Der andere Mauerfall
Die Öffnung der innerdeutschen Grenze 1989
Astrid M. Eckert
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Nach Günther Schabowskis berühmter Pressekonferenz am 9. November 1989 drängten DDR-Bürger nicht nur in Berlin gegen die Mauer. Astrid M. Eckert erinnert in diesem Artikel an den "anderen Mauerfall" - die Öffnung der innerdeutschen Grenze, das Ende des Grenzregimes und die vielfältigen Begegnungen im Grenzland.
In den Darstellungen zur Friedlichen Revolution von 1989/90 nimmt der Fall der Berliner Mauer einen zentralen Platz ein. Hier spielte sich ein Drama von welthistorischer Bedeutung ab, das nicht nur das Schicksal der ungeliebten SED-Herrschaft besiegelte, sondern weltweit zum Symbol für das Ende des Kalten Krieges avancierte. Die Ereignisse entlang der innerdeutschen Grenze nehmen sich im Vergleich wie eine Wiederholung des Berliner Skripts aus. Daran ändert auch die Tatsache nichts, dass die erste DDR-Bürgerin, die am Abend des 9. November 1989 nur "bloß gucken [wollte], ob die Grenze auf" sei, dies von Marienborn aus tat und nicht etwa an der Bornholmer Straße in Berlin. Den Ost-Berlinern war sie um immerhin fünf Minuten voraus, aber die Weltpresse stand nun einmal nicht in Helmstedt, sondern im Wedding, in Kreuzberg und am Brandenburger Tor.
"Die größte Wiedersehensfeier des 20. Jahrhunderts"
Die berühmte Pressekonferenz von Günter Schabowski am frühen Abend des 9. November 1989 war der unmittelbare Auslöser für die "größte Wiedersehensfeier des 20. Jahrhunderts." Schabowski gab die neue Reiseregelung bekannt, die das Zentralkomitee der Sozialistischen Deutschen Einheitspartei (SED) an jenem Tage verabschiedet hatte. Auf Nachfrage des italienischen Journalisten Riccardo Ehrman bestätigte Schabowski, dass "ständige Ausreisen" aus der DDR "sofort" und "unverzüglich" möglich seien, und zwar "über alle Grenzübergangsstellen der DDR zur BRD bzw. zu Berlin-West." Die Fernsehberichterstattung über Schabowskis Versuche, seinen Sprechzettel zu interpretieren, elektrisierte nicht nur Ost-Berliner, sondern auch die DDR-Bürger im Grenzland. Vor den zwanzig regulären Grenzübergängen bilden sich Menschenmengen, die Durchlass begehrten, und zwar nicht zur "ständigen Ausreise", sondern um ihre Interpretation von Schabowskis Worten zu testen und anschließend in die DDR zurückzukehren.
Der Übergang Selmsdorf/Lübeck-Schlutup öffnete noch in der Nacht des 9. November. Kurz vor 22 Uhr fuhr der erste blaue Trabant nach Schlutup. Die Beamten des Bundesgrenzschutzes boten den Insassen Umsiedlerformulare an, allerdings wollten diese sich nur Lübeck ansehen und anschließend wieder nach Hause fahren. Noch in der Nacht bildete sich eine "Trabischlange […] über Selmsdorf bis zum Horizont," tatsächlich am ersten Tag gut 60 Kilometer bis Wismar. Der Besucherstrom riss für die nächsten vier Wochen nicht mehr ab und stellte die Stadt vor ungeahnte logistische Herausforderungen. Nicht nur brach der Verkehr in und um Lübeck zusammen, die Besucher aus Mecklenburg mussten auch versorgt werden, denn viele von ihnen kamen aus der Stadt gar nicht mehr heraus. "Es wurde alles geöffnet, Rathaus und Schulen, damit [die Gäste] nicht in der Kälte sein mussten." Auf dem Marktplatz entstand spontan eine Übernachtungsbörse, auf der die Lübecker private Unterkünfte zur Verfügung stellten. Der ehemalige Bürgermeister Michael Bouteiller ist heute noch überzeugt, dass man niemanden "in Lübeck finden kann, der das erlebt hat und sagt, dass das kein wichtiges Erlebnis für ihn gewesen sei."
