"Wie lange braucht ein Deutscher aus Hamburg, um über die Grenze eines anderen Landes zu kommen? Diese Messzahlen internationaler Verhältnisse sind vielleicht außenpolitisch irrelevant (aber sind sie das wirklich?); für jeden einzelnen, der sich aufmacht, werden sie wichtig".
In der zeitgeschichtlichen Erforschung der 1970er- und 80er-Jahre ist die Autobahnforschung bisher wenig präsent, während für die Autobahngeschichte bis in die Nachkriegszeit etliche verkehrs- und kulturgeschichtliche Studien vorliegen. Die Vorgeschichte des Autobahnbaus in der Weimarer Republik
Im Folgenden sollen am Beispiel eines neuen Projektes zur Autobahnverbindung zwischen Hamburg und Berlin in Form eines Werkstattberichtes Perspektiven auf erweiternde Fragestellungen zur Verkehrs- und Autobahnforschung aufgezeigt werden.
Die Analyse deutsch-deutscher Beziehungen an der Autobahn rückt eine bisher wenig bekannte, alltagsgeschichtliche Perspektive auf die DDR der 1980er-Jahre in den Vordergrund, wobei die Autobahn als Raum verstanden wird, in dem sich deutsch-deutsche Begegnungen zwischen Reisenden aus Ost und West, Berufspendlern aus West-Berlin, Grenzbeamten, Passkontrolleuren, Tankwärtern, Raststätten-Mitarbeitern, Intershop-Besuchern aus Ost und West sowie Volkspolizisten abspielten.
Die Studie setzt in den 1970er-Jahren ein und ist auf drei Ebenen angesiedelt: Erstens werden die politischen Annäherungs- und Aushandlungsprozesse zwischen der Bundesrepublik und der DDR untersucht. Ausgangspunkt bildeten unter anderem die neue Ostpolitik Willy Brandts, aber auch praktische Fragen wie die Abwicklung des Transitverkehrs, die in den 1970er-Jahren neu ausgehandelt und im Transitvertrag von 1971 festgeschrieben wurden. Dieser bildete die Grundlage für Verhandlungen um den Neubau der A 24 bis 1978 sowie der Durchführung des Baus bis 1982, der auf der zweiten – baugeschichtlichen – Ebene der Studie rekonstruiert wird. Drittens stehen erfahrungsgeschichtliche Aspekte im Vordergrund – hier wird die Nutzung und Wahrnehmung der Autobahn durch Interviews mit verschiedenen Nutzergruppen dokumentiert. Dabei lautet eine der Hauptfragen, welche Bilder diese Begegnungen vom jeweils "Anderen" diesseits und jenseits der deutsch-deutschen Grenze schufen.
Annäherungsperspektiven aus Ost und West nach 1945
Autobahnplanungen in der Bundesrepublik 1952 in einer Studie des Bundesverkehrsministers (© Hans-Christoph Seebohm, Straßenplanung und Forschung, Bielefeld 1952)
Autobahnplanungen in der Bundesrepublik 1952 in einer Studie des Bundesverkehrsministers (© Hans-Christoph Seebohm, Straßenplanung und Forschung, Bielefeld 1952)
Die DDR hatte sich schon sehr früh Gedanken um den Ausbau ihres Autobahnnetzes gemacht. Unter anderem gehörte der Autobahnbau zum ambitionierten Aufbauprogramm der 1950er-Jahre. Zunächst benutzte bzw. erneuerte die DDR jedoch die existierenden 1.400 Kilometer des alten Reichsautobahnnetzes auf ihrem Gebiet. Eine wichtige Streckenneuplanung war die Verbindung zwischen Berlin und Rostock, da der Seehafen Rostock ein wesentlicher Außenhandelsstandort der DDR werden sollte. Nicht nur städtebaulich wurde Rostock aufgerüstet – verwiesen sei auf den Ausbau der Langen Straße als eine Art Konkurrenzprojekt zur Berliner Stalinallee oder die beispielhafte Hochhaus-Siedlung Rostock-Schmarl in den 1960er-Jahren –, auch der Ausbau der Verkehrsinfrastruktur wurde großräumig geplant. Allerdings konnte die Strecke Berlin–Rostock über Wittstock erst Mitte der 1970er-Jahre eröffnet werden, da mit dem Mauerbau 1961 alle Mittelzusagen für den Autobahnneubau gestoppt wurden. Für den Bau war das neu gegründete Autobahnbaukombinat zuständig. Axel Dossmann hat in seiner Studie "Begrenzte Mobilität" den neuralgischen Punkt der DDR-Autobahnen getroffen: Am Binnennetz wurde zwar eifrig geplant, die Verbindungen nach Westdeutschland sollten jedoch ein nur marginaler Teil der Planungen bleiben.
