbereitung vor allem junge Menschen an.
DA: Sehr geehrter Herr Prof. Klausmeier, vielen Dank, dass wir Sie heute zu diesem Gespräch treffen dürfen. Am nächsten Dienstag, den 13. August 2013, jährt sich der Tag des Mauerbaus zum 52. Mal. Welche Bedeutung hat dieser Tag heute, für Sie persönlich?
Prof. Dr. A. Klausmeier: Es ist ein extrem wichtiges Gedenkdatum, ein Gedenktag, an dem vor allem die Opfer im Mittelpunkt stehen. Ich sehe es als meine Hauptaufgabe an, auch für die Stiftung, einen wesentlichen Beitrag dazu zu leisten, das Gedenken an die Opfer wachzuhalten. Man kann sicherlich darüber nachdenken, wie sich Gedenktage allgemein fortentwickeln können, oder ob Ritualisierung für das Erinnern möglicherweise kontraproduktiv ist. Aber ich glaube, es ist sehr wichtig, Gedenktage beizubehalten.
Nach unserem Stiftungsauftrag haben wir im Grunde das ganze Jahr Gedenktag. In unterschiedlichen Formen. Die Herausforderung besteht für mich auch darin: Wie können wir der nächsten Generation die Geschichte vermitteln? Die Generation, die jetzt heranwächst, kennt die Mauer nicht mehr. Ich denke, das macht auch unsere Arbeit aus.
DA: Bleiben wir kurz noch bei Ihnen selbst und Ihrer Arbeit. Seit geraumer Zeit ist der Schwerpunkt Ihrer Arbeit der Umgang mit historischer Bausubstanz und historischen Kulturlandschaften, insbesondere mit der Berliner Mauer. Was war Ihre Motivation, sich mit diesem „unbequemen“ Denkmal so intensiv auseinanderzusetzen?
Prof. Dr. A. Klausmeier: Mein Hintergrund ist ja ursprünglich die Beschäftigung mit den „schönen“ Landschaften (lacht). Aber seit 12 Jahren arbeite ich nun wissenschaftlich zur Berliner Mauer. Letztendlich habe ich die Methodik, die ich in schönen Landschaften - sprich historischen Gärten -angewandt habe, also Erfassung, Vermessung, Pflegefragen, Unterhalt, Einordnung, Kategorisierung, auch auf diese sogenannten „unbequemen Baudenkmale“ übertragen. Die Methodik ist dieselbe, der Gegenstand ist ein völlig anderer. Er hat letztendlich einen viel aktuelleren Bezug zu den Menschen. Und das ist für mich ein wesentlicher Punkt.
Als Leo Schmidt und ich, beide Kunsthistoriker, die Reste der Mauer aufgenommen haben, sind wir beide durch die Reste dieses Bauwerks gegangen und haben uns gefragt: „Was machen wir hier eigentlich gerade?“ Das Aufnehmen dieser Reste ist ja im Grunde eine absurde Geschichte für Kunsthistoriker. Gut, wir waren vorwiegend Denkmalpfleger. Aber letztlich ist es ja immer so, dass diese Reste etwas über das System aussagen. So, wie man als Kunsthistoriker eine gotische Kathedrale besucht, analysiert man einzelne Bauelemente. Und dann lernt man etwas darüber, über die Menschen und deren Absichten, die dieses Bauwerk mal gebaut haben. Was drücken die damit aus? Das kann ich bei einer gotischen Kathedrale oder einer romanischen Kirche genauso tun wie bei einem englischen Landschaftsgarten. Diese Bauwerke sagen wahnsinnig viel über die Menschen aus, die es geschaffen haben. Und das ist bei der Mauer exakt genauso.
Prof. Dr. A. Klausmeier: Ja, wenn ich die Mauer nur rein als Bauwerk betrachte - und so habe ich begonnen, ohne den politischen Hintergrund zu berücksichtigen - wenn ich es architekturhistorisch oder architektonisch analysiere, sagt es mir, dass es kein antifaschistischer Schutzwall war.
