Jörg Osterloh, Clemens Vollnhals (Hg.): NS-Prozesse und deutsche Öffentlichkeit. Besatzungszeit, frühe Bundesrepublik und DDR (Schriften des Hannah-Arendt-Instituts für Totalitarismusforschung; 45), Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 2011, 456 S., € 62,95, ISBN: 9783525369210.
Joachim Perels, Wolfram Wette (Hg.): Mit reinem Gewissen. Wehrmachtrichter in der Bundesrepublik und ihre Opfer, Berlin: Aufbau 2011, 474 S., € 29,99, ISBN: 9783351027407.
Julia Volmer-Naumann: Bürokratische Bewältigung. Entschädigung für nationalsozialistisch Verfolgte im Regierungsbezirk Münster (Schriften Villa ten Hompel; 10), Essen: Klartext 2012, 512 S., € 42,–, ISBN: 9783837503951.
NS-Prozesse und deutsche Öffentlichkeit
Seine zweite Auslandsreise als Bundespräsident führte Joachim Gauck vor wenigen Wochen nach Breda, in die Niederlande. Die Medien wurden nicht müde, auf die schwere deutsche Besatzungszeit der Stadt hin zu weisen. Was kaum jemand dabei erwähnte: Nirgendwo wird das deutsche Verhalten gegenüber Kriegsverbrechern so deutlich wie hier. Und kaum ein Vorfall hat das deutsche Bild in den Niederlanden lange so negativ geprägt wie die Flucht der Häftlinge von Breda. Die Flucht von sieben verurteilten NS-Verbrechern 1952 in die Bundesrepublik, wo sie nie wegen ihrer Taten büßen mussten. 2010 hat die niederländische Justiz letztmalig einen Auslieferungsantrag für einen der Verbrecher gestellt, vergeblich. Im Mai 2012 starb er.
Der Fall ist symptomatisch für die längste Phase der Nachkriegszeit und für einen erheblichen Teil der deutschen Bevölkerung. Dabei hatten sich die Alliierten, vor allem Briten und Amerikaner, anderes vorgenommen: Es sollte eine Aufarbeitung der schrecklichen Taten geben, eine Umerziehung der Deutschen. Zwar herrschte anfangs in der deutschen Bevölkerung eine "relativ breite Übereinstimmung, NS-Täter zur Verantwortung ziehen zu wollen." (22) Doch nach der Besatzungszeit lahmte der Verfolgungseifer beträchtlich. Und in den 1950er-Jahren jubelten Zuschauer in manchen Prozessen, etwa wenn Mitarbeiter des Reichssicherheitshauptamtes oder der Gestapochef von Nürnberg, Benno Martin (dem Judendeportationen zur Last gelegt wurden), freigesprochen wurden. Hatte es zunächst noch eine tiefe Kluft zwischen öffentlicher und veröffentlichter Meinung gegeben (79), so spielte dies nach Gründung der Bundesrepublik kaum noch eine Rolle: Die Taten wurden nur selten thematisiert.
Die Besatzungsmächte hatten 1945 bestimmt, dass alle aktiven NSDAP-Mitglieder sowie diejenigen, die an der Strafjustiz des NS-Regimes direkten Anteil gehabt hatten, nicht mehr Richter und Staatsanwälte werden durften. Möglichkeiten, dies zu gewährleisten, gab es, den Alliierten standen die NSDAP-Mitgliederkartei und die Personalakten des Reichsjustizministeriums zur Verfügung. Doch das Verfahren, diesen Personenkreis zu ermitteln und auszuschließen, verlief in allen Besatzungszonen unterschiedlich stringent und wurde in der Bundesrepublik, aber auch in der DDR verwässert. Hinzu kam: Es wurde kaum nachermittelt. So konnte jener "schreckliche Jurist" (Rolf Hochhuth) Hans Filbinger durch die Maschen schlüpfen, weil er seine Tätigkeit bei Sonder-, Stand- und Kriegsgerichten verschwieg. (35f)