Die Szenen aus Lübeck wiederholten sich an anderen Grenzübergängen. Auch Worbis/Duderstadt, Henneberg/Eußenhausen und andere Übergänge öffneten noch in der Nacht des 9. November 1989. Das "Zonenrandgebiet" hieß seine Gäste willkommen. An jenem denkwürdigen Wochenende im November galten neue Spielregeln: Verkehrsverbünde transportierten Besucher aus der DDR ohne Fahrschein; westliche Tankstellen führten plötzlich Zweitakter-Gemisch; Falschparken war erlaubt; West-Kaufhäuser nahmen Ost-Mark an; Theater, Opern, Zoos und Hallenbäder verteilten Freikarten; unzählige Lokale und Privatpersonen schenkten Kaffee und Bier aus; viele Einzelhändler ließen sich Begrüßungsangebote einfallen. Die kleinen und mittelgroßen Städte auf westlicher Seite wurden umgehend überrannt: Das bayerische Mellrichstadt mit seinen 5.000 Einwohnern beispielsweise lag nahe des Überganges Henneberg/Eußenhausen. Am 10. November waren die Einwohner schon in der Minderzahl: 7.000 Besucher bevölkerten die Stadt. Bis Ende des Monats zählte die Stadtverwaltung nicht weniger als 330.000 Besucher aus der DDR. Zwischen Freude und Verzweiflung schrieb der Bürgermeister an die bayerische Staatskanzlei und begehrte zu wissen, wer für die Mehrausgaben der Stadt aufkommen werde, die im Zuge der Grenzöffnung angefallen waren. In München hielt man den Besucherstrom jedoch für "beste Grenzlandförderung" – endlich war was los im "Zonenrandgebiet".
Die Dynamik an den bestehenden Grenzübergängen verlagerte sich in den folgenden Tagen an Orte entlang der Grenze, die keinen eigentlichen Übergang, aber eine ehemalige Verkehrsverbindung besaßen. Wiederum war "people power" am Werk: Menschen sammelten sich spontan auf beiden Seiten des Zaunes und forderten die Öffnung der Grenze. Viele trotzten den kalten Novembernächten und harrten bis in die frühen Morgenstunden aus. An der Gebrannten Brücke zwischen den thüringischen Sonneberg und dem bayerischen Neustadt fiel der Schlagbaum am 12. November, einem Sonntag, morgens um 4:48 Uhr. Ähnlich hatten am Tage zuvor Anwohner den Abbau des Grenzzauns in Stapelburg erzwungen, um über die Ecker nach Eckertal und Bad Harzburg zu gelangen. Als westdeutsche Bundesgrenzschützer die Demarkationslinie überschritten, um den zugewachsenen Weg freizuschneiden, verwies ein Major der DDR-Grenztruppen sie ein letztes Mal in die Schranken: "Bis hierher und nicht weiter!" Den Rest der Nacht arbeiteten west- und ostdeutsche Grenzer jedoch einträchtig an der Konstruktion einer Behelfsbrücke über die Ecker. Auch die anfänglichen Versuche, noch Übergangskontrollen in Stapelburg durchzuführen, gaben die DDR-Grenzeinheiten schnell auf.
Je später Grenzöffnungen stattfanden, desto koordinierter liefen sie ab. Kommunalpolitiker und Vertreter der jeweiligen Grenzorgane legten im Vorfeld das Datum der Öffnung fest, die Zugangswege zum neuen Übergang wurden befestigt, Lokalzeitungen kündigten das Ereignis an, die Anrainergemeinden organisierten gegenseitige Begrüßungsfeiern. Die Bilder und Abläufe begannen sich zu ähneln: Mit Spielmannszug oder Blaskapelle vorweg zogen Ostdeutsche und Westdeutsche in der jeweiligen Nachbargemeinde oder -stadt ein, wo sich umgehend Volksfeststimmung ausbreitete. Fremde lagen sich in den Armen, alte Bekanntschaften wurden aufgefrischt, gemeinsame Dialekte wiederentdeckt, Schlagbäume symbolisch zersägt. Auch Politprominenz ließ sich an verschiedenen Grenzorten blicken. Im geteilten Dorf Mödlareuth an der thüringisch-bayerischen Grenze ging am 9. Dezember sogar eine Grußbotschaft des amerikanischen Präsidenten George Bush ein, der die Westseite des Dorfes sechs Jahre zuvor besucht hatte. Oft öffneten die Grenztruppen eine neue Übergangsstelle zwar kurzfristig auf Druck der versammelten Menschen, schlossen den Zaun dann aber wieder und richteten anschließend eine Abfertigung mit festen Öffnungszeiten ein.
