I.
Die von Ulrich Müther (1934–2007) seit den frühen 1960er-Jahren konzipierten Betonschalen sind heute international bekannt und werden zunehmend (wieder) wertgeschätzt.
Die Gründe, warum in der DDR insbesondere in den 1960er- und 70er-Jahren viele Schalenbauten errichtet wurden, sind vor allem in ihren konstruktiven Vorteilen zu sehen: Mit ihnen lassen sich große Spannweiten stützenfrei überspannen, und sie verfügen trotz ihrer geringen Materialstärke über eine große Stabilität. Außerdem waren sie schnell und materialsparend herzustellen und überzeugten ästhetisch: Durch ihre Leichtigkeit der Struktur sowie ihre ausdrucksstarke und kraftvolle Form, welche mit Hilfe vielfältig variabler Wölbungen der Schalenfläche zustande kam, eigneten sich diese Konstruktionen insbesondere für repräsentative Bauaufgaben wie zum Beispiel Mehrzweckhallen, Gaststätten, Sakralbauten oder andere Gesellschaftsbauten, die Individualität und Modernität ausstrahlen sollten.
Der aus Binz auf Rügen stammende Ulrich Müther war Bauingenieur und leitete seit 1959 den väterlichen Baubetrieb in seiner Heimatstadt.
Zu den bekanntesten Schalenbauten Müthers gehört zweifellos die am Ostseestrand des Rostocker Stadtteils Warnemünde gelegene Ausflugsgaststätte "Teepott".
Der dreigeschossige Rundbau wurde auf Beschluss des Rates der Stadt anlässlich der 750-Jahrfeier Rostocks im Jahr 1968 auf den Grundmauern seines ebenfalls zylindrischen Vorgängerbaus, dem 1928 erbauten und 1945 abgebrannten "Teepavillon", errichtet. Zusammen mit dem unmittelbar benachbarten, 1897/98 erbauten, 39 Meter hohen Leuchtturm bildet er am Ende der Strandpromenade direkt neben der Hafeneinfahrt einen markanten städtebaulichen Blickpunkt. Ulrich Müther entwarf die Schalenkonstruktion, die Architekten Erich Kaufmann, Hans Fleischhauer und Carl-Heinz Pastor vom Wohnungsbaukombinat Rostock waren für die Gestaltung und den architektonischen Entwurf der Gaststätte verantwortlich.
Die städtebauliche Anbindung des Gebäudes an den Strand und den benachbarten Leuchtturm war ein wichtiger Bestandteil der Projektierung. Da der Bau zu allen Seiten eine ausdrucksstarke Gestaltung aufweisen sollte, wurde eine dreifach geschwungene Hyparschalenkonstruktion gewählt.
Im Inneren befand sich ein Restaurant mit 128 Plätzen im Erdgeschoss, ein Café mit 162 Plätzen im Obergeschoss, das mit einer zentral angeordneten, als Tanzfläche dienenden, offenen Zwischenebene durch Leichtbautreppen verbunden war, sowie eine Bar mit 90 Plätzen im Sockel-/Untergeschoss des Gebäudes. Restaurant und Café waren zur Seeseite hin orientiert und boten einen Panoramablick auf Strand, Meer und Hafeneinfahrt.
II.
Angesichts des umfangreichen Werks an Betonschalen stellt sich die Frage, wie es unter den Bedingungen der Bauwirtschaft der DDR überhaupt dazu kommen konnte, dass ein einzelner Betrieb seine unternehmerische Eigenständigkeit bewahren und in Eigenregie zahlreiche Projekte planen und realisieren konnte – wie Ulrich Müther es mit seiner Baufirma tat.
Die Gründe für die exzeptionelle Stellung Ulrich Müthers im Bauwesen der DDR waren vielschichtig. Seine erfolgreiche Tätigkeit im Schalenbau war eng verknüpft mit seiner Biografie. In besonderem Maße erwies es sich als vorteilhaft, dass er sowohl Ingenieur als auch Leiter einer Baufirma war und daher die Projekte von der Planung bis zur Herstellung aus einer Hand anbieten konnte: Müther trug nicht nur die Verantwortung für die Konzeption und die Konstruktion, sondern auch für die Ausführung des Tragwerks. In dieser Eigenschaft glich er den großen Pionieren des Schalenbaus, etwa Pier Luigi Nervi (1891–1979) und Félix Candela (1910–1997), die ebenfalls Ingenieure und Bauunternehmer in einer Person waren.