Nach dem ersten Nürnberger Prozess gegen die Hauptkriegsverbrecher stießen nur noch wenige Fälle überregional auf Interesse in der deutschen Öffentlichkeit, etwa jener gegen die Denunziantin Carl Goerdelers, Helene Schwärzel. Der Prozess gegen ihre Mittäter anderthalb Jahre später fand kaum noch öffentliche Resonanz. Selbst das erste Verfahren gegen einen KZ-Kommandanten in Deutschland, gegen Paul-Werner Hoppe (KZ Stutthoff) in Bochum 1955, fand nur ein begrenztes Echo; Hoppe kam mit läppischen fünf Jahren und drei Monaten Haft davon. Auch die Presse nahm kaum Notiz, obwohl in diesem Verfahren vor allem die Vergasung jüdischer Frauen im Mittelpunkt stand: Wenn in den Medien berichtet wurde, dann auf der Grundlage von Berichten der Nachrichtenagenturen und nicht eigener Korrespondenten. Es gab eine wichtige Ausnahme: Der Fall von Feldmarschall Ferdinand Schörner, dem zahlreiche Hinrichtungen deutscher Soldaten und Zivilisten gegen Kriegsende vorgeworfen wurden. Hier konnten Medien und Bevölkerung mitfühlen, jeder hätte Opfer sein können. Beim Mord an jüdischen Frauen fiel das offenbar erheblich schwerer. Hans Habe, damals US-Presseoffizier, sah die zentrale amerikanische Informationspolitik im Zuge der Umerziehung schon 1946 als gescheitert an. (97)
So ist in den 50er-Jahren von einer "weiten Schlussstrichmentalität auszugehen" (60), Robert Sigel macht sie schon kurz nach Kriegsende aus. (147) Und nicht nur das: Bundesweit hatten jetzt jene das Sagen, die auch längst verurteilte Massenmörder begnadigen wollten und zum Teil selbst NS-belastet waren. (141f) Immerhin, so war die vorherrschende Meinung, hätten auch die Alliierten Kriegsverbrechen begangen, KZ-, SS- und Gestapomörder säßen demnach nur im Gefängnis, weil das Deutsche Reich den Krieg verloren hatte. Und der Rückzug ins Private tat ein Übriges: Die Führungsspitze des NS-Staates war tot, dass Hunderttausende Mittäter gewesen waren, wurde weder in Ost- noch in Westdeutschland groß thematisiert. Und die Bevölkerung tat sich leid wegen der Dinge die sie selbst zu erleiden hatte: Wohnungsnot, Heimatverlust und Hunger vor allem.
Doch die Deutschen, die einen Schlussstrich wollten, wurden enttäuscht. Ab Ende der 1950er-Jahre rückten die Verbrechen wieder in den Mittelpunkt der Berichterstattung. Und die Öffentlichkeit nahm, zunächst im Verfahren wegen der Erschießung von Fremdarbeitern in Arnsberg und dann im Ulmer Einsatzgruppenprozess, erstaunt Kenntnis davon, dass es sich bei den Tätern nicht um Sadisten, Fanatiker oder Psychopathen handelte, sondern um normale "Familienväter, die nun wieder als angesehene Männer lebten." (70) Erst hier ging ein Ruck durch Deutschland, selbst konservative Journalisten forderten nun, die Gräueltaten endlich aufzuarbeiten: "Der Schlussstrich werde nur möglich sein, schrieb etwa der Trierische Volksfreund, wenn man mit einiger Sicherheit sagen könne, dass alle oder doch ein überwiegender Teil der KZ-Verbrechen gesühnt seien" (72). Doch dazu ist es in Deutschland nie gekommen, auch wenn schon wenig später die deutsche Öffentlichkeit erneut wachgerüttelt wurde: Durch die Entführung von Adolf Eichmann und die anschließende Verurteilung des Organisators des monströsesten Verbrechen des NS-Regimes: Der Endlösung der Judenfrage. Aber auch dieser Prozess führte in Deutschland oft zu Ratlosigkeit, ja Ablehnung. Er wurde als "Demütigung" Deutschlands gesehen (292), manch Kommentator forderte eine Auslieferung Eichmanns an die deutsche Justiz – ein angesichts der bisherigen Erfahrungen mit der hiesigen Justiz ein geradezu abenteuerliches Ansinnen. Erst in den 1960er-Jahren änderte sich die öffentliche Meinung zur NS-Vergangenheit. Doch da war es, sowohl aufgrund der "biologischen Komponente" als auch wegen zahlreicher Strafrechtsänderungen längst zu spät für eine Verfolgung der Täter.