Bei aller Freude stürzte die Grenzöffnung viele DDR-Bürger auch in Verunsicherung. "Man kam ja mit den Gedanken und Gefühlen gar nicht mehr nach," erinnert sich ein leitender Mitarbeiter der LPG in Böckwitz im Bezirk Magdeburg. "[M]an war doch total überwältigt, regelrecht schockiert." Tief saß die Furcht vor Repressionen, mit denen in der DDR bei wirklichen oder vermeintlichen Grenzüberschreitungen zu rechnen war. Deshalb hatte man "bei allem Trubel auch ein bisschen Angst. Es hätte doch wirklich gut sein können, dass es nur ein paar Tage dauert. Und dann wäre man möglicherweise für die Dinge bestraft worden, die man jetzt so in der Ausgelassenheit machte. Die DDR bestand ja schließlich noch…" Gerade weil die Freude nicht frei war von Sorge, behielten auch die späteren Grenzöffnungen für die Beteiligten noch den Charakter eines Tabubruchs. Die "Befreiung" des Brockens im Harz beispielsweise blieb auch am 3. Dezember 1989 noch brisant, weil sich auf dem Brockenplateau eine Abhöranlage der Sowjets und der Stasi befanden. Die Öffnung der innerdeutschen Grenze zog sich von der Nacht des 9./10. November 1989 bis in das Frühjahr 1990. Im Februar 1990 bestanden 192 Grenzübergänge, fünf davon waren Fährverbindungen über die Elbe. "Reisefreiheit" wurde das Wort des Jahres 1989.
"Und plötzlich kommt und geht jeder, wie er will?" – Das Ende des Grenzregimes
So ansteckend die Feierstimmung der Grenzlandbewohner gewesen sein mag, die Offiziere der DDR-Grenztruppen teilten sie nicht. Anders als die Berliner SED-Führung sahen sich die Grenzer direkt mit den unzufriedenen DDR-Bürgern konfrontiert, die friedlich aber bestimmt die Öffnung der Grenze einforderten. Die Grenzer standen umgehend unter einem Rechtfertigungsdruck, der die SED-Spitze erst zeitversetzt erreichte. In den wenigen vorliegenden Erinnerungen von Grenzern an den 9. November 1989 spiegeln sich die Gemütszustände jener Offiziere, die sich mit Überzeugung der Sicherung der "Staatsgrenze West" verschrieben hatten. Ein Tag, der noch ganz normal begonnen hatte, endete in Aufruhr. Schabowskis Pressekonferenz läutete auch entlang der innerdeutschen Grenze das Ende des Grenzregimes ein. "Das Chaos nimmt seinen Lauf," notierte Oberstleutnant Harald Hentschel aus Bad Salzungen an jenem Tag in seinem Tagebuch. "Das ist das Ende des Sozialismus, meiner militärischen Laufbahn – meine Welt bricht zusammen. Alles, wofür ich gedient habe – es ist vorbei!"