Zum Beispiel: Die ganze Sperranlage ist politisch gewissermaßen von Ost nach West organisiert. Nehmen wir den Grenzsignalzaun als Beispiel: Der Grenzsignalzaun fungierte in diesem Sperrsystem als Alarmsignal, als Klingel. Wenn es ein antifaschistischer Schutzwall gewesen wäre, hätte man die Klingel außen anbringen müssen, oder direkt hinter der „Grenzmauer 75“, also an dem am meisten nach Westen ausgerichtete Sperrelement. Es ist aber genau umgekehrt: Die Klingel befindet sich am östlichsten Sperrelement, nämlich dem Hinterland-Sicherungszaun. Das heißt, die Feinde kommen offenbar aus dem eigenen Land.
Zweites Beispiel: Die KFZ-Sperre, die eingebaut wurde, befindet sich kurz vor dem nach Westen weisenden Element, nämlich im Grenzstreifen, kurz vor der Sperrmauer nach Westen. Und spätestens da war dann die „Reise“ für die Flüchtlinge zu Ende. Wäre beispielsweise ein LKW oder ein Bus aus westlicher Richtung durchgebrochen, wäre die Grenzmauer 75 umgefallen und hätte sich als Brücke über diesen Sperrgraben gelegt.
Was möchten die Erbauer aussagen – und was sagt ihr Werk über Sie selber aus? Darin besteht die spannende Analyse. So haben wir uns immer mehr damit auseinandergesetzt, um praktisch mit Hilfe des Bauwerks Aussagen nicht nur über die politische Motivation, sondern auch über die politischen Überzeugungen der Erbauer treffen zu können. Ein anderes Beispiel ist die Verschraubung des vorderen Grenzzauns. Die Mauer um Westberlin war 155 Kilometer lang. Im Zentrum Berlins ist sie Mauer, das hat militärische, strategische Gründe. Im Umland ist die Grenzbefestigung beinahe ausschließlich bezäunt. Sich annähernde Personen konnten so leichter kontrolliert werden. Dieser Zaun war nach Westen verschraubt. Und dafür gibt es noch existierende Beispiele, wie am Teltow-Kanal.
So viel zur Logik eines sogenannten antifaschistischen Schutzwalls: Dieser ist nach Westen verschraubt, und wenn die „bösen Faschisten“ aus dem Westen nun einen 17-er Schlüssel dabei gehabt hätten, dann hätten sie ihn einfach aufgeschraubt, und dann wäre die Sperranlage weg gewesen. Solche Betrachtungen haben letztendlich auch eine skurrile Seite. Aber insofern ist diese architekturgeschichtliche Herangehensweise sicherlich für viele Historiker zunächst ungewohnt, aber aufschlussreich.
DA: Welche besonderen konservatorischen oder anderen Herausforderungen bietet die Beschäftigung mit diesem Baudenkmal?
Prof. Dr. A. Klausmeier: Erich Honecker hat im Januar 1989 gesagt: Wenn sich die politischen Rahmenbedingungen nicht änderten, würde die Mauer noch in hundert Jahren stehen. Nun ist sie glücklicherweise politisch gefallen, und sie ist aufgrund der politischen Entwicklungen dann auch sehr rasch im Jahr 1990 verschwunden.
Ich gehe davon aus, dass heute vielleicht noch etwa ein Prozent Bausubstanz erhalten ist. Dieses Bauwerk ist nicht für die Ewigkeit gebaut worden, auch wenn Honecker das gerne gehabt hätte. Denn die Baumaterialien waren schlecht. Der Beton ist nicht der schlechteste, aber er ist provisorisch zusammengesetzt worden. Es wurde zwar ein baulicher Standard eingeführt, aber das Bauwerk wurde immer an die jeweilige räumliche Situation angepasst.
