Im Ergebnis der Landtagswahlen vom September 2009 kam es in Brandenburg zu einer Regierung aus SPD und Die Linke. Die Folge war eine ausufernde öffentliche Debatte über die Regierungsbeteiligung der SED-Nachfolgepartei. Die konkrete Möglichkeit, dass ehemalige Inoffizielle Mitarbeiter (IM) des Ministeriums für Staatssicherheit (MfS) aus den Reihen der Linken Regierungsämter übernehmen könnten, aber auch der generelle Vorwurf gegenüber der Linken, sich nicht genügend ihrer Verantwortung für die SED-Diktatur zu stellen, bestimmten fortan die politische Debatte in Brandenburg. Schon vorher war bisweilen vom "Brandenburger Weg" die Rede, dessen bestimmendes Merkmal ein im Vergleich zu den übrigen ostdeutschen Bundesländern ungenügender Wille zur Aufarbeitung der SED-Diktatur sei. Als Argumente dafür, dass diese in Brandenburg unter spezifischen Schwierigkeiten stattgefunden habe und stattfinde, wird angeführt, dass es hier bis Ende 2009 keinen Landesbeauftragten für die Stasi-Unterlagen gegeben hat oder dass die damalige Bundesbeauftragte für die Stasi-Unterlagen (BStU), Marianne Birthler, bis Anfang 2009 die Potsdamer Außenstelle ihrer Behörde schloss und nach Berlin verlegte. Die langjährige Leiterin dieser Außenstelle, Gisela Rüdiger, sprach in diesem Zusammenhang und angesichts weiterer ihrer Meinung nach bestehender Defizite im Bereich der Personalpolitik, der juristischen Wiedergutmachung oder der politischen Bildung auch von einem "Brandenburger Umweg".
Die Enquete-Kommission 5/1 des Landtags Brandenburg
Mit mehreren Anträgen zur Überprüfung der brandenburgischen Landtagsabgeordneten auf eine Zusammenarbeit mit dem MfS
Im Juni 2010 nahmen die Mitglieder der Enquete-Kommission ihre Arbeit auf, die bis jetzt andauert. Seither beschäftigen sich die sieben ordentlichen Mitglieder und deren Stellvertreter sowie sieben Wissenschaftler mit den Folgen und der Aufarbeitung der SED-Diktatur. Die sieben Themenschwerpunkte Geschichtsbild, Wiedergutmachung, Personalpolitik, Bildung, Umgang mit Eigentum, Medienlandschaft sowie Charakter, Verlauf und Ergebnisse des Transformationsprozesses bilden dabei den inhaltlichen Rahmen des ambitionierten Arbeitsvorhabens.
Über das Land Brandenburg hinaus setzt die Enquete-Kommission 5/1 ein Signal zum Umgang mit der Geschichte des ostdeutschen Teilstaates nach 1945. Anders als der Parlamentarische Untersuchungsausschuss des Landtags Brandenburg, die Enquete-Kommissionen des Landtags Mecklenburg-Vorpommern und des Deutschen Bundestags befasst sich der Brandenburgische Landtag erstmals mit der Aufarbeitung der DDR-Geschichte und der Transformation des Landes zwischen 1990 und 2010. Das zeigt, dass die Aufarbeitung der Aufarbeitung begonnen hat. Nach dem Ende der SED-Diktatur und der deutschen Wiedervereinigung rücken damit auch die Fragen rund um die Konsolidierung der Demokratie in Ostdeutschland in den Mittelpunkt von Wissenschaft und Politik.
Personelle Kontinuitäten auf kommunaler Ebene
Der vorliegende Beitrag gibt einen Einblick in das Gutachten des Autors für die Enquete-Kommission 5/1 zum Themenschwerpunkt Personalpolitik. Darin werden die personellen Kontinuitäten in Verwaltung und Politik am Beispiel eines brandenburgischen Landkreises mit zwei seiner Städte zwischen 1989 und 2010 untersucht.
Werbeschild für die Prignitz an der A19 (© Wikimedia, Milka11)
Werbeschild für die Prignitz an der A19 (© Wikimedia, Milka11)
Als Fallbeispiel wurde der heutige Landkreis Prignitz gewählt. Dieser wurde Ende 1993 im Zuge einer Kreisgebietsreform aus den beiden Altkreisen Perleberg und Pritzwalk gebildet. Über die regionale Ebene des Landkreises hinausgehend wird auch die lokale Ebene der beiden Städte Perleberg und Pritzwalk in die Untersuchung einbezogen. Während Perleberg bis heute Kreisstadt der Prignitz ist, hat Pritzwalk seinen Status als Kreisstadt im Ergebnis der Kreisgebietsreform 1993 verloren. Für den Landkreis Prignitz insgesamt gilt, dass er strukturell stark durch die Landwirtschaft geprägt ist, die Arbeitslosenquote bei überdurchschnittlichen 16 Prozent liegt und die Bevölkerungszahl in den letzten beiden Jahrzehnten um 25 Prozent auf nunmehr knapp 82.000 Einwohner abgenommen hat.
Fragestellung
Anfang der 1990er-Jahre schrieb der Publizist Arnulf Baring, das SED-Regime habe "die Menschen verzwergt, ihre Erziehung, ihre Ausbildung verhunzt. (…) Ob sich heute einer dort [in Ostdeutschland] Jurist nennt oder Ökonom, Pädagoge, Psychologe, Soziologe, selbst Arzt oder Ingenieur, das ist völlig egal. (…) Viele Menschen sind wegen ihrer fehlenden Fachkenntnisse nicht weiter verwendbar. Sie haben einfach nichts gelernt, was sie in eine freie Marktwirtschaft einbringen könnten."
Über die Etablierung von freiheitlich-demokratischen und sozial-marktwirtschaftlichen Strukturen hinaus stellt sich damit die Frage nach der Etablierung von kulturellen, gesellschaftlichen und politischen Werten wie Bürgerengagement, Dialogbereitschaft sowie Kommunikation und Transparenz in Verwaltung und Politik der ostdeutschen Kommunen seit 1990. Die Beantwortung dieser Frage erscheint umso bedeutender, berücksichtigt man den Umstand, dass sich die Erfolge der friedlichen Revolution 1989/90 und des sich anschließenden Transformationsprozesses in Ostdeutschland erst auf der kommunalen Ebene konkret zeigen.