Auch in der Bundesrepublik gingen die Autobahnplanungen zunächst an einer Verbindung von Hamburg nach Berlin vorbei. Der Bundesminister für Verkehr Hans-Christoph Seebohm – von 1949 bis 1966 im Amt – mahnte zwar 1951 anlässlich der Bauausstellung "Constructa" in Hannover, "ein gesundes und leistungsfähiges Verkehrswesen" sei "eine unerlässliche Voraussetzung für jeden wirtschaftlichen Wiederaufstieg".
Anbahnung von Beziehungen durch eine Autobahn
Dass die Verbindung zwischen Hamburg und Berlin in der Verkehrsplanung der Bundesregierung fehlte, wurde in der Presse der Bundesrepublik immer wieder thematisiert. In den späten 1960er- und in den 70er-Jahren berichteten Tageszeitungen hier in regelmäßigem Abstand über das Problem des sogenannten Berlin-Verkehrs
Überhaupt schien seit Mitte der 1960er-Jahre auf beiden Seiten eine neue Bereitschaft spürbar zu sein, den mühsamen deutsch-deutschen Transitalltag durch Gespräche und neue Vereinbarungen zu erleichtern, wie die vielfach zitierte Rede von Egon Bahr "Wandel durch Annäherung" 1965 zeigt. Dennoch verwies auch Bahr auf die Grenzen der Annäherung, insbesondere in Bezug auf eine mögliche Anerkennung der DDR: "Niemand von uns erkennt das Ulbricht-Regime an, wenn er in Töpen, in Marienborn oder in Lauenburg Wegegebühr zahlt und seinen Personalausweis im Schlitz verschwinden läßt, hinter dem er überprüft wird. Daß wir einer Reihe von Kategorien von Menschen empfehlen, den Luftweg zu benutzen, weil die anderen Wege eben nicht frei von Zugriffsmöglichkeiten des Ulbricht-Regimes sind, ist auch keine Anerkennung."
Bis in die 1970er-Jahre war in der westdeutschen Presse immer wieder über willkürliche Gebührenerhebungen an Grenzübergängen seitens der DDR-Organe berichtet worden. Die DDR verdiente tatsächlich gut daran und versuchte von dem vereinbarten Sondertarif abzuweichen, indem sie die Gebühren nach Nutzlast berechnete. Am 16. Februar 1970 berichtete die "Frankfurter Allgemeine Zeitung" über Vorfälle an der Grenzübergangsstelle Marienborn, an der Spezialfahrzeuge wie Milch- und Tanktransporter auf der Strecke Helmstedt–Berlin sonst mit einem Pauschalpreis von 15 Mark bzw. mit Anhänger 30 Mark zu rechnen hatten. Nun sollten sie 50 bis 85 Mark zahlen.
Am 11. Dezember 1971 wird das Transitabkommen zwischen den Regierungen der DDR und der BRD paraphiert. Links der Staatssekretär im Bundeskanzleramt der BRD, Egon Bahr, rechts der Staatssekretär beim Ministerrat der DDR, Michael Kohl (© BArch, Bild 183-K1211-014; Hubert Link/ADN-ZB)
Am 11. Dezember 1971 wird das Transitabkommen zwischen den Regierungen der DDR und der BRD paraphiert. Links der Staatssekretär im Bundeskanzleramt der BRD, Egon Bahr, rechts der Staatssekretär beim Ministerrat der DDR, Michael Kohl (© BArch, Bild 183-K1211-014; Hubert Link/ADN-ZB)
Das am 14. Dezember 1971 zwischen der Bundesrepublik und der DDR geschlossene Abkommen setzte eine neue Besuchsregelung in Kraft und regelte zudem die Bestimmungen zur Abfertigung.