In der SBZ und späteren DDR waren die NS-Prozesse vor allem eine Möglichkeit, den eigenen Anspruch als "antifaschistischer Staat" heraus zu stellen, aber auch mit dem Finger auf die Bundesrepublik zu zeigen, die Naziverbrecher laufen ließ. Massenkundgebungen wurden organisiert und "Braunbücher" produziert; diese mit erstaunlich wenigen Fehlinformationen. Vor allem Prozesse gegen Industrielle im Westen dienten in der SBZ zur Legitimation von Enteignungen. Die Ausschaltung der "Monopolkapitalisten" war für die SED "gleichbedeutend mit der Überwindung des Nationalsozialismus" (128). Dabei fungierten die Medien als Legitimitätsinstrument des Systems. Hierzu passen auch die ausführlich dargestellten Waldheim-Prozesse, in denen nicht einmal ansatzweise versucht wurde, den Angeklagten eine individuelle Schuld nachzuweisen. Dafür konnten andere NSDAP-Mitglieder, sogar "Blutrichter", in der DDR Karriere machen; Hauptsache das – neue – Parteibuch stimmte, (176) oder die NS-Täter verpflichteten sich zur Spitzeltätigkeit für das Ministerium für Staatssicherheit. (219f)
Das Buch von Jörg Osterloh, Clemens Vollnhals und ihren Mitarbeitern gibt die ganze Bandbreite der Diskussion um den öffentlichen Umgang mit der NS-Vergangenheit wieder. Die Antwort auf die Frage, wie die Deutschen – aber auch die Österreicher, die an der Legende strickten, sie seien nicht Täter, sondern Opfer gewesen – mit den Verbrechen der Nazizeit umgingen, ist nach der Lektüre ernüchternd: Sie gingen weitgehend gar nicht damit um. Der größte Massenmord in der Weltgeschichte spielte in weiten Kreisen der Bevölkerung und in den Medien lange Zeit überhaupt keine Rolle. Dennoch kann man auf Millionen ungesühnten Morden eine funktionierende Demokratie aufbauen. Zumindest dies hat das Beispiel Bundesrepublik, aber auch das Österreichs gezeigt.
Mit reinem Gewissen
Joachim Perels/Wolfram Wette, Mit reinem Gewissen (© Aufbau)
Joachim Perels/Wolfram Wette, Mit reinem Gewissen (© Aufbau)
Wer den Begriff Wehrmachtjurist hört, denkt automatisch an den Fall Filbinger. Und dieser "schreckliche Jurist" und Politiker, der für Todesurteile verantwortlich war, kommt detailliert in dem Buch von Joachim Perels und Wolfram Wette vor. Doch Hans Filbinger ist nur eines der vielen Beispiele für Handlanger des NS-Regimes in Wehrmachtsuniformen, die geschätzt 19 600 Menschen, eine Kleinstadt, durch ihre Urteilssprüche in den Tod beförderten. Als aus dem Land der Dichter und Denker das Land der Richter und Henker geworden war. Dass die NS-Richterschaft und damit auch die Wehrmachtrichter die am wenigsten bestrafte Gruppe der NS-Mörder war, ist spätestens seit Manfred Messerschmitts Buch über "Die Wehrmachtsjustiz 1933–1945" von 2005 bekannt. Ein Jahr zuvor hatte Marc von Miquel deutlich gemacht, wie die Strafverfolgung der NS-Mörder in Deutschland mit juristischen Mitteln verhindert wurde. Mehr noch: Dass diejenigen, die sich die Wahrung des Rechts auf ihre Fahnen geschrieben hatten, ihre Stellung dazu missbrauchten, die Verfolgung des NS-Unrechts zu verhindern.
Hier setzt der Sammelband an und schildert in einer bedrückenden Vielfalt, warum und wie Menschen von der Wehrmachtsjustiz umgebracht wurden. Mit dem Ergebnis: Auch die Wehrmacht wich nicht vom antizivilisatorischen NS-System ab, das genau definierte Menschengruppen mit Hilfe des Rechts verfolgte und ausrottete. Denn formell entstanden die Todesurteile im geltenden Recht, freilich einem pervertierten Recht. Nur in den seltensten Fällen wurden die Täter später zu – meist geringen – Haftstrafen verurteilt. Etwa der Generalfeldmarschall Ferdinand Schörner, dem das pervertierte NS-Recht nicht genügte. Was Schörner trieb, waren keine Justizmorde, kein normatives Unrecht, es waren Morde ohne Justiz, begangen in der Selbstgefälligkeit eines überzeugten Nazioffiziers.