Ulrich Müther wurde 1959 technischer Leiter der von seinem Vater gegründeten Binzer Baufirma und übernahm 1960 den Vorsitz des Betriebes, der in eine Produktionsgenossenschaft des Handwerks (PGH) umgewandelt worden war. Ab 1972, nach der Umwandlung der PGH Bau Binz in einen Volkseigenen Betrieb (VEB), wurde er Direktor der fortan VEB Spezialbetonbau Rügen genannten Firma
Zunächst baute Müther in den 60er- und 70er-Jahren viele Schalen im eigenen Land, bevor er auch Auslandsprojekte realisierte. Das erste Projekt im Ausland war das mit einem Kulturzentrum verbundene Raumflugplanetarium im libyschen Tripolis, das die Firma 1979/80 realisierte.
III.
Müthers erste Aufträge ergaben sich Stück für Stück aus seinem Lebensweg, der besonders von seiner Neigung zur Mathematik und durch sein unternehmerisches Talent geprägt war. Eine Schlüsselfunktion nimmt sein erstes Projekt ein, das aus seiner Diplomarbeit hervorging.
Hyparschalendach über dem Gesellschaftsraum im Ferienheim "Haus der Stahlwerker" in Binz, 1964 (© Müther-Archiv an der Hochschule Wismar)
Hyparschalendach über dem Gesellschaftsraum im Ferienheim "Haus der Stahlwerker" in Binz, 1964 (© Müther-Archiv an der Hochschule Wismar)
Müther fertigte die Arbeit im Hinblick auf ein zu realisierendes Bauprojekt in seinem Heimatort Binz an: Die Dachterrasse auf dem Erweiterungsbau des Ferienheimes "Haus der Stahlwerker" des VEB Stahl- und Walzwerks Riesa sollte überdacht werden und einen Gesellschaftsraum erhalten. Das Projekt entstand in Zusammenarbeit mit der Abteilung Stadt- und Dorfplanung der Kreisverwaltung Rügen.
Das Schalendach des "Hauses der Stahlwerker" nimmt eine Schlüsselfunktion im Werk Ulrich Müthers ein: Es war die erste Hyparschale, die er verwirklichte, und sie zog eine über 30 Jahre anhaltende Tätigkeit im Bereich Schalenbau nach sich. Außerdem zählt die heute nicht mehr erhaltene Konstruktion zu den frühesten Anwendungsbeispielen von HP-Stahlbetonschalen in der DDR.
Hyparschalendach des Speisesaals im Kinderferienlager Borchtitz, 1965 (© Müther-Archiv an der Hochschule Wismar)
Hyparschalendach des Speisesaals im Kinderferienlager Borchtitz, 1965 (© Müther-Archiv an der Hochschule Wismar)
Diese erste gebaute Schale eröffnete Müthers Karriere in der Schalenbaukunst der DDR: Gleich bei seinem zweiten Projekt, dem Dach für den Speisesaal eines Kinderferienlagers in Borchtitz auf Rügen, wandte er diesen Bautyp als leicht modifiziertes Wiederverwertungsprojekt an. Hier wurde 1965 ein ebensolches vierteiliges HP-Schalendach – allerdings mit geringen konstruktiven Abweichungen und mit 18 x 18 Metern Schalenfläche in etwas größeren Abmessungen – errichtet, das außerdem nach einer anderen Methode berechnet wurde.
Gaststätte "Inselparadies" am Strand von Baabe, 1966 (© Müther-Archiv an der Hochschule Wismar)
Gaststätte "Inselparadies" am Strand von Baabe, 1966 (© Müther-Archiv an der Hochschule Wismar)
Zuvor jedoch, im Jahr 1966, realisierte Ulrich Müther gemeinsam mit dem Berliner Architekten Ingo Schönrock seine dritte Betonschale, die 17,60 x 17,60 Meter weit gespannte Überdachung des Restaurants "Inselparadies" in Baabe auf Rügen, die zugleich seine erste in Form einer Pilzschale war.
Müthers viertes Projekt, sein erstes außerhalb von Rügen, entstand gleichfalls 1966: die bereits erwähnte Halle "Bauwesen und Erdöl" für die alljährlich stattfindende Ostseemesse in Rostock, die er in Zusammenarbeit mit dem Rostocker Architekten Erich Kaufmann realisierte. Für sie erhielt Müther erstmals öffentliche Anerkennung.