Der Aushandlungsprozess dieses ersten Regierungsabkommens zwischen beiden deutschen Staaten war mühsam gewesen, zugleich wurden jedoch große Hoffnungen in die Vereinbarung gesetzt: "Zu überwinden waren, neben rein sachlichen Schwierigkeiten, starke Barrieren des Mißtrauens. In dem Maße, wie sich das Abkommen in der Praxis bewährt, wird es zum Abbau des Mißtrauens zwischen den beiden deutschen Staaten in Deutschland beitragen. […] Für sich genommen ist das Abkommen darüberhinaus ein Zeichen der Ermutigung und der Hoffnung. Die Aussichten für praktische Verbesserungen in Deutschland sind jetzt realer."
Das Transitabkommen sorgte zweifellos für eine Normalisierung im deutsch-deutschen Reiseverkehr, die auch am Anstieg des Transitverkehrsaufkommens abzulesen ist: 1965 reisten im Berlin-Transit über die Grenzübergangsstelle (in der Amtssprache der DDR kurz: GÜSt) Drewitz 1.468.185 PKW, 1988 schon 5.601.198 PKW.
Erste Vorschläge zum Bau einer Autobahn zwischen der Hansestadt und Berlin hatte der Hamburger Wirtschaftssenator Helmuth Kern schon in den späten 1960er-Jahren unterbreitet.
Eine der ersten Überlegungen zu einer Autobahnstrecke zwischen Hamburg und Berlin. Bezeichnenderweise kommt die erste Karte mit einer konkreten Streckenplanung nicht vom Bundesverkehrsministerium, sondern aus der Hamburger Behörde für Wirtschaft und Verkehr (© Die Welt, 30.12.1971)
Eine der ersten Überlegungen zu einer Autobahnstrecke zwischen Hamburg und Berlin. Bezeichnenderweise kommt die erste Karte mit einer konkreten Streckenplanung nicht vom Bundesverkehrsministerium, sondern aus der Hamburger Behörde für Wirtschaft und Verkehr (© Die Welt, 30.12.1971)
Kern argumentierte, über die verbesserten Verkehrswege könnten die Wirtschaftsbeziehungen zwischen Hamburg und der DDR erheblich intensiviert werden.
Die deutsch-deutschen Verhandlungen begannen 1974, nachdem die Verkehrsminister der betroffenen Bundesländer auf einer gemeinsamen Konferenz einen Appell an den Bundesverkehrsminister gerichtet hatten, diesbezügliche Gespräche mit der DDR aufzunehmen. Die Kosten schätzte das Bundesverkehrsministerium auf bis zu 50 Millionen DM pro Autobahnkilometer. In West-Berlin musste ein Anschluss an die DDR-Strecke Berlin–Wittstock geschaffen und in Schleswig-Holstein eine Trasse von Hamburg bis zur innerdeutschen Grenze gebaut werden.
Zeitgleich mit den Verhandlungen begann in den westlichen Bundesländern aber auch ein Streit über die Trassenführung. Laut Bundesfernstraßengesetz obliegt zwar die Zuständigkeit für die Planung der Bundesfernstraßen dem Bundesministerium für Verkehr, die Verwaltungszuständigkeit wird jedoch den Ländern übertragen, die parallel zu denen des Bundes eigene verkehrspolitische Interessen durchsetzen wollten. Das Land Niedersachsen befürwortete eine Trassenführung durch das Wendland, während Schleswig-Holstein für einen Anschluss an die A 1 zwischen Hamburg und Lübeck kämpfte.