Die Hoheit über die historische Deutung des Zweiten Weltkrieges, mithin über die Wehrmachtsjustiz, hatten lange die ehemaligen Wehrmachtsoffiziere. Denn die hatten in ihren Nachkriegspositionen wieder Amt, Macht, Würden und Beziehungen, sodass sie sogar mithilfe des unverdächtigen Münchener Instituts für Zeitgeschichte ihre Fehlinterpretation des eigenen Handels als Buch zusammenschreiben konnten. Letztlich erschien es dann doch nicht in der Schriftenreihe des Instituts, wurde aber trotzdem das Standard-, weil einzige Werk zum Thema
Zwar war nicht nur in der Bundesrepublik sondern auch bei britischen Parlamentariern bekannt, "dass 596 Juristen von Hitlers Sondergerichten wieder im Dienst" waren (216), doch Konsequenzen hatten auch entsprechende Anfragen nicht: Wer von der Fiktion einer unbefleckten Wehrmachtsjustiz ausging, konnte folgerichtig auch nichts dagegen haben, dass die "Wahrer des Rechts in schweren Zeiten" wieder in Amt und Würden und an Pensionen kamen.
Erst 1995 erklärte der Bundesgerichtshof, die Todesstrafenpraxis der Militärjustiz sei "rechtsbeugerisch" gewesen, sie hätte "in einer Vielzahl von Fällen zu einer Verurteilung von Richtern und Staatsanwälten führen müssen." (92) Für die Opfer – und ihre Angehörigen – war das zu spät, und auch für die Täter: Das Problem hatte sich "biologisch" erledigt, verurteilt wurde keiner mehr. Gleichwohl war dies ein Urteilsspruch von hoher symbolischer Kraft: Die Geschichtslüge der rechtswahrenden Wehrmachtsjustiz war nun vom Tisch.
Leider versuchen einzelne Autoren des Bandes, einen Bogen zu schlagen zur Gegenwart, zur Bundeswehr. So spricht Rolf Surmann "von der militärischen Zerschlagung Jugoslawiens" (352) durch eine deutsche Kriegsführung, Helmut Kramer versucht ein Plädoyer für die Aburteilung von Militärangehörigen auf Auslandseinsätzen vor deutschen Zivilgerichten in Deutschland. Diese Meinung kann man zweifellos haben, auch wenn sie möglicherweise praktisch unausführbar ist, doch widerspricht sich Kramer selbst.
Trotz dieser erheblichen Schwachstellen haben Joachim Perels und Wolfram Wette ein wertvolles, seit mehr als einem halben Jahrhundert überfälliges Buch vorgelegt, das allerdings den Gegenwartsbezug nicht gebraucht hätte.
Bürokratische Bewältigung
Julia Volmer-Naumann, Bürokratische Bewältigung (© Klartext)
Julia Volmer-Naumann, Bürokratische Bewältigung (© Klartext)
Der Krieg war vorbei, da kehrten die ersten NS-Opfer wieder zurück in ihre ausgebombten Städte. Juden, politische Emigranten, KZ-Häftlinge. Vom Wunsch beseelt, in ihrer Heimat neu anzufangen, und mit der Hoffnung, ihr altes Eigentum, Häuser, Möbel, Geld, wieder zurückzubekommen. Denn die meisten waren mittellos und hatten an Eigentum nur das, was sie am Körper trugen, sie waren zudem oft von jahrelanger Haft arbeitsuntauglich.
Julia Volmer-Naumann zeigt, wie der chaotische Beginn der Entschädigungspraxis aussah und wie er dann Zug um Zug in geordnete, bürokratische Bahnen gelenkt wurde. Und wie im Regierungspräsidium Münster eine eigene kleine Entschädigungsabteilung entstand. Bis ins kleinste Detail wird gezeigt wer dort wie arbeitete, werden Arbeitsabläufe aber auch Freizeitaktivitäten der Mitarbeiter in Fotos gezeigt.