Methode und Begriffe
Über solche methodischen Prämissen der Geschichtswissenschaft wie der Vermeidung eines retrospektiven Determinismus oder der ungerechtfertigten Gleichsetzung von Aktenlage und Lebenswirklichkeit hinaus bieten insbesondere politikwissenschaftliche Methoden und Begriffe aus der Transformations- und der Verwaltungsforschung das Handwerkszeug, um der Frage nach den personellen Kontinuitäten in Ostdeutschland seit 1989 nachzugehen.
Im Rahmen der Transformationsforschung hat der Politikwissenschaftler Wolfgang Merkel entscheidende Merkmale herausgearbeitet, die in der Regel einer erfolgreichen Transformation von einer Diktatur bis hin zur Etablierung der Demokratie zugrundeliegen.
Im vorliegenden Zusammenhang von besonderem Interesse sind die Bedingungen, Vorraussetzungen und Möglichkeiten zur Demokratiekonsolidierung, auf die Wolfgang Merkel eingeht. Für die Förderung der Demokratiekonsolidierung benennt er mehrere Voraussetzungen. Dazu gehören die Herausbildung eines festen Elitenkonsenses zu den fundamentalen Voraussetzungen, Werten und Spielregen von Rechtsstaat und Demokratie; die Stärkung der intermediären Organisationen zwischen Gesellschaft und Staat sowie die Etablierung fairer, sozial- und demokratieverträglicher, marktwirtschaftlicher Strukturen. Dann, so Merkel, "steigen die Chancen, dass ausreichend jenes kulturelle, soziale und ökonomische Kapital akkumuliert werden kann, das für eine nachhaltige Demokratisierung unerlässlich ist."
Ein Team um den Politikwissenschaftler Hellmut Wollmann hat sich aus verwaltungswissenschaftlicher Perspektive mit dem Transformationsprozess in Ostdeutschland seit 1989/90 beschäftigt.
Vor allem zwei Umstände lassen die Adaption von Wollmanns Forschungsansatz auf die vorliegende Studie günstig erscheinen: Zum einen hat Wollmann sich bei seinen Untersuchungen Mitte der 1990er-Jahre ebenfalls auf die kommunale Ebene konzentriert. Deren besondere Stellung liege darin, dass "die territoriale Gliederung der Stadt- und Landkreise sowie der kreisangehörigen Städte und Gemeinden – mitsamt ihren jeweiligen Verwaltungsapparaten ein beachtliches Stück institutioneller Kontinuität" darstellten.
Zum anderen hat Wollmann für seine empirischen Fallbeispiele eine mehrgliedrige Matrix entwickelt, die auf politisch nicht konnotierten Begrifflichkeiten aufbaut. Mit Altpersonal werden demnach die Akteure in den ostdeutschen Verwaltungsinstitutionen bezeichnet, die dort bereits vor 1990 tätig gewesen sind. Als Neupersonal gilt dagegen jenes Verwaltungspersonal, das im Zusammenhang mit dem Demokratisierungsprozess seit 1989/90 in die ostdeutsche Verwaltung gelangt ist. Dieser zunächst chronologischen Aufgliederung des Verwaltungspersonals nach alt- bzw. neuinstitutionellem Sozialisationshintergrund schreibt Wollmann als Ergebnis seiner empirischen Befunde erst in einem zweiten Schritt spezifische Merkmale zu. Analog dem Verwaltungspersonal unterscheidet er die politischen Akteure vor Ort in Altpolitiker und Neupolitiker. Ähnlich dem Neupersonal in den Verwaltungen sind die Neupolitiker dabei häufig Seiteneinsteiger in die Politik, die zuvor in der volkseigenen Wirtschaft als Ingenieure oder auch als Lehrer berufstätig gewesen sind.
Als nicht unerhebliche Gemeinsamkeit von Altpersonal/Altpolitikern und Neupersonal/Neupolitikern hat Hellmut Wollmann herausgearbeitet, dass das Handeln der ostdeutschen Akteure zunächst insgesamt durch eine fehlende professionelle Qualifikation hinsichtlich der seit 1990 in Ostdeutschland zu etablierenden bundesrepublikanischen Verwaltungs- und Politikstrukturen geprägt war.
Die Parteien als der klassischen Institution des politischen Engagements unterteilt Wollmann ebenfalls chronologisch in Altparteien und Neuparteien. Mit dem Begriff Altparteien sind dabei all jene gemeint, die ihre Wurzeln in den Parteien des "Demokratischen Blocks der Parteien und Massenorganisationen der DDR" (PDS/Die Linke, CDU, FDP) haben. Neuparteien sind dementgegen institutionelle Neugründungen im Kontext der friedlichen Revolution 1989/90 (Neues Forum, SPD, Bündnis 90 etc.).
Mit dieser Kategorisierung von politischen Akteuren und politischen Institutionen ist eine relativ hohe analytische Tiefenschärfe möglich, da neben den Konstellationen eines altparteilichen Altpolitikers oder eines neuparteilichen Neupolitikers auch die eines altparteilichen Neupolitikers oder neuparteilichen Altpolitikers erfasst werden können.
Anhand seiner empirischen Befunde hat Wollmann, ausgehend von den möglichen Konstellationen aus Akteuren und Institutionen, entsprechende Umbruchpfade mit den sie kennzeichnenden Umbruchintensitäten abgeleitet. Ein neupersonell-neuparteiengeprägter Umbruchpfad brachte demnach eine relativ hohe Umbruchintensität mit sich (bis zu zwei Drittel neues leitendes Verwaltungspersonal), ein neupersonell-altparteiengeprägter Pfad mit neuem Leitungspersonal einer alten Partei ergab eine mittlere Umbruchintensität (knapp die Hälfte neues leitendes Verwaltungspersonal) und bei einem altpersonell-altparteiengeprägten Pfad mit alten Leitungspersonal war eine relativ niedrige Umbruchintensität nachzuzeichnen (fast zwei Drittel altes leitendes Verwaltungspersonal).