Hinzu kamen zivilgesellschaftliche Proteste. Diese Streitigkeiten führten zu stark asymmetrischen Bauverläufen: Während in der DDR unmittelbar nach Ende der Verhandlungen 1978 mit dem Bau der Strecke begonnen wurde, debattierten in der Bundesrepublik Umweltschützer und Politiker weiterhin über die Trassenführung. Unter der Überschrift "Bis jetzt stimmt's nur auf dem Papier" berichtete zum Beispiel das "Hamburger Abendblatt" 1979 über die Proteste von Umweltschützern gegen die Trassenführung durch den Sachsenwald und über die Weigerung der Familie Bismarck, Bauland zur Verfügung zu stellen.
Der Beschluss über den Bau der A 24 wurde in der westdeutschen Presse wohlwollend aufgenommen. Das "Handelsblatt" bezeichnete die neue Autobahn als ein "Geschenk für Hamburg".
Bis 1982, innerhalb von vier Jahren, wurden die fehlenden Streckenteile auf Seiten der Bundesrepublik und der DDR gebaut. Das 76 Kilometer lange Teilstück von Berlin bis Wittstock war bereits 1978 zur Komplettierung der Autobahnverbindung Berlin–Rostock fertiggestellt worden. Es fehlten nun auf dem Gebiet der DDR noch 125 Kilometer zwischen Wittstock und Zarrentin, deren Bau das Autobahnbaukombinat bis zum Sommer 1982 durchführen konnte.
Verbindungsbahn in Zeiten unterkühlter deutsch-deutscher Beziehungen
Am 20. November 1982 wurde die A 24 dem Verkehr übergeben und die B 5 bzw. Fernstraße 5 (Hamburg–Lauenburg–Boizenburg–Nauen–Berlin) für den Transitverkehr gesperrt.
Etwas weniger bürokratisch und in euphorischer Erwartung der neuen Transitverbindung klangen die Kommentare in der westdeutschen Presse: "Geburtstag einer Autobahn. Am Sonnabend rücken Hamburg und Berlin näher zusammen";
In der sehr verbreiteten Reihe "Architekturführer DDR" erschien 1984 der Band zum Bezirk Schwerin. Darin ist das neue Teilstück der A 24 von Wittstock bis zum Grenzübergang Gudow eingezeichnet, wird jedoch in den vorgeschlagenen "Führungsrouten" nicht erwähnt. Die Sehenswürdigkeiten liegen im Agrarland Mecklenburg neben, nicht auf der Autobahn (© Gudrun Hahn u.a., Architekturführer DDR. Bezirk Schwerin, Berlin (O.) 1984)
In der sehr verbreiteten Reihe "Architekturführer DDR" erschien 1984 der Band zum Bezirk Schwerin. Darin ist das neue Teilstück der A 24 von Wittstock bis zum Grenzübergang Gudow eingezeichnet, wird jedoch in den vorgeschlagenen "Führungsrouten" nicht erwähnt. Die Sehenswürdigkeiten liegen im Agrarland Mecklenburg neben, nicht auf der Autobahn (© Gudrun Hahn u.a., Architekturführer DDR. Bezirk Schwerin, Berlin (O.) 1984)
Wie brüchig die deutsch-deutsche Autobahnharmonie dann aber doch war, zeigt ein Streit um die Beschilderung der A 24. Der Hamburger CDU-Bürgerschaftsabgeordnete Gert Boysen forderte das Bundesverkehrsministerium auf, in Ost-Berlin Beschwerde über die Ausschilderung einzulegen, da diese ein "Affront gegenüber westdeutschen Autofahrern" sei: "Die Bundesrepublik Deutschland wird auf der gesamten Strecke bis zur innerdeutschen Grenze mit dem von Gegnern unseres Staates bevorzugten Kürzel 'BRD' belegt. Die Autobahn wurde von den westdeutschen Steuerzahlern finanziert. Da darf man wohl erwarten, daß sich die ostdeutschen Behörden korrekter Bezeichnungen bedienen. Dass die Kommunisten den Namen unseres Staates bei jeder Gelegenheit hinter drei Buchstaben verstecken wollen, weil er ihnen nicht gefällt, braucht hier nicht schweigend hingenommen zu werden."