Viele Grenzer sahen sich angesichts der direkten Herausforderung durch die Bürger im Grenzland von ihren Vorgesetzten verraten und verkauft. Von oben drangen keine Handlungsanweisungen für die plötzliche Ausnahmesituation durch. "Die Führung war total kopflos," erinnert sich der Grenzaufklärer Mario Gaudig aus Böckwitz, "auf einmal gab es keine direkten Befehle mehr." Entsprechend standen die Wachposten "den ersten, die über die Grenze wollten, hilflos und uninformiert gegenüber." An der Grenze, wo es für die Angehörigen der Grenztruppen nur den einen einzigen, systemerhaltenden Auftrag gegeben hatte; wo jahrzehntelang der Schutzstreifen mit wenigen Ausnahmen nur von Grenztruppen betreten werden durfte, dort "kommt und geht [plötzlich] jeder, wie er will? Als Grenzer stand man da wie der allerletzte Nachtwächter!" Oberstleutnant Hentschel reagierte mit wachsender "Verbitterung" auf die Ereignisse und beklagte sich über den "Haß", der ihm von Seiten der ostdeutschen Grenzlandbewohner entgegenschlage. Dass Hentschel weder die weit verbreitete Aversionen gegen das Grenzregime noch die Freude über die Grenzöffnung nachvollziehen konnte, zeigt sich in seiner Beschreibung der Grenzöffnung Theobaldshof/Andenhausen in der Rhön. Die Bewohner sah er im Moment des Grenzübertritts "wie Vieh, das zur Tränke rast!!!", den Superintendenten, der sich bei ihm bedankte, als "verlogen." Als sich von Gemeinde zu Gemeinde ein Übergang nach dem anderen auftat, rutschten die Grenztruppen selbst in einen unkoordinierten Auflösungsprozess. "Das war," beschrieb einer der Grenzsoldaten, "wie wenn Sie mit 230 Sachen ein Auto fahren und lassen plötzlich das Lenkrad los. Genau so. Der Prozess war völlig ungesteuert." Der ehemalige Kompaniechef in Böckwitz, Hans Habermann, fand im August 1990 noch nicht einmal mehr jemanden in der Kleiderkammer vor, der ihm die Uniform abgenommen hätte. "Da fühlt man sich schon ziemlich mies, wenn das nach einem Vierteljahrhundert so unrühmlich zu Ende geht. […] Ohne Anstand und Würde."
Den Angehörigen des Bundesgrenzschutzes (BGS) und des Zollgrenzdienstes (ZGD) fiel es offensichtlich leichter, die Freude der Grenzlandbewohner zu teilen. Trotzdem warf der Mauerfall auch für sie Fragen über die berufliche Zukunft auf. Dem BGS standen aufgrund des Schengener Abkommens von 1985 ohnehin strukturelle Veränderungen ins Haus, die durch den Wegfall der innerdeutschen Grenze erst recht auf die Tagesordnung rückten. Anders als ihre ostdeutschen Gegenüber mussten zwar weder Mitarbeiter des BGS noch des ZGD um ihren Arbeitsplatz fürchten, Versetzungen an neue Dienstorte standen freilich zu erwarten. Auch westlichen Grenzern war im November 1989 bewusst, dass ihre Routine ausgedient hatte. In den verfügbaren Erinnerungen von westdeutschen Grenzern stehen aber nicht Reflexionen über die Zukunft, sondern Begegnungen mit den ostdeutschen Grenzsoldaten im Vordergrund: Kooperation bei der Öffnung neuer Grenzübergänge, Fachsimpeln über den gemeinsamen Grenzabschnitt, Neugierde über Einrichtungen und Ausrüstung des "Gegners", Fußballspiele von Grenzern Ost gegen Grenzer West sowie private Einladungen. Ein beliebtes Gastgeschenk bei solchen Anlässen waren offenbar jene Fotos, die die Grenzaufklärer regelmäßig von den westdeutschen Grenzbeamten geschossen hatten.