Ergebnisse
Für die zu untersuchenden Fallbeispiele wurden in den verschiedenen Archiven mehr als 750 Akteure aus den betreffenden Verwaltungsspitzen und Kommunalvertretungen zwischen 1989 und 2010 recherchiert.
Der Landkreis Prignitz mit den beiden Altkreisen Perleberg und Pritzwalk
Im Frühjahr 1989 setzte sich der Kreistag Perleberg aus 120 Abgeordneten und 36 nichtstimmberechtigten Nachfolgekandidaten – der Kaderreserve für eventuell ausscheidende Mandatsträger – zusammen. Mit 21 Mandaten stellte die SED die meisten Kreistagsabgeordneten, über die doppelten Mandate der SED-Mitglieder in den Massenorganisationen, vom FDGB bis zur Konsumgenossenschaft, sicherte sich die SED darüber hinaus die absolute Mehrheit im Kreistag Perleberg. Entsprechend dem Staatsverständnis der SED-Diktatur, dass die Verwaltung als Staatsapparat das ausführende Organ der SED-dominierten Politik sei, waren alle Angehörigen des Rates des Kreises Perleberg im Frühjahr 1989 zugleich Kreistagsabgeordnete. Mit dem Ratsvorsitzenden an der Spitze dominierte die SED mit 15 von 19 Mitgliedern auch die Verwaltung. Die übrigen Blockparteien CDU, DBD, LDPD und NDPD stellten jeweils ein Ratsmitglied.
Die freie Kommunalwahl im Frühjahr 1990 zum Kreistag Perleberg konnte die CDU klar vor der SPD für sich entscheiden. Der personelle Bruch hinsichtlich der Kreistagsabgeordneten 1990 war deutlich. Unter allen 74 Perleberger Kreistagsangehörigen bis 1993 waren 14 Altpolitiker, das entsprach 19 Prozent. Für die folgenden personellen Kontinuitäten auf der Ebene der Perleberger Kreisverwaltung war der vorausgegangene CDU-Wahlsieg ausschlaggebend. Aufgrund ihres Vorschlagsrecht als stärkste Fraktion besetzten die Christdemokraten den Posten des Landrates mit dem Altpolitiker Rainer Neumann, der zuvor seit 1979 Mitglied des Rates des Kreises Perleberg für Energie gewesen war. Unterhalb des Landrates waren unter den vier Beigeordneten ein und unter den fünf Dezernenten drei Altpolitiker. Bis hin zu den Amtsleitern fanden sich insgesamt vier ehemalige Mitglieder des Rates des Kreises Perleberg in der neuen Verwaltung 1990 wieder. Neupersonelle Akzente kamen hier vor allem in Person des Hauptamtsleiters Hans Lange (CDU) und darüber hinaus von der SPD. Einen großen Schritt hin zu einer verstärkten personellen Erneuerung der Kreisverwaltung machte der Kreistag Perleberg Anfang 1993, als seine Mitglieder den altpersonellen Landrat Rainer Neumann vorzeitig abwählten und durch den neupersonellen Hans Lange ersetzten. Lange war bis 1990 Agrotechniker in einer LPG gewesen und Mitte 1990 in die Perleberger Kreisverwaltung gekommen.
Im Kreistag Pritzwalk war die Konstellation im Frühjahr 1989 bei 110 Abgeordneten und 37 Nachfolgekandidaten ganz ähnlich der im Kreis Perleberg. Mit 74 Abgeordneten und 19 Nachfolgekandidaten dominierte die SED. Von den 19 Mitgliedern des Rates des Kreises, die alle zugleich Kreistagsabgeordnete waren, stellte die SED inklusive dem Ratsvorsitzenden 15 Ratsmitglieder. Die übrigen vier Blockparteien stellten jeweils ein Ratsmitglied.
Anders als im Kreis Perleberg siegte die SPD in Pritzwalk bei der freien Wahl zum Kreistag im Frühjahr 1990 knapp vor der CDU. Unter den insgesamt 62 Pritzwalker Kreistagsmitgliedern bis 1993 waren 14 Altpolitiker, was knapp 23 Prozent entsprach. Die Sozialdemokraten setzten im Kreistag den neupersonellen Landrat Reinhard Götze (SPD) durch, der bis 1990 Technischer Leiter im örtlichen VEB Konsumbackwarenbetrieb gewesen war und im Dezember 1989 die SDP im Kreis Pritzwalk mitgegründet hatte. Die Verwaltungsspitze unter dem neupersonellen Landrat bildeten sechs Beigeordnete, die zugleich als Dezernenten fungierten. Unter ihnen waren anfangs mit zwei ehemaligen Mitgliedern des Rates des Kreises und dem CDU-Kreisvorsitzenden drei Altpolitiker, was bei Hinzuziehung des Landrates 43 Prozent entsprach.
Kreistagsangehörige (inkl. Nachrücker) 1990 nach Alt- und Neupolitikern (© Sebastian Stude)
Kreistagsangehörige (inkl. Nachrücker) 1990 nach Alt- und Neupolitikern (© Sebastian Stude)
Abb. 1: Kreistagsangehörige (inkl. Nachrücker) 1990 nach Alt- und Neupolitikern
Im Zuge der Kreisgebietsreform und dem Inkrafttreten einer neuen Kommunalverfassung im Land Brandenburg wurden Ende 1993 Neuwahlen nötig. Die Altkreise Perlberg und Pritzwalk bildeten fortan den gemeinsamen Landkreis Prignitz. Die Wahl zum Prignitzer Kreistag brachte einen neuerlichen Schub für den Bruch mit Altpolitikern. Unter den insgesamt 61 Mitgliedern des Prignitzer Kreistages zwischen 1993 und 1998 waren insgesamt noch neun Altpolitiker, also 15 Prozent. Der Trend eines quantitativ schwindenden altpolitischen Einflusses im Kreistag Prignitz setzte sich auch in den folgenden Legislaturperioden fort. Von 1998 bis 2003 gehörten bei insgesamt 53 Kreistagsangehörigen sechs Altpolitiker dem Kreist Prignitz an, also elf Prozent. Von 2003 bis 2008 waren unter den insgesamt 49 Prignitzer Kreistagsangehörigen fünf Altpolitiker, also zehn Prozent. Seit 2008 waren bis Anfang 2012 unter den insgesamt 48 Angehörigen des Kreistages Prignitz drei Altpolitiker, sechs Prozent. Zwei davon stellte die CDU- und einen die SPD-Fraktion. Unter ihnen war als amtierender Kreistagsvorsitzender auch der ehemalige Perleberger DBD-Kreisvorsitzende Hans-Ulrich Gutke (CDU).