Messehalle "Bauwesen & Erdöl" in Rostock-Schutow, 1966 (© Müther-Archiv an der Hochschule Wismar)
Messehalle "Bauwesen & Erdöl" in Rostock-Schutow, 1966 (© Müther-Archiv an der Hochschule Wismar)
Dieses Werk stellt – wie schon sein erstes – ein Schlüsselwerk für sein weiteres Schaffen dar, denn aus diesem Projekt ergaben sich die nächsten beiden großen Aufträge: der "Teepott" in Rostock-Warnemünde und die Mehrzweckhalle in Rostock-Lütten Klein.
IV.
Im Zusammenhang mit dem Bau der Schalen in Rostock, insbesondere des prominenten "Teepotts" in Warnemünde, wurde der 1. Sekretär der SED-Bezirksleitung von Berlin, Paul Verner, der als Mitglied der Parteispitze häufig an den Eröffnungen der Schalenbauten teilnahm, auf Müther aufmerksam. Verner setzte sich dafür ein, dass auch in der Hauptstadt eine "Müther-Schale" gebaut wurde – das "Ahornblatt".
Bereits 1967 waren der Architekt Erich Kaufmann vom VEB Hochbauprojektierung Rostock und Ulrich Müther durch den Hauptplanträger, den Magistrat von Groß-Berlin, mit der Ausarbeitung einer Studie für eine "zentrale Betriebsgaststätte" in Ost-Berlin beauftragt worden.
Die Großgaststätte "Ahornblatt" wurde 1970 errichtet und 1973 eröffnet.
Gaststätte "Ahornblatt" in Berlin-Mitte, 1973 (© Müther-Archiv an der Hochschule Wismar)
Gaststätte "Ahornblatt" in Berlin-Mitte, 1973 (© Müther-Archiv an der Hochschule Wismar)
Mit seinen fünf fächerartig aneinandergefügten Schalen war das "Ahornblatt" ein besonders ausgefallenes Bauwerk.
Unter großem öffentlichen Protest wurde das Baudenkmal im Jahr 2000 abgebrochen. Durch den Abriss setzte jedoch eine neue Wertschätzung für das Werk des Schalenbaumeisters Müther ein.
V.
Einen bedeutenden Auftrag, die Rennschlittenbahn in Oberhof, erhielt Ulrich Müther im Zusammenhang mit der Spritzbetontechnologie, die in seiner Firma erprobt und weiterentwickelt wurde.
Mit einer anderen Technik, dem Nassspritzverfahren, das sich auch für schalungsloses Spritzbetonieren eignete, erweckte Müther 1970 erneut große Aufmerksamkeit.
Oberhof, Rennschlitten- und Bobbahn im Bau, 1970 (© Müther-Archiv an der Hochschule Wismar)
Oberhof, Rennschlitten- und Bobbahn im Bau, 1970 (© Müther-Archiv an der Hochschule Wismar)
In Oberhof wurde durch Müthers Firma weltweit erstmalig eine Rennschlittenbahn schalungslos im Nassspritzverfahren hergestellt.
Die Initiative zur Anwendung des Nassspritzverfahrens bei diesem Projekt war von Müther selbst ausgegangen. Anhand einer Musterfläche hatte er festgestellt, dass seine Trockenspritzmaschine nicht leistungsstark genug war, um die Flächen in einer angemessenen Qualität herzustellen. Daraufhin erhielt Müther den Auftrag, sich um die Beschaffung einer "Hochleistungsmaschine" zu kümmern.
VI.
Ulrich Müthers Unternehmen war nicht das einzige, das in der DDR im Spritzbetonverfahren arbeitete. Auch andere Firmen verfügten über die notwendigen Geräte und setzten sie ein.
Sein Alleinstellungsmerkmal gegenüber diesen Baufirmen war allerdings, dass Müther die Planung und Ausführung ambitionierter Schalenbauten aus einer Hand anbieten konnte. Er verfügte über umfassende Kenntnisse des internationalen Betonschalenbaus,
Seine hervorgehobene Position in der Bauwirtschaft der DDR beschrieb Müther folgendermaßen: "Die PGH Bau hat dann überwiegend die Planung und Baudurchführung des Gebäudes als Generalauftragnehmer übernommen. Wir haben also das Komplettpaket gemacht, so ähnlich wie es in Frankreich üblich ist. Dort übernehmen die Baubetriebe auch die Architektenleistung mit. Und das war an sich mein Erfolgsrezept. Jeder, der mit Müther in Binz einen Vertrag machte, bekam ein fertiges Projekt und musste nachher nicht suchen, ob irgendjemand es ausführte, sondern es wurde so ausführt. Ob das immer gut geworden ist, ist die nächste Frage, aber auf jeden Fall habe ich gebaut."