Noch aber ging der Grenzdienst weiter, wenngleich sich die Aufgaben radikal verändert hatten. Für die plötzliche Reisefreiheit mussten neue Grenzübergänge sicher angelegt, der Verkehr geleitet, unzählige Anfragen beantwortet werden. Wie gehabt rapportierte der BGS auch weiterhin über die Grenzsicherung der DDR, wobei den Beamten klar war, dass sie über ein System in Auflösung berichteten. Ein letztes Mal hefteten die Grenzschützer des Grenzschutzkommandos Nord im Mai 1990 dienstbeflissen auch noch einen Vermerk zu einer kuriosen "Flucht" über die innerdeutsche Grenze ab. Zwei jungen Männern "gelang … die Flucht durch die Elbe in die Bundesrepublik Deutschland. Sperranlagen," so hieß es weiter, "sind im Bereich der Fluchtstelle nicht mehr vorhanden." Die Personenkontrolle an der innerdeutschen Grenze, die sich seit der Grenzöffnung oft nur aufs Durchwinken beschränkt hatte, wurde am 1. Juni 1990 offiziell eingestellt. Einen Monat später gaben beide Seiten auch den Streifendienst auf.
Bei offener Grenze traf das wirtschaftliche Ungleichgewicht zwischen der Bundesrepublik und der DDR hart aufeinander und brachte Zustände und Verhaltensweisen hervor, die das Grenzland schon in den späten 1940er und 1950er Jahren bestimmt hatten. Bevor der militärische Ausbau der Demarkationslinie im Mai 1952 seinen Anfang nahm, hatte sich die Grenze bereits als eine wirtschaftliche Binnengrenze entpuppt und Ost und West scharf voneinander geschieden. Schwarzmarktaktivitäten waren charakteristisch für die Trümmergesellschaft der Nachkriegsjahre, florierten aber besonders prächtig in der Viersektorenstadt Berlin und entlang der Demarkationslinie. Das wirtschaftliche Gefälle zwischen Ost und West verschärfte sich mit der Währungsreform vom Juni 1948. Gelegenheitsschmuggel weitete sich zu professionellen Schiebereien aus. Der Währungsdualismus beförderte auch das sogenannte "Grenzgängertum", das von beiden Seiten heftig bekämpft wurde. Ostdeutsche pendelten in die westlichen Grenzkreise, um dort D-Mark zu verdienen, lebten aber weiterhin östlich der Demarkationslinie und profitierten von den günstigeren Lebenshaltungskosten. Bewohner im westlichen Grenzland hingegen machten sich die niedrigeren Preise auf der östlichen Seite zunutze und kauften dort Waren und Dienstleistungen ein. Noch vor der Grenzschließung von 1952 sorgte die materielle Disparität für stereotype Wahrnehmungen vom "reichen Westen" und "armen Osten". Auch ohne elaborierte Grenzanlagen funktionierte die Grenze also bereits als "D-Mark-ationslinie".
In den Tagen nach der überraschenden Grenzöffnung machte sich das alte ökonomische Gefälle umgehend am Begrüßungsgeld fest. Dieses Handgeld, eingeführt 1970 in Höhe von 30 DM, sollte DDR-Bürgern auf Westreisen aushelfen, denen ihre eigene Regierung nur geringe Geldumtauschbeträge genehmigte. 1988 wurde die Auszahlung auf 100 DM erhöht, nachdem Honecker den 1:1 Umtausch auf 15 Mark reduziert hatte und die DDR-Rentner, für die eine vereinfachte Besuchsregelung galt, damit quasi mittellos auf Westreisen schickte. Am 31. Dezember 1989 stellte die Bundesregierung die Zahlung des Begrüßungsgeldes ein, nachdem westdeutsche Stellen seit dem 10. November gut zwei Milliarden DM ausgegeben hatten.