Mit dem – zuvor Perleberger – Landrat Hans Lange (CDU) bestand derweil an der Verwaltungsspitze des Landkreises Prignitz seit 1993 eine neupersonelle Konstanz. Lange gelang bei wechselnden politischen Mehrheiten zuletzt im September 2009 seine Wiederwahl durch den Kreistag. Bis Anfang 2011 bestanden auf der Kreisverwaltungsebene der Geschäftsbereichsleiter unmittelbar unterhalb des Landrates indes altpersonelle Kontinuitäten. Sowohl der damalige Leiter des Geschäftsbereiches I (Recht und Finanzen) als auch die Leiterin des Geschäftsbereiches III (Jugend, Familie, Bildung und Service) hatten bereits vor 1990 dem Rat des Kreises Perleberg bzw. dem des Kreises Pritzwalk angehört. Bei den sechs leitenden Kreisverwaltungsstellen entsprach das einem Altpersonalanteil von knapp 33 Prozent. Hinsichtlich dieser personellen Kontinuitäten innerhalb der Kreisverwaltung Prignitz ist offenkundig, dass sich ausschließlich Altpersonal etablieren konnte, das 1989/90 noch relativ jung gewesen war. Die beiden betreffenden Geschäftsbereichsleiter waren 1989 gerade 28 bzw. 29 Jahre alt.
Kreistagsangehörige Prignitz (inkl. Nachrücker) 1993–2010 nach Alt- und Neupolitikern (© Sebastian Stude)
Kreistagsangehörige Prignitz (inkl. Nachrücker) 1993–2010 nach Alt- und Neupolitikern (© Sebastian Stude)
Abb. 2: Kreistagsangehörige Prignitz (inkl. Nachrücker) 1993–2010 nach Alt- und Neupolitikern
Die Kreisstadt Perleberg
Die SED dominierte die Stadtverordnetenversammlung Perleberg 1989 mit 27 von 50 Stadtverordneten und fünf von 15 Nachfolgekandidaten deutlich. Innerhalb der Verwaltung besetzten die Einheitssozialisten unter der Führung des langjährigen SED-Bürgermeisters acht von insgesamt 13 Ratsposten. Ähnlich den Räten der Kreise stellten die übrigen vier Blockparteien jeweils ein Ratsmitglied.
Perleberg 1994 (© Presse- und Informationsamt der Bundesregierung, B 145 Bild-00166335; Arne Schambeck)
Perleberg 1994 (© Presse- und Informationsamt der Bundesregierung, B 145 Bild-00166335; Arne Schambeck)
Wie auf Kreisebene auch institutionalisierten die freien Kommunalwahlen im Frühjahr 1990 in der Stadt Perleberg den personellen Umbruch in Verwaltung und Kommunalvertretung. Bis 1993 nahmen insgesamt 41 Stadtverordnete die 35 zu vergebenden Sitze wahr. Unter ihnen waren insgesamt fünf Altpolitiker, zwölf Prozent. In der folgenden Legislaturperiode von 1993 bis 1998 war im Perleberger Stadtparlament kein einziger Altpolitiker vertreten. Seit 1998 waren es bis 2010 dann fortlaufend die beiden gleichen Altpolitiker – ein Stadtverordneter der SPD und einer der PDS/Die Linke. Ihr Anteil an der Gesamtzahl der Stadtverordneten lag kontinuierlich unter zehn Prozent.
Stadtverordnete Perleberg (inkl. Nachrücker) 1990–2010 nach Alt- und Neupolitikern (© Sebastian Stude)
Stadtverordnete Perleberg (inkl. Nachrücker) 1990–2010 nach Alt- und Neupolitikern (© Sebastian Stude)
Abb. 3: Stadtverordnete Perleberg (inkl. Nachrücker) 1990–2010 nach Alt- und Neupolitikern
So kontinuierlich der altpolitische Einfluss in der Stadtverordnetenversammlung Perleberg bis 2010 gesunken ist, so unstetig war die personelle Entwicklung an der dortigen Verwaltungsspitze. Seit 1989 hat es in Perleberg sechs (!) Bürgermeister gegeben, wobei nur eine Amtsperiode regulär zu Ende ging. Zu Beginn der 1990er-Jahre versuchte die CDU zunächst mit zwei altpersonellen Akteuren vergeblich das Bürgermeisteramt auszugestalten. Anfang 1993 übernahm Dietmar Zigan (SPD) als neupersoneller Akteur das Bürgermeisteramt. Zigan, ausgebildeter Diplomingenieur für Wasserwirtschaft und Tiefbau, war im Frühjahr 1990 in die Stadtverordnetenversammlung eingezogen und seit 1991 in der Stadtverwaltung Perleberg tätig.
Perleberg, Blick auf die Jakobikirche. Aufnahme von 2008 (© Wikimedia, T. Voekler)
Perleberg, Blick auf die Jakobikirche. Aufnahme von 2008 (© Wikimedia, T. Voekler)
Nach Zigans Rückzug vom Amt stellte die PDS im Oktober 2004 den parteilosen Bürgermeister. Der verfügte als ehemaliges SED-Mitglied und Stabschef der Zivilverteidigung des Kreises Perleberg über einen ausgeprägten altinstitutionellen Hintergrund. Nach seinem Tode wurden 2007 Neuwahlen in Perleberg nötig. Wiederum konnte die nunmehrige Linkspartei.PDS ihren Kandidaten durchsetzen: Seit März 2007 bis Anfang 2012 amtierte der parteilose Fred Fischer als Perleberger Bürgermeister. Als ehemaliger Berufsoffizier der Nationalen Volksarmee (NVA) brachte Fischer einen ungewöhnlichen altinstitutionellen Hintergrund mit ins Amt. Anders als hinsichtlich seiner Tätigkeit als Inoffizieller Mitarbeiter (IM) für das MfS ging Fischer mit seiner NVA-Vergangenheit dabei stets offensiv um, was ihm in der ehemaligen Garnisonsstadt Perleberg offensichtlich nicht zum Nachteil gereichte.