In gewisser Weise wurden räumliche Besonderheiten auch ausgenutzt. Wenn Häuser nicht abgerissen wurden, dann wurde der untere Teil dieser Gebäude als Hinterland-Mauer benutzt. So hatte man schon wieder 12 Meter breite Hinterland-Mauer gespart. Oder man hat Friedhofsmauern eingesetzt: Die erste Berliner Mauer bestand hier in der Bernauer Straße u.a. aus der Friedhofsmauer des Sophienfriedhofs. Durch diese Heterogenität entstehen natürlich besondere konservatorischen Herausforderungen.
Der überwiegende Teil des bis heute erhaltenen Mauerbestandes ist die letzte Mauer-Generation, die ab etwa 1975 und hier in der Bernauer Straße erst ab 1980 eingeführt wurde. Das Hauptmaterial ist Beton, Stahlbeton, Doppel-T-Träger aus Stahl, fragile Elemente, die, wenn man sie nicht kontinuierlich erhält, einfach verfallen. Und wir haben hier den Fall, dass in den ersten 20 bis 22 Jahren nach dem Mauerfall konservatorische Fragen nicht gestellt wurden. Es gab ganz andere Themen: Man musste zunächst das Bewusstsein dafür schaffen, diesen Ort zu erhalten und auszubauen unter Bewahrung der authentischen Substanzen, der authentischen Spuren. Dafür hat man, vor allem zunächst wesentlich getragen von bürgerschaftlichem Engagement, so viel Energie aufwenden müssen, dass man sich die Frage nach dem konservatorischen Umgang gar nicht stellte.
Man hat dieses Denkmal hier zwischen den Stahlwänden von den Architekten Kohlhoff & Kohlhoff, welches 1998 eingeweiht worden ist, unter der Verwendung von Originalsubstanz neu aufgebaut. Es steht im Raum, ob es eine Rekonstruktion ist, eine Wiederherstellung oder eine Restaurierung - eine Reparatur war es sicherlich nicht. Es ist eine Wiederherstellung unter Verwendung der Originalsubstanz. Etwas Ähnliches wurde an der Hinterland-Mauer gemacht. Die unteren quer liegenden, rechteckigen Betonflächen sind die Originale, darüber sind Flächen rekonstruiert worden.
Wir haben jetzt, zwölf Jahre danach, direkt nebenan anders entschieden. Wir haben uns entschieden, nichts zu rekonstruieren und hierbei zusätzlich weitere Original-Substanz opfern. Wir sagen: Wir haben diesen Ort so geerbt, er ist so überkommen, mit allen Spuren im „Zustand seiner Überwindung“, wie Andreas Nachama es an „seiner“ Mauer an der Topografie des Terrors mal genannt hat.
Die Spuren der Mauerspechte aus dem Jahr 1990, im Stadium der Überwindung, das ist eine Zeitschicht dieses Objektes. Und das wunderbare an diesem Objekt besteht in der Tatsache, dass es überwunden ist. Und daher ist dieses Element der Spuren der Mauerspechte auch so extrem wichtig. Diese Vielschichtigkeit zu erhalten, stellt natürlich eine denkmalpflegerische Kernaufgabe dar.
Diese Mauer war nie aus einem Guss. Sie hat sich über 28 Jahre bis zuletzt verändert. Die Grenztruppen, die noch bis zum 30. September 1990 im Dienst waren, haben die Grenzbefestigung bis zum Schluss noch repariert. Die Grenzen waren bereits offen, aber sie waren im Dienst- und dieses Bauwerk war noch da.
DA: Kommen wir zu den Besuchern dieses „unbequemen Denkmals“. Wer besucht die Gedenkstätte und wie haben sich die Besucher/ Besucherzahlen in den letzten Jahren verändert?
