Harry Kranner Fiss - Zeuge der Novemberpogrome in Wien Tagebuchaufzeichnungen über Gewalt, Willkür und Verfolgung
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Mittwoch den 9.XI.38
Heute hatte ich ausnahmsweise keine Französischstunde. Es ist nämlich heute Feiertag, und das heißt für uns, daß man...
..nicht auf die Straße gehen soll. Stattdessen habe ich diesen Samstag Stunde.
Donnerstag, den 10. Heute begann der Tag ja fein! In aller Früh wurde ich um ½ 8h durch großes Sturmgeläut geweckt. 3 große Männer traten ein. Sie bestanden darauf, meinen Vater zu sprechen, der ja schließlich bald kam. Dann kramten sie in unserem Kasten herum, unter dem Einwand, daß sie nach Waffen suchten: Also kurz mit einem Worte, eine Hausdurchsuchung. Da wir immer eine friedliche Partei waren, regten wir uns, speziell Mutti, darüber sehr auf. Wir hätten uns aber in ruhigeren Zeiten noch mehr aufgeregt. Jetzt sind wir schon leidlich daran gewöhnt. Natürlich konnten sie nichts finden, da wir nichts hatten, und gingen bald. Aber ich muß sagen, daß sie sich sehr korrekt benommen haben, nunmal in diesen Tagen der deutsche Gesandte in Paris von einem Juden ermordet wurde. Aber wenn man glaubt, daß damit Schluß ist, so ist man am Holzweg, Eine Stunde oder 2 wurde Onkel Arthur verhaftet! Wie das enden wird, weiß ich nicht. Nur eines weiß ich, daß wir ungeheures Glück gehabt hab-...
...-ben. Aber schließlich weiß ich nicht, ob mit der Hausdurchsuchung Schluß ist. Ich kann es nicht mit Worten ausdrücken! Mutti hat geweint und
ich bin gerade schon lebensüberdrüßig. Bitte, das ist kein Witz. Der Leser wird es auch nie mehr glauben können. Gehe heute den ganzen Tag, wahrscheinlich auch morgen und übermorgen, nicht auf die Straße. Es ist einfach furchtbar. Gestern schmissen Burschen, als ich mit Großmutter einkaufen ging, uns Steine nach, so etwas erlebe ich ja täglich fünfmal. Das soll ich auch schreiben. Ich bin furchtbar traurig, weiß nicht, was morgen sein wird, und habe die Hoffnung, jemals auswandern zu können, schon aufgegeben. Aber das ganze war nur der Anfang. Alle J. [uden] Wiens wurden in Wohnungen eingesperrt, weil die Gefängnisse voll waren. Großmutti und Großpapa wurden in ihre Wohnung und noch 1 Partei eingesperrt. Erste ist ganz fertig. Onkel Egon, überhaupt die ganze junge Römerfamilie und die ganzen Parteien des Hauses – 14 Personen, wurden in ihre Zimmer eingesperrt und die Schlüssel abgezogen. Am ärgsten machte Familie Singer mit. Herta kam ganz verweint zu uns...
...ins Bureau. Sie erzählte, daß ihr Vater eingesperrt wurde. Sie wurden aus ihrer Wohnung einfach hinausgeschmissen und konnten nur mit Müh und
Not ein wenig Geld mitnehmen. Es ist mir unmöglich alles zu berichten. Papa entging durch einen Zufall noch ein 2. Mal der Gefangenschaft. Er kam nämlich nur 3 Min später, als die Gestapo kam, um alle Kursmitglieder, die sich im Bureau befanden auch den Hans gefangenzunehmen. Da F.[rau] Singer obdachlos ist, schläft sie heute bei uns, auch vielleicht Onkel Arthur, da Tante Hella inzwischen sich erkundigt hat, und man ihr gesagt hatte, er werde in 3h frei sein. Aber man weiß ja heute überhaupt nichts mehr. Das Telephon rasselt ununterbrochen. Ich fiel heute für kurzen in Ohnmacht, und als man die Wohnung von F.[rau] Singer versiegelt hatte, bekam Herta einen Schreikrampf! Während ich nun dieses Schauermärchen schreib‘ kommt plötzlich im Radio die Verlautbarung, daß alle Gefangenen losgelassen werden und die Wohnungen zurückgeben werden. Wir werden ja morgen sehen, was sein wird. Ich bin ganz fertig, aber noch mehr Tante Hella. Deswegen überlasse ich...
...ihr für diese Nacht mein Bett und schlafe mit Herta auf der Erde – Juchu! Man sieht, daß ich noch nicht den Humor verloren habe. Weil ich gerade beim Humor bin, so möchte ich sagen, daß heute mitten in dem Wirrwarr die lang ersehnten Bücher aus Paris kamen. Jetzt werde ich endlich, bis sich alles wieder gelegt haben wird, nach einem Lehrplan lernen und ich hoffe, daß auch einmal mein Visum kommen wird. Es ist schon Abend – Gott sei dank! – Nun in diesen Tagen erlebte ich mehr, als in 5 Jahren. Lege mich jetzt nieder, und hoffe, daß Onkel Arthur heute noch zurückkommen wird. So endeten die Vergeltungsmaßnahen. Oder war es vielleicht nur der Anfang?