Architekturen an der Autobahn
Nicht nur die Beschilderung war Ausgangspunkt einer "emotionalen" Begegnung von Ost und West. Gerade Grenzübergänge, Tankstellen, Raststätten und Parkplätze fungierten als Bühne für eine bisher noch wenig untersuchte deutsch-deutsche Kommunikation bzw. dienten der gegenseitigen Beobachtung. Diese Orte sollen nun exemplarisch aus erfahrungsgeschichtlicher als auch bautypologischer Perspektive vorgestellt werden.
Der Grenzübergang – Architekturen der Kontrolle
Die deutsch-deutschen Grenzübergänge an der Autobahn, in der DDR als "Grenzübergangsstelle" (GÜSt) bezeichnet, unterscheiden sich zunächst nicht von anderen Grenzarchitekturen in Europa. Kennzeichnend für alle Grenzübergänge ist, dass PKW und LKW sich ihm im Schritttempo nähern, das Einordnen in verschiedene Warteschlangen und die Kontrollbaracken der Grenzbeamten. Zu einer spezifischen Architektur der Kontrolle wird die GÜSt erst durch die offensichtliche Präsenz der Staatssicherheitsbehörden, die zusätzlichen Absicherungen wie Wachtürme und spezielle Grenz- und Sperrzäune.
Schematische Darstellung der deutsch-deutschen Grenze. Merkblatt zu Reisen in die DDR, Hg. Bundesministerium für innerdeutsche Beziehungen (© Archiv der Forschungsstelle für Zeitgeschichte Hamburg)
Schematische Darstellung der deutsch-deutschen Grenze. Merkblatt zu Reisen in die DDR, Hg. Bundesministerium für innerdeutsche Beziehungen (© Archiv der Forschungsstelle für Zeitgeschichte Hamburg)
Lageplan der Grenzübergangsstelle Gudow (© Wolfgang Rabenau, Planung und Bau der Autobahn Hamburg–Berlin in Schleswig-Holstein, in: Straße und Autobahn, 2/1983, S. 45–49, hier 48)
Lageplan der Grenzübergangsstelle Gudow (© Wolfgang Rabenau, Planung und Bau der Autobahn Hamburg–Berlin in Schleswig-Holstein, in: Straße und Autobahn, 2/1983, S. 45–49, hier 48)
Die besondere Architektur der Kontrolle nebst der dazugehörigen kommunikativen und sozialen Rituale beim Grenzübergang – "Den Pass bitte!", "Linkes Ohr freimachen!" – machten die GÜSt zu einem spezifischen Angstort der Bundesdeutschen. Schnell bildeten sich Erzählmuster über "den" DDR-Grenzbeamten, der – so ein immer wiederkehrendes Motiv – mit aller Willkür die Grenzkontrollen durchführte. Außerhalb der zeithistorischen Forschung sind diese deutsch-deutschen Erzählungen in zahlreichen Internetforen festgehalten, weiterführende Interviews zur Begegnung von DDR-Grenzbeamten, Reisenden und Berufspendlern aus dem Westen liegen bislang aber noch nicht vor.
Die abgeschottete Strecke – Autobahn als exterritoriales Gebiet
Den Transit-Reisenden aus Westdeutschland war es verboten, die Autobahn außerhalb der vorgesehenen Haltepunkte, wie zum Beispiel der Raststätte Stolpe/Mecklenburg, zu verlassen. So wurde die A 24 zu einer Art exterritorialem Gebiet, in dem der Verkehr tunnelartig durch die DDR geleitet wurde. Die DDR-Sicherheitsbehörden konnten nun das Fahraufkommen und die Reisenden besser als auf der bisherigen Transitstrecke B 5 genauestens kontrollieren und die DDR-Bürger von den Autobahnnutzern fernhalten. "Der Westen flitzt jetzt vorbei", ist denn auch die treffendste Schlagzeile, die in der "Westdeutschen Zeitung" zur Eröffnung der A 24 publiziert wurde.