Das Begrüßungsgeld trug maßgeblich zum Kollaps der Infrastruktur im westdeutschen Grenzraum bei. In Braunschweig standen am 10. November 2.000 DDR-Bürger vor der Stadtverwaltung Schlange. In Duderstadt, wo am gleichen Tag schon eine halbe Million DM ausgezahlt worden war, ging an jenem Abend das Geld aus. Auch in Lübeck waren die Geldvorräte bald erschöpft. Die Stadt lieh sich daraufhin Geld bei einer Bank. Als auch der Bank das Geld ausging, sprang eine große Kaufhauskette ein. Von da an lief das Geld im Kreis: vom Kaufhaus in die Auszahlungsstellen, von dort in die Hände der DDR-Besucher und in großen Teilen zurück ins Kaufhaus. Der Aktienmarkt spekulierte sofort auf die Explosion der aufgestauten Konsumwünsche der Ostdeutschen: die Kurse der etablierten Kaufhausketten legten deutlich zu. Aber nicht jeder Besucher aus der DDR verfiel in einen Kaufrausch, wie es die westdeutsche Presse in den Tagen nach der Grenzöffnung gern hervorkehrte. In Hamburg stellten die Einzelhändler schnell fest, dass die DDR-Bürger sich gerne im Kaufhaus umschauten, den dort angebotenen Umtauschkurs von 1:9 oder 1:10 aber nicht sofort akzeptierten. Das Begrüßungsgeld allein reichte ohnehin nicht für teure Konsumgüter wie begehrte Elektrogeräte, sondern wurde in der Regel in kleineren Beträgen in Lebensmittel umgesetzt. Am 12. November 1989, einem Sonntag, als der Einzelhandel in vielen grenznahen Städten öffnete, blieben die Geschäfte in Hamburg deshalb geschlossen.
Währungsdualismus
Das Begrüßungsgeld stand symbolisch für die wieder greifbaren Probleme des Währungsdualismus. Das Währungsgefälle machte Geld-Spekulationen in kleinem Rahmen attraktiv. "Umrubeln" hieß der Vorgang im Wende-Jargon, den sogar Helmut Kohl dem amerikanischen Präsidenten George Bush erklärte: "Wenn jetzt z.B. ein Ehepaar mit drei Kindern in den Westen reise, erhalte es 500 DM Begrüßungsgeld. Wenn es für 200 DM Ware bei uns kaufe und 300 DM zum Kurs von 1:20 wieder in Ost-Mark der DDR umtausche, bringe es von dieser Reise noch praktisch 6 Durchschnittsgehälter mit zurück." Angesichts des Geldüberhanges der Privatsparer in der DDR schreckte aber selbst der Wechselkurs vom 1:10 nach ein paar Tagen nicht mehr. Besser als das mühsam Ersparte bei einer möglichen Währungsreform entwertet zu sehen, schien es immer noch, das Geld im Westen einfach auszugeben.
Auch Schmuggel spielte an der innerdeutschen Grenze plötzlich wieder eine Rolle. Wenn DDR-Bürger die hart erarbeitete Ost-Mark nur unter hohen Verlusten in West-Mark konvertieren konnten, lag es nahe, Sachwerte in der Bundesrepublik zu verkaufen. Antiquitäten, Briefmarken, Münzen, Meissner Porzellan, Jenaer Glas, optische Geräte von Zeiss-Jena, in der DDR subventionierte Lebensmittel und Textilien wanderten über die Grenze in die Bundesrepublik oder nach West-Berlin. Nicht nur Konsumgüter konnten versilbert werden: das Bonner Umweltministerium zeigte sich besorgt über die Ausfuhr geschützter Tiere. Über Vogelbörsen und Zoohändler, in Kleinanzeigen und auf Flohmärkten lief ein schwunghafter Handel mit besonders geschützten Tieren – lebend oder ausgestopft. Heimische Greifvögel, aber auch exotische Vögel wurden entweder eingefangen oder auch in Zoos gestohlen, um auf dem Schwarzmarkt gegen Westgeld verhökert zu werden. Schließlich kehrte ein weiteres Phänomen der 1950er Jahre an die Grenze zurück: das Grenzgängertum. Wer keine Ost-Mark zu tauschen oder keine Sachwerte zu versetzen hatte, konnte immer noch versuchen, im Westen durch Schwarzarbeit ein paar Mark zu verdienen.