Vermutlich als ein Ergebnis der zahlreichen Wechsel an der Verwaltungsspitze bis 2010 gibt es in der Stadtverwaltung Perleberg keine personellen Kontinuitäten, die über das Jahr 1990 zurückreichen. Auffällig ist vielmehr, dass der Perleberger Haupt- und Ordnungsamtsleiter und zugleich stellvertretende Bürgermeister der einzige westdeutsche Akteur in leitender Verwaltungsposition ist, der für alle untersuchten Fallbeispiele herausgearbeitet werden konnte.
Die kreisangehörige Stadt Pritzwalk
Auch in der Stadt Pritzwalk, die bis 1993 Kreisstadt des gleichnamigen Kreises gewesen ist, galt bis zum Frühjahr 1990 die Suprematie der SED. Ähnlich wie in Perleberg sicherte sich die SED über die doppelten Mandate die absolute Mehrheit unter den 56 Stadtverordneten und 17 Nachfolgekandidaten. Die damalige Machtkonstellation in den Kommunalvertretungen widerspiegelt folgendes Zitat eines CDU-Stadtverordneten aus dem Frühjahr 1989, das ganz der "Blockpolitik" der SED entspricht: "Die DDR, unsere Heimat, entwickelte sich in den zurückliegenden Jahrzehnten zu einem sozialistischen Land, dessen Staatspolitik auf das Wohl der Menschen und den Frieden gerichtet ist. Wir christlichen Demokraten trugen und tragen mit unserer Kraft zu dieser großen historischen Errungenschaft unseres Volkes bei. (…) Wir haben das Antlitz unserer Republik mitgeprägt und wir sind stolz auf das in gemeinsamer Arbeit aller Kräfte des Volkes Erreichte."
Pritzwalk 1992 (© Presse- und Informationsamt der Bundesregierung, B 145 Bild-00071151; Arne Schambeck)
Pritzwalk 1992 (© Presse- und Informationsamt der Bundesregierung, B 145 Bild-00071151; Arne Schambeck)
Die freie Kommunalwahl im Frühjahr 1990 leitete auch in der Stadt Pritzwalk den personellen Umbruch in Verwaltung und Politik ein, wenngleich weniger stark ausgeprägt als bei den vorangegangen Beispielen. Unter den 34 Stadtverordneten bis 1993 waren neun Altpolitiker, was 26 Prozent entspricht. Abgesehen von der gemeinsamen Fraktion von SPD und Neuem Forum stellten die übrigen Fraktionen (CDU, PDS, B.f.D./Bund freier Demokraten und Alternative Liste) jeweils mindestens zwei Altpolitiker. Eine lokale Besonderheit war dabei die Wählergemeinschaft Alternative Liste (AL) der DDR-Massenorganisationen FDJ und DFD. Zu ihrem Führungspersonal gehörte auch die ehemalige SED-Bürgermeisterin Pritzwalks.
Pritzwalk 2010 (© Wikimedia, Jan Rehschuh)
Pritzwalk 2010 (© Wikimedia, Jan Rehschuh)
In den folgenden Legislaturen konnte sich in der Stadtverordnetenversammlung Pritzwalk ein relativ starker altpolitischer Einfluss etablieren. Zwischen 1993 und 1998 gehörten dem Stadtparlament bei insgesamt 31 Stadtverordneten sechs Altpolitiker an, 20 Prozent. In der folgenden Legislaturperiode bis 2003 waren unter den insgesamt 25 Stadtverordneten sechs Altpolitiker, 24 Prozent. Zwischen 2003 und 2008 waren unter den insgesamt 27 Stadtverordneten immerhin noch fünf Altpolitiker, 18 Prozent. Mit der Wahl zur Stadtverordnetenversammlung 2008 stieg die Anzahl der Altpolitiker unter den 22 Stadtverordneten nochmals auf sechs, was einem Anteil von 27 Prozent entspricht.
Stadtverordnete Pritzwalk (inkl. Nachrücker) 1990–2010 nach Alt- und Neupolitikern (© Sebastian Stude)
Stadtverordnete Pritzwalk (inkl. Nachrücker) 1990–2010 nach Alt- und Neupolitikern (© Sebastian Stude)
Abb. 4: Stadtverordnete Pritzwalk (inkl. Nachrücker) 1990–2010 nach Alt- und Neupolitikern
Der starke altpolitische Einfluss in der Pritzwalker Stadtverordnetenversammlung kam im Frühjahr 1990 bei verschiedenen Personalentscheidungen zum Tragen. Unter der Meinungsführerschaft der CDU-Fraktion und bei Ausschluss der Fraktionen von SPD/Neues Forum und PDS setzten die Stadtverordneten auf eine im Wortsinn konservative Politik und personelle Kontinuität. So wurde das bisherige CDU-Stadtratsmitglied erneut zum Stadtverordnetenvorsitzenden gewählt. Bürgermeister wurde derweil Wolfgang Brockmann (B.f.D., später FDP), der bis bis 1989 NDPD-Mitglied und seit 1979 in untergeordneter Funktion beim Rat der Stadt Pritzwalk tätig gewesen war.
Inoffizielle Mitarbeiter des MfS
Hinsichtlich der Überprüfung des Personals in den Kommunalverwaltungen und -vertretungen des Landes Brandenburg auf eine frühere Tätigkeit für das MfS ist vielfach darauf verwiesen worden, dass diese seit 1990 sehr lückenhaft gewesen sei.
Die Ausgangssituation im Frühjahr 1989 überrascht dabei kaum: Die verschiedenen Verwaltungen und Kommunalvertretungen waren allesamt – allerdings in unterschiedlich starkem Maße – mit Inoffiziellen Mitarbeitern durchsetzt. Im Perleberger Kreistag waren im Frühjahr 1989 von den 156 Kreistagsmitgliedern 16 IM, vor allem SED-Mitglieder. Unter den 19 Mitgliedern des Rates des Kreises Perleberg waren fünf IM.