Wenn es zu Begegnungen an der Strecke kam, dann standen sich westdeutscher Transitreisender und DDR-Volkspolizist gegenüber. Ein wiederkehrendes Ärgernis waren aber nicht nur die Kontrollen an den Grenzübergangsstellen, sondern auch das Tempolimit auf allen DDR-Autobahnen, das von den an der Strecke zahlreich postierten "Vopos" kontrolliert wurde. Offensichtlich galt diese Verkehrsregelung jedoch nicht für alle Nutzer der Autobahn. Unter dem Titel "Was Dollinger in der 'DDR' erlebte" kolportierte das Hamburger Abendblatt kurz nach Eröffnung der Strecke die Eindrücke des Bundesverkehrsministers bei der ersten Befahrung der A 24: "'Ich fühle mich bestärkt, auf bundesdeutschen Autobahnen keine generelle Geschwindigkeitsbegrenzung einzuführen.' […] Während der Fahrt von der Raststätte Stolpe […] nach Berlin sei er in seiner Meinung bestätigt worden, dass Tempo 100 ermüdend wirke und zu gefährlichen Überholvorgängen führe. […] Obwohl sich Dollinger strikt an die von der 'DDR' vorgeschriebene Höchstgeschwindigkeit hielt, wurde sein Dienstwagen überholt – von einer schweren Regierungs-Limousine mit Ostberliner Kennzeichen. In ihr saß 'DDR'-Verkehrsminister Otto Arndt. Als er Dollinger überholte, winkte er seinem Gesprächspartner aus Bonn zum Abschied freundlich zu."
Raststätte/Intershop/Tankstelle – Architekturen der Begegnung
Wenngleich selbst die raren Kontaktmöglichkeiten an der Strecke in Raststätten, Tankstellen, Intershops und Parkplätzen durch die DDR-Staatssicherheitsbehörden streng überwacht wurden, waren sie dennoch deutsch-deutsche Begegnungs- und Kommunikationsorte, die von der zeithistorischen Forschung bisher wenig beachtet wurden. Diese nur sehr schwer zu rekonstruierenden Begegnungen und gegenseitigen Beobachtungen sollen über Interviewreihen beleuchtet werden.
Die Nutzer teilen sich in drei Kategorien: Erstens "professionelle Nutzer" wie Bundesgrenzschutzbeamte, DDR-Passkontrolleinheiten, Bauarbeiter, Mitarbeiter der Staatssicherheit, Volkspolizisten. Einen zweiten Nutzertyp bilden Personen, die in der Nähe der Strecke wohnten und in Raststätten, Tankstellen und Intershops arbeiteten. Reisende aus Ost und West sowie Berufspendler aus der Bundesrepublik, die ihre spezifischen Erfahrungen auf der Transitautobahn machen, bilden die dritte Kategorie.
Die Ortstypologie orientiert sich am Verlauf der A 24. Zunächst mussten die Reisenden die Kontrollen der GÜSt passieren und kamen mit den DDR-Passkontrolleinheiten (PKE) und Zollkontrolleuren in Kontakt.
Zusätzlich sollen auf der baugeschichtlichen Ebene Typen der Autobahn-Raststätten als Teil der DDR-Architektur näher untersucht werden.
Konversionen und Umnutzung:
Der Funktionswandel der A 24 aus der Perspektive der Hansestadt Hamburg
Nach 1989 begann die Konversion der Grenzanlagen an den Transitautobahnen. An der A 24 wurden am 1. November 1990 die Zollanlagen am ehemaligen Grenzübergang Gudow abgebaut. Der Ab- und Umbau kostete eine Million DM. Die Anlagen selbst wurden jedoch nicht verschrottet, sondern recycelt und an den EU-Außengrenzen zu Polen und Dänemark wieder aufgebaut.
Autobahn-Raststätte Stolpe (© Sylvia Necker)
Autobahn-Raststätte Stolpe (© Sylvia Necker)
Autobahn-Raststätte Stolpe (© Sylvia Necker)
Autobahn-Raststätte Stolpe (© Sylvia Necker)
Auch die Raststätten an der A 24 veränderten sich. Im März 1987 vergab die Gesellschaft für Nebenbetriebe der Bundesautobahnen (GfN) die erste Konzession an die Fast Food-Kette McDonalds. Entlang der A 24 zog die Hamburger-Kette jedoch erst 1993 mit einer Filiale an der Raststätte Linumer Bruch ein. Das "Hamburger Abendblatt" bemerkte sogleich den Vorteil, dass die Reisenden ihre Fahrt gar nicht mehr unterbrechen müssen.