Doch der Beginn gehörte kleinen Selbsthilfegruppen, etwa dem Wiedergutmachungs-Komité in Münster, selbsternannten Gruppen, die sich selbst mit Macht und Kompetenzen ausstatteten, um Verfolgten – und auch sich selbst – zu helfen. Die Mitarbeiter waren umstritten, manch einem haftete das Odium der Kriminalität an, Geld und Waren verteilten sie nach Gütdünken. Die Stadtverwaltung Münster erkannte das örtliche Komité durchaus als halboffizielle Wiedergutmachungsstelle an. Zwei Mitarbeiter bekamen eine Aufwandsentschädigung, die Stadt steuerte 1.000 RM für Miete, Porto etc. bei. Dabei war jedoch lange umstritten, wer eigentlich als NS-Verfolgter zu gelten hatte und entschädigt werden sollte. Politische Häftlinge sicherlich, rassisch verfolgte Juden ebenfalls. Bei "Zigeunern" hörte der Konsens schon auf, und Homosexuelle oder Zwangssterilisierte wurden kaum als Opfer wahrgenommen. Dafür versuchte manch ein im KZ inhaftierter Krimineller an Entschädigungszahlungen zu gelangen. Dass das Komitee trotzdem jeden, der aus einem KZ entlassen wurde, mit einem Verfolgtenausweis ausstattete und zudem der Vorsitzende einen "beschlagnahmten 12 Cylinder PKW mit Chauffeur" (39) fuhr, trug zur Auflösung dieser halboffiziellen Dienststelle bei.
Ab Dezember 1945 übernahmen behördliche Dienststellen Zug um Zug die Betreuungs- und Wiedergutmachungsarbeit. Das Sonderdezernat im Regierungspräsidium Münster bemühte sich um Hilfe für die Verfolgten, in den Kreisen und kreisfreien Städten entstanden Ämter für Wiedergutmachung. Die Tätigkeit stieß jedoch an rechtliche Grenzen. In einer Zeit, als zu Beginn der 1950er-Jahre die alte NS-Beamtenschaft wieder in die Behörden zurückkehrte, fehlten Naziopfern manchmal einige Wochen Haft, um überhaupt in den Genuss einer Entschädigung zu kommen. Interessanterweise waren nur drei Dezernatsmitarbeiter selbst NS-Verfolgte, zwölf Mitarbeiter dieser Behörde blickten auf eine NS-Vergangenheit zurück. (416)
Bundesgesetze, die bestimmte Verfolgtengruppen offen bevorzugten, entstanden zu Beginn der 1950er-Jahre, auch hier waren es vor allem die Beschäftigten des Öffentlichen Dienstes, die Entschädigungen beanspruchen konnten. Es wurden hypothetische Gehaltseinstufungen vorgenommen, die entstanden sein könnten, wenn es das NS-Regime nicht gegeben hätte. Dem christlichen Handwerker, dem sozialdemokratischen Arbeiter oder dem verfolgten jüdischen Rechtsanwalt half dies nicht. Zwangssterilisierte bekamen erst ab 1980 eine kleine Entschädigung, Opfer der NS-Militärjustiz erst seit 1997. (192) Zu diesem Zeitpunkt war das Sonderdezernat in Münster (1968), waren die regionalen Wiedergutmachungsämter (1979) längst aufgelöst und an die Wohlfahrtsämter angegliedert worden.
Die öffentliche Resonanz entsprach dem Muster, das schon die beiden zuvor besprochenen Bänden nachzeichnen: Nach einem kurzen Aufflackern von Schuldgefühlen und Sühnebestrebungen über das angerichtete Unheil stellte die Bevölkerung schon 1946 das eigene Leid als Bomben-, Vertreibungs- oder Hungeropfer in den Vordergrund der allgemeinen Wahrnehmung. KZ- und Gefängnisaufenthalte, "Euthanasie" und Vernichtung wurden Hunger und Eigentumsverlust durch alliierte Bombenangriffe historisch wertfrei gegenüber gestellt. Warum für Opfer spenden, wenn man sich selbst als Opfer sah? So blieb das Dezernat im Regierungspräsidium eine öffentlich kaum bekannte, engagiert, aber weitgehend im Verborgenen arbeitende Institution. Verborgen nicht aus Schutz, sondern weil ihre Arbeit außerhalb kaum jemanden interessierte.
Julia Volmer-Nauman hat mit ihrem Buch eine sehr interessante Regionalstudie vorgelegt, geschrieben in bester historischer und organisationssoziologischer Art und Weise. Leider enthält das umfangreiche Werk weder ein Sach- noch ein Orts- oder Personenverzeichnis. Damit ist diese grundlegende regionale Studie letztlich für die wissenschaftliche Arbeit leider kaum nutzbar.