Im Ergebnis der freien Kommunalwahlen 1990 sank die Anzahl der ehemaligen IM im Kreistag Perleberg auf fünf. Das entsprach bei insgesamt 74 Kreistagsangehörigen fast sieben Prozent. Auch zu den fünf Dezernatsleitern der neu gebildeten Kreisverwaltung gehörten anfangs zwei IM – und das, obwohl die Kreisverwaltung Perleberg bereits Anfang Dezember 1990 beim damaligen Sonderbeauftragten der Bundesregierung einen Überprüfungsantrag gestellt hatte. Im Frühjahr 1992 bearbeitete die Behörde des nunmehrigen BStU mindestens einen weiteren Antrag der Kreisverwaltung Perleberg auf Überprüfung ihrer Angestellten zu einer Zusammenarbeit mit dem MfS. Dieser Antrag umfasste beinahe 900 Personen.
Im Kreis Pritzwalk sank die Anzahl der IM nach den freien Kommunalwahlen im Frühjahr 1990 ebenfalls deutlich, auf vier IM bei insgesamt 62 Kreistagsabgeordneten. Für das leitende Personal der Pritzwalker Kreisverwaltung seit 1990 konnte der BStU auf eine Forschungsanfrage hin keine IM recherchieren.
Nach der Bildung des gemeinsamen Kreistages Prignitz aus den beiden Altkreisen Perleberg und Pritzwalk Ende 1993 hat es dort durchgängig Überprüfungsverfahren der Kreistagsmitglieder auf eine MfS-Tätigkeit gegeben. Das Ergebnis waren jeweils zwei recherchierte IM-Fälle. Das letzte Überprüfungsverfahren zu den 2008 gewählten Kreistagsmitgliedern ergab, dass keinem Kreistagsabgeordneten eine MfS-Tätigkeit nachgewiesen werden konnte.
Bis 1999 galt innerhalb der Kreisverwaltung Prignitz für alle Angestellten zudem das Prinzip der Regelanfrage zur Überprüfung auf eine Tätigkeit für das MfS.
Wesentlich geringer als in den beiden Kreistagen war im Frühjahr 1989 die IM-Durchsetzung der untersuchten Stadtverordnetenversammlungen. In der Stadtverordnetenversammlung Perleberg gab es laut Auskunft des BStU lediglich zwei IM-Fälle. Keiner davon entfiel auf die Mitglieder des Rates der Stadt.
Seit 1990 gab es in Perleberg eine durchgehende Überprüfung der Stadtverordneten auf eine frühere Stasi-Tätigkeit. Bis 2008 wurden dabei in jeder Legislaturperiode jeweils zwei Verordnete als IM belastet. Seit der Kommunalwahl 2008 ist unter den Perleberger Stadtverordneten kein IM. Für diesbezügliches Aufsehen sorgten vielmehr die beiden Perleberger Bürgermeister Manfred Herzberg und Fred Fischer, die als Parteilose beide von der PDS bzw. Die Linke unterstützt wurden. Sowohl Herzberg, der 2006 verstarb, als auch sein Nachfolger im Amt, Fischer, waren nach Aktenlage als IM tätig gewesen.
Ähnlich den Perlebergern wurden auch die Pritzwalker Stadtverordneten seit 1990 auf eine MfS-Tätigkeit überprüft – allerdings nur bis einschließlich der Legislaturperiode 1998–2003. Bis dahin hatte es höchstens zwei IM in der jeweiligen Wahlperiode gegeben. Trotz des hohen Anteils an Altpersonal in der Pritzwalker Stadtverwaltung unter dem Bürgermeister Wolfgang Brockmann (B.f.D./FDP) seit 1990 ist in der dortigen Verwaltungsspitze zunächst kein IM-Fall nachweisbar. Dies änderte sich, als 2002 der Posten des Beigeordneten und Stellvertretenden Bürgermeisters neu besetzt wurde. Die Wahl fiel seinerzeit einmütig auf den Sozialdemokraten Rainer Greve. Greve war als ausgewiesener Neupolitiker im Zuge der friedlichen Revolution 1989/90 aus dem Umfeld der Evangelischen Kirche über das Neue Forum in die Kommunalpolitik gekommen. Bis 2002 war er Direktor des Amtes Pritzwalk-Land. Als die MfS-Tätigkeit Greves als IM "Tomas" 2012 öffentlich wurde, war das nicht zuletzt deshalb eine Überraschung, weil er sich noch 2009 für das Pritzwalker Bürgermeisteramt zur Wahl gestellt hatte.
Zusammenfassung
Fehlende verbindliche Vorgaben, die kommunale Selbstverwaltung und die konkreten politischen Konstellationen vor Ort hatten zur Folge, dass die untersuchten brandenburgischen Fallbeispiele zwischen 1990 und 2010 unterschiedliche Entwicklungen genommen haben. Dies gilt hinsichtlich der Umbruchpfade und der Umbruchintensitäten in den untersuchten Kommunalverwaltungen und Kommunalvertretungen.
Hinsichtlich des Akteursverhaltens bezüglich der personellen Umbruchintensität zeigte sich bei den untersuchten Fallbeispielen wiederholt folgendes Muster: Die CDU bemühte sich Anfang der 1990er-Jahre – zumeist noch in der Phase der späten DDR – bei entsprechenden politischen Mehrheiten jenseits der PDS um die Durchsetzung altpersoneller Lösungsvarianten. Bis Mitte der 1990er-Jahre löste sich die CDU davon und setzte fortan auf eine neupersonelle Strategie. Im Gegensatz dazu vertrat die SPD bereits 1990 einen ausgeprägten neupersonellen Ansatz, ohne sich altpersonellen Lösungen grundsätzlich zu verschließen. Dieses Ergebnis deckt sich mit einem von Hellmut Wollmann konstatierten Befund, dass die personellen Kontinuitäten in den ostdeutschen Verwaltungen zu Beginn der 1990er-Jahre zunächst dort stärker ausgeprägt waren, wo die CDU im Ergebnis der Kommunalwahlen vom Mai 1990 die politische Führerschaft übernahm.