Freitag, Den 11. XI /38 Gestern Abend kam Hans noch zurück. Er wurde sehr freudig empfangen und zeigte besonders gegen mich eine besondere Freundlichkeit. Ja! Das Schicksal macht die Menschen weich! Von Onkel Arthur ist leider noch nichts zu hören. Tante Hella rennt sich den ganzen Tag die Füße aus. Nicht einmal die Wohnungsschlüssel hat sie noch bekommen. Wir sind in einer verzweifelten Lage. Samstag, den 12./38 Von Onkel Arthur ist noch nichts zu hören. Wir haben furchtbare Angst um ihn. Zumal am Abend noch die...
...Nachricht kam, daß alle Gefangenen zur Westbahn fuhren. Das heißt in der jetzigen Zeit, daß sie ins Konzentrationslager nach Dachau, oder nach
Mauthausen, wo man ziemlich leicht zu Grunde gehen kann, kommen. Man kann sich die Aufregung Tante Hellas vorstellen. Sie fuhr rasch mit Papa mit einem Taxi zum Westbahnhof. Dort war es Gott sei dank ruhig. Dann fuhren sie rasch zum Franz-Joseph-Bahnhof, wo es auch ruhig war. Da sie sich bei der Pramagasse gerade befanden, wo die Gefängnisse waren, beschlossen sie, dorthin zu schauen. Da bemerkten sie nun allerdings grüne Heinriche, welche zum Westbahnhof fuhren. Da der Chauffeur sehr nett war, ging er auf die Forderung Papas, die Autos zu verfolgen, ein. Nach der Erzählung Papas, kann man sich denken, wie aufregend das war. Vor ihnen fuhr auch ein Auto, welches die Gefangenenautos zu verfolgen schien. Zuletzt stellte sich heraus, dass der Insasse Tante Irma, eine Schwägerin Tante Hellas, war. Aber die Gefangenen steigen nicht auf der Westbahn aus sondern in der Kenyongasse, in der Nähe von uns, wo sie in der Klosterschule einquartiert wurden. Wenn ein alter Mann nicht geschwind genug ausstieg...
...schrie man ihm zu und schimpfte über ihn. Es war einfach furchtbar, zuzuschauen. Währen nun Papa und Tante Hella dort hinschauten, hätte es
letzteren fast erwischt. Wir hatten furchtbare Sorge um ihn. Am Abend gingen wir zur Großmutti, wo eine große Debatte über das Geschäft statt fand, da man es ihnen zusperrte und ihnen die Schlüssel dafür nahm. Man einigte sich endlich daß man 1 Umschulungskurs veranstalten werde, von der Gestapo bewilligt. Deswegen sollte Papa am nächsten Tage zur Kultusgemeinde fahren. Nachher hörten wir im Radio die ersten Bußestrafen der Juden. Vorläufig wurden nur 2 Verordnungen verlautbart: die 1. daß bis Januar alle jüdischen Betriebe aufgelöst sein müssen. Die 2. war, daß den Juden ein Betrag von 1 Milliarde Reichsmark auferlegt wird. Brrr!
Harry Kranner Fiss wird am 15. April 1926 als Harry Kranner in Wien geboren. Er beginnt sein Tagebuch am 4. November 1938. Ursprünglich hat er vor, in dem Buch seine geplante Auswanderung zu dokumentieren, doch rasch werden seine Aufzeichnungen zu einem Zeugnis der Novemberpogrome. Seine Berichte zeigen wie die darauffolgenden Ereignisse seinen Alltag beeinflussen. Das Tagebuch schildert die privaten Anstrengungen und Probleme, die seine Familie erdulden muss, bis es ihnen endlich gelingt, Österreich zu verlassen.
In der "Kristallnacht" wird seine Wohnung von Truppen durchsucht, sein Stiefvater Emil Fichmann (der sich nach seiner Immigration in die USA in Fiss umbenennt) muss den Bürgersteig vor seinem Wohnhaus schrubben, während sein Onkel Artur Singer festgenommen und mehrere Monate im Konzentrationslager Dachau inhaftiert wird.
Wien im März 1938: Jüdische Bürger werden gezwungen, die Straßen zu waschen. Teile der Bevölkerung stehen dabei und sehen zu. Diese spezielle Form der Demütigung wurde "Reibpartie" genannt. (© picture alliance/IMAGNO)
Die Familie von Harry Fiss erreicht im August 1939 die USA und lässt sich in New York City nieder. Im August 1944 meldet sich Harry Fiss freiwillig zum Dienst in der US Army. Nachdem er das grundlegende Training als Flugzeugmechaniker durchlaufen hat, wird er auf Grund seiner Sprachkenntnisse in Deutsch und Französisch zur Nachrichtenabteilung transferiert. Sein Schiff erreicht Europa unmittelbar nach dem 8. Mai 1945, dem Tag der Befreiung, und Harry Fiss wird ein Mitglied der alliierten Besatzungsmächte in Deutschland. Dort wird er als Übersetzer für die Nürnberger Prozesse zugeteilt und zum Leiter der Dokumentation des amerikanischen Anklägers ernannt.