Prof. Dr. A. Klausmeier: Wir haben relativ genaue Kenntnisse darüber, wer uns besucht. Wir haben erfreulich viele Besucher, 700.000 im letzten Jahr, und wir sind damit die größte Gedenkstätte, was die DDR-Aufarbeitung angeht.
DA: …das sind nicht nur Besucher des Dokumentationszentruns, sondern der gesamten Anlage, die sich hier über die Bernauer Straße erstreckt?
Prof. Dr. A. Klausmeier: Richtig. Wir haben hier im Haus der Ausstellung, sozusagen „handgezählt“, im letzten Jahr 436.000 Besucher gehabt. Die Ausstellung wird jetzt überarbeitet, in zwei Monaten wird das Haus vorübergehend geschlossen. Wir haben im Besucherzentrum etwa 170.000 Besucher gehabt. Auf dem Gelände kann die Besucherzahl nicht exakt erfasst werden, da es offen ist. Aber aufgrund von Zählungen und Analysen haben wir untersucht, welche Besucher nur das Außengelände, welche die Ausstellungen und welche beide Orte besuchen und wie sie sich auf dem Gelände bewegen. Daraus ergibt sich diese sehr belastbare Zahl von 700.000 Besuchern. Wer sich die Besucher? Die Besucher sind zu 60 bis 65 Prozent jung, das heißt jünger als 25, und sie sind international. Dazu kommt, dass wir natürlich sehr viele Schulklassen zu Gast haben, weil wir erfreulicherweise Teil des Besucherprogramms von Schulausflügen nach Berlin sind. Die Mauer ist ein großes internationales Thema. Wir profitieren sicherlich auch vom Tourismusboom der Stadt.
Wir haben unterschiedliche Besucher am Wochenende und in der Woche. In der Woche kommen viele Schulklassen und Reisegruppen, am Wochenende sind es die Berliner. Die Berliner Besucherschaft hat sich gegenüber Mauerzeiten zu mehr als 60 Prozent ausgetauscht. Heute haben etwa 60 Prozent der Berliner keine direkte Wohnerfahrung mit der Mauer mehr. Dies wirft spannende Identifikationsfragen auf.
Die Berliner Mauer ist ein internationales Symbol. Sie ist ein Symbol nicht nur im Zusammenhang mit dem Mauerbau, sondern vor allem mit dem Mauerfall.
DA: Gedenkstätten sehen sich in den letzten Jahren den Herausforderungen einer sich ändernden Demografie in Deutschland gegenüber. Insbesondere in Berlin wächst eine Generation heran, in der viele Jugendliche einen Migrationshintergrund haben. Kann die Gedenkstätte, kann das Erinnern an die Berliner Mauer eine identitätsstiftende Funktion haben?
Prof. Dr. A. Klausmeier: Ja, möglicherweise noch viel leichter als andere. Mauern sind international ein sehr aktuelles Thema: Es muss uns dabei immer wieder darum gehen, deutlich zu machen, was das Besondere an der Berliner Mauer gewesen ist. Denn sie war als einzige Mauer eine Mauer nach innen, nicht nach außen. Alle andern Mauern dieser Welt, ob sie zwischen den USA und Mexiko stehen, in Israel, in Belfast zwischen Protestanten und Katholiken, in Marokko, in Zypern, oder historisch der Hadrianswall und sogar die Chinesische Mauer - alle haben immer nach außen gewirkt. Es ging dabei darum, Fremde heraus zu halten. Im Fall der Berliner Mauer ging es darum, Menschen innen zu halten. Das ist ein deutlicher kategorialer und natürlich auch politischer Unterschied. Ein oft genanntes Beispiel ist Korea. Die Systemgrenze zwischen Kommunismus und Kapitalismus bis heute, zwischen Unfreiheit und Freiheit, ist jedoch eine gesetzte Waffenstillstandslinie. Es entspricht nicht dem, was hier in Berlin war: Hier baute die Regierung eine Mauer gegen die eigene Bevölkerung.