Die PDS/Die Linke hat sich in den untersuchten Fallbeispielen einerseits personell erneuert, andererseits sind die IM-Fälle in den untersuchten Kommunalvertretungen und Kommunalverwaltungen zuletzt meist ihr zuzuordnen. Die Liberalen wiesen in den untersuchten Fällen starke personelle Kontinuitäten auf, die zum Teil weit in ihre doppelte Vergangenheit als Blockparteien zurückreichen. Bündnis 90/Die Grünen sind in den untersuchten Fallbeispielen politisch marginalisiert.
Die Untersuchungsergebnisse zum Landkreis Prignitz sind eindeutig: Seit 1990 hat zunächst in den beiden damaligen Altkreisen Perleberg und Pritzwalk und seit Dezember 1993 im nunmehrigen Landkreis Prignitz bis 2010 ein starker personeller Bruch stattgefunden. Begleitet wird dieser Bruch mit dem Altpersonal von teilweise ausgeprägten Kontinuitäten – vor allem im Verwaltungsbereich. Hinsichtlich der Kommunalvertretung ist eine hohe und hinsichtlich der Kommunalverwaltung eine mittlere Umbruchintensität zu konstatieren.
Die Stadt Perleberg weist für die untersuchten Fallbeispiele den am stärksten ausgeprägten personellen Bruch aus. Das gilt vor allem hinsichtlich des Personals der Stadtverwaltung und hier insbesondere für das Bürgermeisteramt. Hinsichtlich der Kommunalvertretung wie auch der Kommunalverwaltung liegt eine hohe Umbruchintensität vor.
Von den untersuchten Fallbeispielen weist die Stadt Pritzwalk sowohl hinsichtlich der Stadtverordneten als auch hinsichtlich des Personals der Stadtverwaltung die am stärksten ausgeprägten personellen Kontinuitäten auf. Bei der Kommunalvertretung und der Kommunalverwaltung besteht eine niedrige Umbruchintensität. Die Personalpolitik beider Städte wird dabei durch die aktuell bekanntgewordenen IM-Fälle in der Verwaltungsspitze getrübt, auch wenn diese Einzelfälle darstellen.
Evident ist, dass den brandenburgischen Kommunen zu Unrecht pauschal unterstellt wird, sie hätten sich mit ihrer DDR-Vergangenheit – beispielsweise im Zusammenhang mit ausgebliebenen Stasi-Überprüfungen – ungenügend auseinandergesetzt. In der vorliegenden Untersuchung konnte mehrfach herausgearbeitet werden, dass die Kommunen bereits sehr zeitig ab 1990 – noch vor der deutschen Einheit und vor der ostdeutschen Länderbildung – und zum Teil durchgängig bis 2010 MfS-Überprüfungen umsetzten. Unabhängig davon besteht aber ein Defizit in puncto verantwortungsvoller, offener und öffentlicher Diskussions- und Streitkultur zum Thema Stasi. Das haben zuletzt die hitzigen Debatten um die bekanntgewordenen Stasi-Fälle in der Perleberger und Pritzwalker Stadtverwaltung gezeigt. Hier gilt offensichtlich immer noch die Einschätzung des Historikers Helmut Müller-Enbergs aus dem Jahr 1995: "Die Inoffiziellen Mitarbeiter selbst hüllen sich in Schweigen: Wird ihre konspirative Zusammenarbeit mit dem MfS bekannt, so streiten sie sie zumeist ab. Kaum freiwilliges Geständnis und Gespräch also. Die Erörterung bleibt primär auf Kommissionen und – wenn es genügend publizitätsträchtig ist – auf die Medien beschränkt."
Vergleich
Vergleicht man die empirischen Befunde der untersuchten Kommunen mit den Ergebnissen zweier Gutachten für die Enquete-Kommission 5/1, die sich mit den personellen Kontinuitäten auf der Landesebene Brandenburg und denen in der Landeshauptstadt Potsdam befassen, werden Unterschiede und Gemeinsamkeiten deutlich.
Die beiden Gutachter Gisela Rüdiger und Hanns-Christian Catenhusen kommen in ihrer Analyse zu den Landesregierungen, den Landtagsabgeordneten und den Angestellten der Landesverwaltung Brandenburg zwischen 1990 und 2010 zu dem Schluss, dass es dort nur lückenhafte MfS-Überprüfungen gegeben habe. Innerhalb der Landesverwaltung sei höchstens die Hälfte der Angestellten auf eine MfS-Tätigkeit überprüft worden. Eindeutig ist zudem der Befund, dass in der Verwaltungsspitze des Landes Brandenburg Personal mit westdeutscher Herkunft dominiert. Der oft bemühte Eindruck, "viele alte SED-Kader"
Die inkonsequente MfS-Überprüfung der Angestellten der brandenburgischen Landesverwaltung ähnelt der Vorgehensweise der untersuchten Stadtverwaltungen Perleberg und Pritzwalk. Auch dort wurden nur punktuelle MfS-Überprüfungen durchgeführt. In der Folge gab es bis 2010 verschiedene Einzelfälle, dass Angestellte der Verwaltungsspitze als IM tätig gewesen waren. In den Altkreises Perleberg und Pritzwalk und später im Landkreis Prignitz wurden die Angestellten der Kreisverwaltung dagegen bis 1999 konsequent und nach einem zunehmend einheitlichen Verfahren über den Landrat geprüft. Deshalb konnte die vormals hohe Durchsetzung der Verwaltungsspitze mit IM dort überwunden werden. Unabhängig davon existiert ein teils sehr hoher Anteil Altpersonal in den kommunalen Verwaltungsspitzen – vor allem in der Stadtverwaltung Pritzwalk (1990: 100, 2009: 43 Prozent) und weniger in der Kreisverwaltung Prignitz (1993: 17, 2004: 33 Prozent). Dagegen ist das westdeutsche Personal der untersuchten Prignitzer Fallbeispiele marginalisiert.