Neben diesen institutionellen Veränderungen, die sich als Teil der deutschen Einigung vollzogen, definierte sich der Wirtschaftsraum Hamburg aber auch insgesamt neu.
Aber nicht nur in Zarrentin entstanden große Gewerbebiete, die die Flächen an der Autobahn zu einem attraktiven Standort machten. Auch andere Flächen an der A 24 wie in Hagenow wurden – insbesondere vor dem Hintergrund steigender Gewerbemieten im Großraum Hamburg – nun als Wirtschaftsraum genutzt: "Hamburger bringen Geld und Stellen", fasste das "Hamburger Abendblatt" diesen Funktionswandel an der Autobahn nach Berlin zusammen.
Autobahn als Verbindungsbahn in den deutsch-deutschen Beziehungen
Während des 30-jährigen Bestehens der Autobahnstrecke hat sich ein fundamentaler Bedeutungswandel vollzogen. Vom Bau und der Nutzung in den 1980er-Jahren bis zu ihrer Konversion zur gesamtdeutschen Autobahn in den 1990er-Jahren lässt sich die A 24 als Grenz- und Überwachungsraum wie auch als sehr spezifischer Wirtschafts- und Erlebnisraum charakterisieren.
Der Bedeutungswandel der A 24 lässt sich auf verschiedenen Ebenen beschreiben. Auf der lokal- bzw. regionalgeschichtlichen Ebene bedeutete die 1982 eröffnete Autobahnstrecke für die beiden Ausgangs- und Zielstädte Berlin und Hamburg zunächst einmal einen verbesserten Transit. Nach dem Abbau der innerdeutschen Grenze bildete die A 24 dann für beide Städte den Weg zu potentiellen neuen Wirtschaftsräumen in den östlichen Bundesländern Brandenburg und Mecklenburg-Vorpommern, aber auch die Bedeutung als Tourismusraum hat zugenommen. Auf der nationalen Ebene war die A 24 einerseits als symbolische Verbindung West-Berlins mit West-Deutschland von großer Bedeutung. Als Lebensader für die Inselstadt spielte die A 24 (neben anderen Transitverbindungen) zudem eine wichtige Rolle für den Gütertransport. Andererseits war die A 24 ein Devisentunnel zwischen den beiden deutschen Staaten. So erhielt die DDR zuzüglich der Visa-Gebühren und der Einnahmen aus dem Zwangsumtausch weitere Milliarden an Transitgebühren, die die Bundesrepublik als Jahrespauschale zahlte. Auf der internationalen Ebene schließlich kann die A 24 als Beispiel für die Auseinandersetzungen bzw. Annäherungen zwischen den beiden Blöcken gesehen werden. Der Bau der Strecke war keine rein innerdeutsche Angelegenheit, sondern wurde gerade im Ausland – quasi als Temperaturmesser der sich ständig wandelnden deutsch-deutschen Beziehungen – im größeren Kontext des Ost-West-Gegensatzes interpretiert. Anders ist es nicht zu erklären, wie stark die internationale Presse auf den Bau und die Eröffnung der A 24 reagierte.
Neben dieser politik- und wirtschaftsgeschichtlichen Bedeutung hat die Geschichte der A 24 vor allem eine immense erfahrungsgeschichtliche Bedeutung. Besonders die in den 1980er-Jahren unternommenen Versuche einer Normalisierung der deutsch-deutschen Beziehungen können am Beispiel der A 24 plastisch untersucht werden. Einerseits betonten die Verkehrsminister beider Länder, die Autobahn sei ein wichtiger Schritt der Annäherung, gleichzeitig widersprachen die Kommunikationsformen an den Grenzübergängen aber diesem Willen nach einer Anbahnung gütlicher Beziehungen: die Autobahn also als deutsch-deutscher Erinnerungsort, der sowohl von staatlichen Wunschvorstellungen als auch von den Wahrnehmungen und Narrativen der unterschiedlichen Nutzer der Autobahnstrecke geprägt wurde und Zeugnis ablegt.