Die Gewinner des Währungsgefälles waren die Westdeutschen. Mit der Aufhebung der Sperrzone am 13. November 1989 und dem Wegfall von Visumspflicht und Mindestumtausch am 1. Januar 1990 wurde das östliche Grenzland für Konsum-Ausflüge attraktiv. Hier ließ sich günstig einkaufen, nicht nur aufgrund der Kaufkraft der West-Mark gegenüber der Ost-Mark, sondern auch, weil diverse Waren und Dienstleistungen in der DDR hoch subventioniert waren. Der DDR-Ministerrat stellte fest, dass Westdeutsche "in grenznahen Orten […] als ständige Kunden für den wöchentlichen Familienbedarf auf[traten], wobei vor allem Brot, Brötchen, Teigwaren, Zucker, Mehl, Karpfen, Forellen und andere Nahrungsmittel gekauft werden." Als es im Frühjahr 1990 in einem Sonneberger Supermarkt zum ersten Mal Bananen zu kaufen gab, fand der Abteilungsleiter zu seinem Erstaunen Bundesbürger in der Warteschlange vor. Der Dezember war noch keinen Tag alt, da schätzte das DDR-Handelsministerium den Wert der von Touristen "abgekauften Waren" bereits auf über zwei Milliarden Mark, eingedenk der Subventionen gar auf drei bis vier Milliarden. Die Bedingungen für diesen "Abkauf" waren für Westdeutsche in der Tat günstig: Wem der offizielle Wechselkurs von 1:3 für die subventionierten Preise in der DDR nicht ausreichte, schmuggelte noch Ost-Mark für den Einkauf dazu. An der Minol-Tankstelle am Ortsausgang von Sonneberg machte schwarz getauschte Ost-Mark das Tanken zu einem Pfennig-Vergnügen. Nicht nur der Tank, auch Ersatzkanister wurden gefüllt; ein Kunde brachte gar ein 200-Liter-Fass für Diesel mit. "Sonneberg," so schien es den Anwohnern, "das ist für sie ein einziger großer Wühltisch."
Der Währungsdualismus wirkte sich nachhaltig auf die Beziehungen zwischen Ost- und Westdeutschen in der Wendezeit aus und schlug bei aller Euphorie über die Grenzöffnung auch tiefe Wunden. Vor allem das Auftreten etlicher Westdeutscher blieb den östlichen Grenzland-Bewohnern in unguter Erinnerung. Zu den Schnäppchenjägern gesellten sich Immobilienspekulanten, gefolgt von kaufkräftigen Touristen, die sich aufführten wie "Hänschen Prahlhans". Umgekehrt häuften sich in der westdeutschen Presse bald die Klagen über "Mehrfachabholer" des Begrüßungsgeldes, die beim ersten Mal den Personalausweis, beim zweiten Mal den Pass vorlegten oder sich mal mit, mal ohne Kinder anstellten. Auch einen Anstieg der Ladendiebstähle meinten westdeutsche Kaufhäuser und Einzelhändler zu verzeichnen, obwohl der Anteil der Diebstähle gemessen am Besucheraufkommen von rund zehn Millionen DDR-Bürgern bis Mitte Dezember erstaunlich gering ausfiel. Angesichts der 119.000 Übersiedler, die schon vor dem Mauerfall über Ungarn und die Tschechoslowakei in die Bundesrepublik gekommen waren und seit dem 9. November von weiteren 225.000 verstärkt wurden, ließen Westdeutsche ihre Besucher auch immer öfter wissen, dass sie herzlich willkommen seien, sofern sie auch wieder abreisten.
"Ossi go home" – noch im November 1989 berichtete Der Spiegel über "Gewalt gegen Besucher aus der Nachbarrepublik" und die "altbekannte Arroganz [der Westdeutschen] gegenüber den armen Verwandten von drüben." Noch einmal war es das Begrüßungsgeld, das den Stimmungsumschwung einfing. DDR-Bürger empfanden die gutgemeinten 100 DM "mehr und mehr als Demütigung, als Almosen, sie fühlen sich nicht wohl dabei." Die Party war vorbei.