Laut Rüdiger und Catenhusen wurden die brandenburgischen Landtagsabgeordneten lediglich in der ersten Legislaturperiode auf eine MfS-Tätigkeit überprüft. Erst mit Beschluss vom Januar 2010 erfolgte in der fünften Legislaturperiode eine erneute Überprüfung der Landtagsabgeordneten. Wesentlich höher als der Anteil früherer IM ist dagegen der Anteil der Altpolitiker unter den Landtagsabgeordneten gewesen – vor allem in jenen Fraktionen, die auf eine Vergangenheit als Blockpartei zurückblicken.
Wie gezeigt, fand in den untersuchten Prignitzer Fallbeispielen im Unterschied zum Landtag Brandenburg auch über die erste Legislaturperiode hinaus eine teils durchgehende MfS-Überprüfung der Abgeordneten statt. Insofern muss auch das Urteil von Rüdiger und Catenhusen relativiert werden, in den Kommunen würden im Zuge der aufflammenden Stasi-Debatte im Land Brandenburg nun die versäumten oder noch nie durchgeführten MfS-Überprüfungen nachgeholt. Vielmehr gilt beim Vergleich der untersuchten Prignitzer Kommunalvertretungen mit der brandenburgischen Landesebene ein doppelter Unterschied: relativ viele und umfassende MfS-Überprüfungen bei relativ geringer öffentlicher Aufmerksamkeit.
Der Anteil der recherchierten IM-Fälle unter den Abgeordneten der untersuchten Prignitzer Kommunalvertretungen lag unterhalb den von Rüdiger und Catenhusen für den Landtag Brandenburg erarbeiteten Werten. Auch die von den beiden Gutachtern erarbeiteten Anteile der Altpolitiker im Landtag Brandenburg von 1990 bis 1999 sind im Vergleich zu den untersuchten Prignitzer Kommunalvertretungen hoch. Sie übertreffen selbst die Höchstwerte der Pritzwalker Stadtverordnetenversammlung.
In seinem Gutachten für die Enquete-Kommission des Landtags Brandenburg zu den personellen Kontinuitäten in Kommunalverwaltung und Kommunalvertretung der Landeshauptstadt Potsdam konzentriert sich Manfred Kruczek vor allem auf die Darstellung der dortigen MfS-Überprüfungen zwischen 1990 und 2010.
Mit dem für die Stadtverwaltung Potsdam beschriebenen MfS-Überprüfungsverfahren weist die Vorgehensweise in den Altkreisen Perleberg und Pritzwalk und später im Landkreis Prignitz die größten Gemeinsamkeiten auf. Die gesamten 1990er-Jahre hindurch wurden die Angestellten der Kreisverwaltung dort einer Regelüberprüfung unterzogen. Die teils sehr hohe Durchsetzung der dortigen Verwaltungsspitze mit einen IM-Anteil von bis zu 30 Prozent konnte bis zum Neuaufbau der Kreisverwaltung Prignitz seit Ende 1993 überwunden werden. Aufgrund der Quellenlage konnten für die beiden in diesem Gutachten untersuchten Stadtverwaltungen keine umfangreichen MfS-Überprüfungen rekonstruiert werden. Bis 2010 kam es dort wiederholt zu Einzelfällen, dass Angestellte der Verwaltungsspitze als IM tätig gewesen sind. Gänzlich anders als von Kruczek für die Verwaltungsspitze Potsdam dargestellt, spielten westdeutsche Verwaltungsfachleute in den untersuchten kommunalen Gebietskörperschaften bis 2010 eine sehr untergeordnete Rolle.
Für die Stadtverordnetenversammlung Potsdam beschreibt Manfred Kruczek in seinem Gutachten ähnlich der Potsdamer Stadtverwaltung eine durchgehende MfS-Überprüfung der Abgeordneten seit 1990. Seit 1998 ist unter den Potsdamer Stadtverordneten kein neuer IM-Fall bekanntgeworden. Auffällig ist, dass Kruczek wiederholt die angebliche Vorreiterrolle und Alleinstellung der Stadt Potsdam bei den MfS-Überprüfungen bis 2010 gegenüber vielen anderen brandenburgischen Kommunen betont. Diesbezüglich scheint Vorsicht vor einer Überhöhung und unzutreffenden Verallgemeinerung der landeshauptstädtischen Perspektive gegenüber den übrigen Kommunen des Landes Brandenburg angebracht. Denn ähnlich der Potsdamer Verfahrensweise erfolgte auch in den Kreistagen der Altkreise Perleberg und Pritzwalk sowie des Landkreises Prignitz und in der Stadtverordnetenversammlung Perleberg seit 1990 eine durchgehende MfS-Überprüfung der Abgeordneten. In der Stadtverordnetenversammlung Pritzwalk wurden die Abgeordneten immerhin bis einschließlich der Legislaturperiode 1998–2003 auf eine MfS-Tätigkeit überprüft. Das oftmals bemühte Bild des sogenannten "Brandenburger Weges" lässt sich hier demnach nicht nachzeichnen.
Schluss
Die Ausprägung der demokratischen Kultur in den brandenburgischen Kommunen als unerlässlicher Bestandteil des erfolgreichen Transformationsprozesses von der SED-Diktatur hin zur Demokratie steht vor vielfältigen Herausforderungen. Dazu gehören die demografische Entwicklung, die hohe Arbeitslosigkeit und die geringe Wahlbeteiligung, aber auch die Unterrepräsentanz von Frauen in den Kommunalvertretungen und die Etablierung des Rechtsextremismus.
Über die personellen Kontinuitäten in Verwaltung und Politik auf der kommunalen Ebene seit 1989/90 hinausgehend – zumal deren quantitatives Auftreten hinsichtlich ihres qualitativen Einflusses zu prüfen bleibt – sind demnach weitere Kontexte für die Entwicklung der demokratischen Kultur in Ostdeutschland entscheidend. Hinsichtlich dieser Herausforderungen sollte die Bedeutung altinstitutioneller und altpersoneller Einflüsse in den Kommunen nicht isoliert betrachtet werden – auch wenn gilt, dass Altpolitiker und Altpersonal in den brandenburgischen Kommunen (in Einzelfällen mit IM-Biografien) ein nicht zu unterschätzender Faktor hinsichtlich der Entwicklungschancen der demokratischen Kultur sind.