Unsere Chance – am Bespiel der nun glücklicherweise historischen Mauer – ist die Thematisierung der Grundthemen von Demokratie und Freiheit. Das Thema des 13. August ist Menschenrechtsverletzung. Vordergründig betrachtet ist es zunächst einmal: Jetzt wird da die Sektorengrenze zugemacht. Aber dieses Grundthema begleitet uns bis heute, und gerade für die junge Generation, die sozusagen das Glück hat, in Demokratie aufzuwachsen, ist es wichtig darauf hinzuweisen, dass das nicht selbstverständlich ist und sehr leicht in Gefahr geraten kann, wenn die Rahmenbedingungen plötzlich nicht mehr stimmen.
DA: Jeder, der die Bernauer Straße entlangfährt, erhält einen Eindruck von der Besucherresonanz auf die Gedenkstätte. Besucher fotografieren sich vor dem Stück Grenzstreifen. Sie haben selbst einmal im Deutschland Archiv geschrieben, dass "alle Welt nach Berlin [kommt], um das Monstrum der Berliner Mauer wie einen erlegten Drachen zu inspizieren" – Gibt es nicht die Gefahr, dass der touristische Ort Mauerrest mit allen seinen Konnotationen, das Leid der Opfer und ihrer Familien in den Hintergrund drängt?
Prof. Dr. A. Klausmeier: Es gibt hier natürlich beispielsweise spielende Jugendliche, denn wir sind mitten in der Stadt. Aber es ist ein Ort der Entschleunigung. Ich sehe mit großer Freude, wenn ich hier am Fenster stehe und telefoniere, mit welcher Ruhe diese Menschen hier umher laufen, sich diesen Stelen widmen, etwas lesen, vor dem Fenster des Gedenkens verharren. Die Menschen nehmen sich Zeit.
Wir haben auch durch die Besucherbefragung Unterschiede wahrgenommen. Bevor wir angefangen haben, die Gedenkstätte im Jahr 2009 zu erweitern, lag die Verweildauer der Besucher bei 25 Minuten. Heute liegt sie bei ungefähr 1 1/4 Stunde. Das heißt, die Leute setzen sich damit auseinander.
Die Gedenkstätte Berliner Mauer ist ein Ort des Nachdenkens, ein Ort der Kontemplation, Das wird deutlich im Vergleich zum Nordbahnhof-Park oder dem Mauerpark. Wir befinden uns im ehemaligen Mauerstreifen, aber der Ort 100 Meter neben uns ist ganz anders konnotiert, anders gestaltet. Wenn Sie Sonntag Nachmittags dort hingehen, sind da 45.000 Leute. Da ist Karaoke, da ist alles Mögliche, und hier ist es eher ein Ort des Nachdenklichen, das ist ein anderer Gesamttenor. Es handelt sich um ein befriedetes Stück Berlin und die Menschen haben schon gemerkt, dass der Charakter des Ortes sich hier verändert hat.
DA: Die Kapelle der Versöhnung liegt nochmal ein bisschen abseits und ist, wenn wir die sich selbst fotografierenden Touristen auf der einen Seite haben, vielleicht so eine Art Kontrapunkt, wo das tatsächliche Leid der Familien, die Angehörige verloren haben, am stärksten im Vordergrund steht. Wird die Kapelle der Versöhnung gut angenommen?
Prof. Dr. A. Klausmeier: Gigantisch! Wir hatten letztes Jahr den Millionsten Besucher in der Kapelle. Ich möchte erst mal eine andere Kirche in Berlin sehen, vor allem von dieser Größe, die diese Besucherzahlen hat.
Nochmal zu dem Umgang mit dem Leid der Opfer. Wir haben einen respektvollen Umgang mit dem Ort, und das spüren die Leute. Es geht ja um die Mauertoten, diese sind völlig zurecht immer im emotionalen Zentrum. In der Kapelle finden Sie einen besonderen Ort des Gedenkens.