Die Sonderstellung Müthers steigerte zudem sein überregionales Ansehen und führte dazu, dass potentielle Auftraggeber auch selbst an ihn herantraten und ihn um Zusammenarbeit baten, sodass ein Auftrag nicht immer von Müthers eigenem Engagement abhing. Dies geht beispielsweise aus einem Schreiben des Wohnungsbaukombinates (WBK) Magdeburg an Müther hervor: Die Planungsabteilung des WBK wandte sich an ihn im Rahmen eines beabsichtigten Schirmschalenprojekts für ein Neubauwohngebiet und berichtete von der erfolglosen Suche nach einem Betrieb, der bereit wäre, Schalenbauwerke herzustellen. Das WBK erbat in dem Brief Müthers Expertenmeinung in Bezug auf herstellungstechnische Details.
Müther war allerdings nicht in alle Betonschalenprojekte in der DDR involviert. Zum Beispiel wurde 1978 eine Sporthalle in Kienbaum mit einer Zylinderschale aus Stahlbeton überdacht, die im Trockenspritzverfahren hergestellt wurde,
Für seine Ausnahmestellung innerhalb des Bauwesens der DDR gab es weitere Gründe: Müther war politisch nicht aktiv. Auf die Frage, wie sich "ein solcher Individualist" wie er im "Einheitsstaat" DDR behaupten konnte, sagte Müther rückblickend im Jahr 2001: "Ich war immer parteilos. Wir haben aber erfolgreich gebaut und haben interessant gebaut. Und wir haben natürlich auch den ganz großen Vorteil gehabt: Wir waren in keinem Kombinat, wir waren ja so Außenseiter. Wir saßen an der Ostsee, auf der Insel Rügen, weit ab von Berlin, Rostock, Dresden. Und wir wurden etwas gebraucht. Einmal für die Auslandsbauten, einmal auch für diese Prestigebauten hier in der ehemaligen DDR."
Neben den Aspekten der geografischen Randlage seines Betriebes und der Aufmerksamkeit, die er mit seinen außergewöhnlichen Konstruktionen erregte, erwähnte Müther in einem Gespräch mit der Regisseurin Margarete Fuchs rückblickend noch einen dritten Gesichtspunkt, nämlich dass er über gutes Personal verfügt habe, über Mitarbeiter, die gern etwas Ausgefallenes planen und bauen wollten: "Ich hatte an sich den Ruf, dass man in Binz etwas Außergewöhnliches machen kann und dann sind auch sehr gute Leute gekommen. Ich hatte sehr gute Mitarbeiter auch im technischen Bereich. Zum Beispiel einen Jan Müller, Bauingenieur, der hat mich mal nach einem Vortrag an der TU Dresden angesprochen und sagte, er wolle mal was Interessantes machen, und ist dann von Berlin nach Binz gekommen und hat bei uns im Konstruktionsbüro mitgemacht. Und ich habe mir einen ganz eigenwilligen Architekten geholt aus Weimar, der mich dort angesprochen hatte und von dem Freunde gesagt haben: 'Der kann was, der würde zu deinem Team passen.' […] Und so waren wir hier eine kleine Elite-Truppe an der Ostsee. Es war immer ein kleines Kollektiv, nie groß."
Die Möglichkeit, seinen Betrieb unter den Bedingungen der sozialistischen Bauwirtschaft fast wie ein Privatunternehmen führen zu können, war Müthers Erfolgsgeheimnis. Dadurch, dass er in der Provinz lebte und nicht unter ständiger staatlicher Kontrolle stand, genoss er etwas mehr Freiraum als andere Betriebe und konnte sich seine Eigenständigkeit bewahren.
Obwohl Müther nicht als der alleinige Schöpfer der Schalenarchitekturen anzusehen ist, da er bereits im Entwurfsstadium fast immer mit Architekten zusammenarbeitete, kann trotzdem durchaus von "Müther-Schalen" gesprochen werden, da er mit seinem Betrieb die Projekte üblicherweise vom Entwurf bis zur Fertigstellung hauptverantwortlich betreute und die Kontrolle von der Tragwerksplanung bis zur -ausführung beibehielt.