Wie in Berlin konnte es vielen Grenzlandbewohnern zunächst aber gar nicht schnell genug gehen, die Sperranlagen verschwinden zu sehen. Zeitgleich mit dem Abriss von Grenzanlagen für die neuen Übergänge setzte der "private Abbau" ein. Ähnlich den "Mauerspechten" in Berlin waren auch im Grenzland Souvenirjäger unterwegs, die Schilder, Hoheitszeichen, Stacheldraht und Stücke des Metallgitterzaunes mitnahmen. Teilweise schlug die Souvenirjagd auch in Vandalismus um. Was im Frühjahr 1990 nach der Einrichtung der neuen Grenzübergänge noch stand, wurde von den verbleibenden Grenztruppen abgebaut; etliche DDR-Grenzer hatten den Dienst aber schon längst quittiert. Als besonders kostspielig erwies sich die Suche nach Minen im Grenzstreifen. Zwischen 1961 und 1985, hatten die Grenztruppen der DDR 1,3 Millionen Minen verlegt. Die meisten Minenfelder wurden noch Mitte der 1980er Jahre wieder geräumt, allerdings belegten die vorhandenen Kataster eine Diskrepanz zwischen verlegten und geräumten Minen – fast 34.000 Minen wurden nie gefunden. Das Bundesverteidigungsministerium gab deshalb für mindestens 83 Millionen DM die Minennachsuche in Auftrag. Bis Mitte der 1990er Jahre war der Abbau der Sperranlagen abgeschlossen, auch die Minennachsuche galt als beendet. Im Frühjahr 2012 machte das Thema allerdings noch einmal Schlagzeilen, als das Land Thüringen abermals auf die Minengefahr im ehemaligen Grenzstreifen hinwies.
Nur wenige Grenzgemeinden besaßen Anfang der 1990er Jahre die Weitsicht, einen Teil der Grenzanlagen quasi als Freilichtmuseum zur Geschichte der deutschen Teilung zu erhalten. Ein bekanntes Beispiel sind die Sperranlagen im ehemals geteilten Dorf Mödlareuth. In "Klein Berlin", wie das bayerisch-thüringische Dorf wegen seiner Grenzmauer genannt wurde, formierte sich noch 1990 ein deutsch-deutscher Museumsverein. Gut 200 Meter Grenzmauer und einen Beobachtungsturm konnten die Mitglieder bewahren. Besonders die zuvor abgeschirmten Thüringer Bewohner des geteilten Dorfes sahen in dem plötzlichen Besucherrummel anfangs jedoch keinen Gewinn an Lebensqualität. Mittlerweile hat sich das Dorf mit seiner Rolle als Freiluftmuseum arrangiert, obwohl auf jeden der knapp 60 Mödlareuther tausend Touristen pro Jahr kommen. In Mödlareuth setzt sich damit ein Trend fort: Der westliche Teil des Dorfes war bereits vor November 1989 eine Attraktion für Grenztouristen gewesen. Diese Popularität blieb ungebrochen, nur ist das Dorf eben nicht länger Brennpunkt, sondern Museum des Kalten Krieges.
Längst ist die ehemalige innerdeutsche Grenze musealisiert und fest im Kalender der Jubiläen zum Mauerfall und Vereinigung von 1989/90 etabliert. Eine Reihe von Grenzmuseen säumt die ehemalige Grenze, gut 100 Gedenktafeln erinnern sowohl an die Teilung, aber eben auch an die Grenzöffnung am jeweiligen Ort. Einzelne Gemeinden feiern nach wie vor den Tag "ihrer" Grenzöffnung mit Blasmusik und Glühwein, die runden Geburtstage allemal. In der Erinnerung stehen in der Regel nicht die Missverständnisse und Demütigungen im Vordergrund, sondern die "grenzenlose Freude mitten in Deutschland."
Zitierweise: Astrid M. Eckert, Der andere Mauerfall. Die Öffnung der innerdeutschen Grenze 1989, in: Deutschland Archiv Online, 26.04.2013, Link: http://www.bpb.de/158899
Aus keinem Staat wanderten zwischen 2015 und 2019 mehr Personen nach Deutschland ein als aus Syrien. Darauf folgten Rumänien, Kroatien sowie Afghanistan.
Werden die Fortzüge von Deutschland ins Ausland von den Zuzügen vom Ausland nach Deutschland abgezogen, ergibt sich daraus ein Wanderungssaldo von +8,9 Millionen Personen für die Jahre 1991 bis 2020.
Dr. Eckert ist Associate Professor für neuere und neueste deutsche Geschichte an der Emory University in Atlanta (USA).
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