Aber auch die Teilung selbst ist immer ein Thema. Wir bieten auch Informationen zum Friedhof. Indem man erzählt, was in der Zeit der Teilung mit dem Friedhof passiert ist, erzählt man etwas über das System und über das Leid der Menschen. Das heißt, man setzt sich mit dem Leid der Menschen überall auseinander.
Die Kapelle der Versöhnung ist ein sehr eindrucksvoller Ort. Nicht nur durch die neue Architektur, durch eine neue Formsprache, sondern auch dadurch, dass es ein Ort einer lebendigen Gemeinde ist und von dieser getragen wird. Am Sonntag wird dort der neue Pfarrer eingeführt. Und wir haben jeden Tag, von Dienstag bis Freitag, die Mauertotenandachten.
DA: Vielleicht ist aus diesem Grund mancher Berlinbesucher ein bisschen enttäuscht, dass wir dieses Symbol der Teilung nicht haben stehen lassen. Wie würden Sie jetzt einem befreundeten, einem Bekannten auf Berlinbesuch erklären, warum er die Mauer nur noch in Bruchstücken wahrnehmen kann?
Prof. Dr. A. Klausmeier: Weil die Mauer für die Berliner das war, was für einen entlassenen Gefängnisinsassen seine Kleidung ist. Der Gefängnisinsasse kommt raus, schmeißt seine Kleidung weg. Und das haben die Berliner mit der Berliner Mauer getan. Weg damit - sofort und bedingungslos, man will nicht mehr dran erinnert werden. Und Berlin wollte eine normale Stadt werden, deshalb musste die Mauer weg. Insofern sage ich: Man wollte gewissermaßen zur Normalität übergehen, ohne den ganzen Schmerz, ohne dieses Leid.
DA: Jetzt würde ich Sie, in Bezug auf das was Sie eben gesagt haben, herausfordern wollen: Sie sagten, die Gedenkstätte liegt mitten in der Stadt. Ich denke, die Wahrnehmung des Ortes und der Gedenkstätte ist bei manchem Besucher eine andere. Denn für manche Besucher liegen die zentralen Gedenkorte in einem sehr kleinen Umfeld, rund um das Brandenburger Tor. Schon die „Topographie des Terrors“ liegt am äußeren Rand dieses Gedenkringes. Sie würden sagen, Sie liegen „weit ab vom Schuss“. Sie widersprechen dieser Wahrnehmung?
Prof. Dr. A. Klausmeier: Ich glaube unsere Besucherzahlen geben uns Recht. Wir haben in den 1990er Jahren die ganze Zeit Debatten darüber, wie weit außerhalb die Bernauer Straße liege, wie unerreichbar die Bernauer Straße sei. Dies waren Argumente, die im Wesentlichen von Zehlendorfer Bürgern vorgebracht wurden. Wir sind zwei S-Bahnstationen von der Friedrichstraße, drei vom Brandenburger Tor entfernt und in absehbarer Zeit fahren unsere Gäste nur vier Straßenbahnstationen bis zum Hauptbahnhof. Die Gedenkstätte Berliner Mauer ist ein authentischer Ort, und dieser authentische Ort ist dort wo er ist.
DA: Kommen wir zu anderen Orten, die vielleicht sogar noch etwas weiter entfernt liegen. Seit diesem Juli hängen an der Spreeseite der hinteren Mauer an der East-Side-Galerie großformatige Arbeiten des Fotografen Kai Wiedenhöfer. Sie haben sich öffentlich gegen diese Ausstellung ausgesprochen. Schildern Sie uns bitte noch einmal Ihre Gründe.
Prof. Dr. A. Klausmeier: Ich glaube, dass die Ausstellung inhaltlich völlig richtig ist. Sie ist nur, und so war auch ein Artikel überschrieben, am falschen Ort. Es ist sehr wichtig, darauf hinzuweisen, dass es in dieser Welt wahnsinnig viele Mauern gibt, die Menschen trennen.
Ich besuchte beispielsweise im letzten Jahr Bratislava in der Slowakei - und da habe ich am dortigen Goethe-Institut über die Berliner Mauer gesprochen und einen Internetchat veranstaltet. Und worüber redet man da? Sie reden über ihre Mauer. Schengen ist ihre Mauer. Oder ist nicht vielleicht das Mittelmeer die neue Mauer Europas? Also das sind eigentlich die Themen, es gibt soziale Mauern und Grenzen.
Es gibt einige dieser Mauer-Orte. Es ist sehr wichtig, diese zu thematisieren. Und es liegt auch auf der Hand, das mit der Mauer an der East-Side-Galerie zu verbinden. Man kann sagen: Wir haben hier einen Rest der Berliner Mauer, die einst die Stadt teilte. Zudem haben wir eine Kunstaktion, die bereits auf dieser Mauer ist. Und dann nehmen wir die andere Seite der Mauer und zeigen da Mauern von heute. Aber das ist etwas ganz anderes und meiner Meinung nach etwas Verunklärendes, insofern, als dass die Malerei an der East-Side-Galerie aus einer Euphorie über den Mauerfall entstanden ist. Dort hat sich damals eine Künstlergruppe aus allen möglichen Teilen dieser Erde zusammen gefunden die sich euphorisch über den Mauerfall gefreut und Assoziationen auf diese Mauer gebracht. Auf der dem Osten zugewendeten Seite. Die Westseite, also die dem Wasser zugewendete Seite, blieb bewusst frei, um die Leere des ehemaligen Mauerstreifens zu erhalten, und um deutlich zu machen, dass die Mauer eine Gefängnismauer war. Um den Charakter dieser Mauer zu bewahren, ist die Leere dieses Streifens sehr wichtig.
Und dazu kommt die Restaurierungsgeschichte dieses Ortes. Man kann darüber reden, ob die heutige, 2009 sanierte Mauer, noch der Mauer von 1990 entspricht. Darüber gibt es denkmalpflegerische Grundsatzdebatten.
In der Tat sind im Zuge der Sanierung 2008/2009 die ehemaligen Künstler wieder eingeladen worden, ihre Bildwerke neu anzubringen, haben aber zum Teil leichte Veränderungen vorgenommen. Das heißt, die Bilder sind nicht ganz originalgetreu und auch die Reihenfolge variiert mitunter – auch da einige Künstler nicht mitmachen wollten.
Somit stellt sich die Frage nach dem Original, und das ist nochmal etwas ganz anderes. Wenn wir es als Original sehen, welches mit sehr großem Aufwand 2009 restauriert worden ist, ist dieser Ort als Teil des dezentralen Gedenkstättenkonzeptes von 2006 zu erhalten. Wenn die Rückseite der Mauer nun um eine künstlerische Note erweitert wird, dann ist das zwar ein Statement, aber letztlich verschleiere ich die Ursprungssituation und Aussage des Elements.
DA: Das heißt, der Widerspruch gilt nicht dem Genre der Ausstellung, sondern gilt der Tatsache einer Ausstellung an diesem Ort?
Prof. Dr. A. Klausmeier: Ja. Und ich bin sehr dafür, dass diese Ausstellung gezeigt wird, und uns deutlich macht: Mauern gibt es überall. Das Medium ist sehr plakativ. Und die East Side Gallery ist ein Ort, an den sehr viele junge Leute kommen. Das ist auch richtig. Aber sie können den eigentlichen Ort nicht mehr verstehen. Die Mauer wird durch diese doppelseitige Bemalung degradiert zu einer beliebigen Mauer. Das versteht keiner mehr.
DA: Damit zusammenhängend eine Frage zu den Bauvorhaben in diesem Bereich. Befürworter der Baumaßnahmen am Spreeufer verweisen darauf, dass es sich „nur“ um die östliche Hinterland-Mauer handeln würde und die entfernten Teile nur versetzt würden. Gegner der Baumaßnahmen betonen stets darauf, dass die Erhaltung eines vollständigen, 1.3 km langen Abschnitts der Grenzanlagen wichtig ist. Sie auch, warum?
Prof. Dr. A. Klausmeier: Weil ich glaube, dass dieser Ort ein unglaubliches Potential birgt. Es ist, da denke ich auch denkmalpflegerisch, ein Ort, der von ungefähr einer Million Menschen jährlich besucht wird. Es gibt in Berlin nicht viele touristische Orte, abgesehen von der Museumsinsel oder Schloss Sanssouci, die von so vielen Menschen besucht werden. Und das auch noch ohne jede Infrastruktur, ohne jede Zielstellung, ohne jeden Denkmalpflegeplan. Es muss noch ganz viel passieren, um diesen Ort zu erklären. Es müssten regelmäßige Führungen angeboten werden. Man kann mit historischen Fotos arbeiten, um diesen Ort zu vermitteln. Für die Gedenkstätte Berliner Mauer wurde etwa eine sehr gute mobile Webseite entwickelt, die zum Erleben des Ortes beiträgt. So etwas wäre auch für die East Side Gallery denkbar.
Dieser Streifen hier in der Bernauer Straße ist leer, oder sehr zurückhaltend, mit neuem Mobiliar ausgestattet, damit wir diese Leere erhalten. Da steht ein Konzept dahinter. Und wenn ich diese Leere verbaue, dann degradiert man letztlich diese Mauer zu einem Vorgartenzaun. Dann könnte man die Schicksale von Menschen dann nicht mehr nachvollziehen. Dort sind viele Menschen gestorben. Auch deren Geschichte könnte ich eigentlich nicht mehr richtig erzählen. Es würde nicht mehr funktionieren, da die stadträumlichen Dimensionen nicht mehr passten.
Vor diesem Hintergrund würde ich mir wünschen, dass am Gedenkort East Side Gallery mehr Vermittlung betrieben wird, aber vor allem, dass zunächst die räumlichen Bedingungen geschaffen werden und die Leere erhalten wird.
DA: Kommen wir zum Abschluss noch einmal zu den Fragen der Vermittlung. Im vergangenen Jahr 2012 wurde eine Plakette in der Nähe des Brandenburger Tors enthüllt, die an die Ansprache von Ronald Reagan 1987 erinnert. Ist das Teil eines „dezentralen Mauergedenkens“?
Prof. Dr. A. Klausmeier: Es ist in gewisser Weise ein authentischer Ort. An der Resonanz dieser Plakettenenthüllung konnte man jedoch auch merken, dass dies nur für wenige Menschen ein Thema ist. So wie wir im Sommer 2013 an die Rede von Kennedy vom 26. Juni 1963 erinnert haben, finde ich es wichtig, dass solche Worte in Erinnerung bleiben.
Aber es ist kein Ort des Gedenkstättenkonzeptes, weil es dort keine authentischen materiellen Spuren gibt. Ich finde es gut, wie beispielsweise in Washington am Lincoln-Memorial ein Hinweis an Rede von Martin Luther King erinnert wird, die er vor 100.000 Leuten dort gehalten hat: „I have a Dream“. Man verbindet automatisch historische Bilder damit. Wichtig ist für mich beispielsweise auch die Ernst-Reuter-Rede. Sie ist für mich mindestens gleichbedeutend, auch wenn die Rede von Reagan natürlich von sehr vielen Menschen als der Meilenstein für den Mauerfall gesehen wird. Aber es ist bewusst kein Teil des dezentralen Gedenkstättenkonzeptes.
DA: Herr Prof. Klausmeier, wir danken Ihnen für dieses sehr ausführliche und interessante Gespräch!
Das Interview führte Clemens Maier-Wolthausen.
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