Nach seiner ehrenhaften Entlassung aus dem aktiven Dienst im Juli 1946, studiert Harry Fiss an der New York University mit dem Hauptfach Englisch, das er 1949 abschließt. Obwohl er als Nachrichtenjournalist in Hollywood, Kalifornien, Arbeit findet, wird sein berufliches Vorankommen durch seinen Akzent behindert. Nochmals kehrt Harry Fiss an die New York University zurück und besucht nun Graduiertenkurse in Psychologie. Drei Jahre später wird er im Doktorandenprogramm der Psychologen angenommen. Im Jahre 1963 beginnt Harry Fiss mit George Klein im Bereich der Traumforschung zusammenzuarbeiten. Sie erhalten staatliche Förderung zur Einrichtung eines der ersten experimentellen Schlaflabore. Ihre Forschungen führen zu der Entdeckung, dass das Träumen nicht nur während der REM-Schlafphase (Abkürzung für "Rapid Eye Movement") stattfindet. In den 1960er Jahren wird Harry Fiss Leiter des "Clinical Psychology Training Program" am Albert Einstein College of Medicine und nimmt eine Professur an der Long Island University an. In den 1970er Jahren entschließen sich Harry Fiss und seine Familie dazu, New York zu verlassen. Er findet eine Anstellung bei der University of Connecticut's School of Medicine, wo er Leiter der Psychologie-Abteilung und leitender Psychologe in der Abteilung für Psychiatrie wird. Nach seiner Pensionierung im Alter von 66 Jahren arbeitet er in seiner Privatpraxis weiter und unterrichtet Psychologie-Studenten im Aufbaustudium an der University of Hartford. 1990 reist er nach Wien um eine Vortragsreihe zum Thema Schlaf und Träumen durchzuführen und auch Vorträge über seine Erlebnisse in den 1930er Jahren zu halten. Nach längerer Krankheit stirbt Harry Fiss‘ erste Frau Gerda im Jahre 2001. Er heiratet Sari Max-Siss im November 2002. 2003 ist er in Wien der Hauptredner anläßlich des 50. Jahrestags der Entdeckung des REM-Schlafs. Harry Fiss stirbt am 2. Mai 2009.
Historischer Hintergrund: Novemberpogrome
Bilder brennender Synagogen, zersplitterter Schaufensterscheiben, verwüsteter Privathaushalte und ihrer misshandelten Bewohner sind bis heute zum Sinnbild der Zerstörung des einstmals blühenden deutsch-jüdischen Lebens geworden. In der Nacht vom 9. zum 10. November erreicht die orchestrierte Gewalt gegen Juden in Deutschland und Österreich bis dahin ungekannte Ausmaße. Mit ungehemmter Brutalität zerschlagen Mitglieder der Sturmabteilung (SA) und Schutzstaffel (SS) Schaufensterscheiben von Geschäften, dringen gewaltsam in Privatwohnungen von Juden ein und traktieren auf offener Straße jene, die sie als "jüdisch" identifizieren. Die von staatlicher Seite initiierten Ausschreitungen werden als "spontaner Volkszorn" inszeniert, weshalb die Angehörigen der SA und SS auch aufgefordert werden, ihre Taten in zivil zu begehen. Im Gegensatz zu den Boykottaktionen von 1933 erfolgt keine bildliche Dokumentation zu Propagandazwecken. Vielmehr sollen die Taten als vermeintlich unmittelbare "Vergeltungsmaßnahme" für das Attentat auf den an der deutschen Botschaft in Paris tätigen Legationssekretär Ernst vom Rath erfolgen.
Am 7. November hat Herschel Grynszpan auf den Botschaftsangehörigen geschossen. Der in Paris lebende 17-jährige Herschel Grynszpan hat wenige Tage zuvor erfahren, dass auch seine Eltern von der "Polenaktion" betroffen sind, in der 17.000 im Deutschen Reich lebende Juden mit polnischer Staatsangehörigkeit nach Polen abgeschoben werden. Sein ursprüngliches Ziel ist wohl der deutsche Botschafter in Paris. Stattdessen trifft er Ernst vom Rath, der am 9. November 1938 stirbt. Die Meldungen über das Attentat erreichen die deutsche Öffentlichkeit zwar erst am 8. November 1938, doch bereits am Vortag finden die ersten Ausschreitungen unter der Regie der SA und SS statt. Ein schon lang herbeigewünschter Anlass für die Inszenierung des Volkszorns.
Ihren Höhepunkt erreichen die Pogrome in Deutschland in der Nacht vom 9. zum 10. November 1938. Juden und Jüdinnen in Österreich bekommen die Auswirkungen erst später, aber dafür in voller Vehemenz zu spüren. Dort setzen die organisierten Schikanen und Gewaltexzesse erst am 10. November 1938 ein.
Ausschreitungen 1938 gegen Juden in Deutschland und Österreich
Bei der "Reichskristallnacht" im norddeutschen Zeven (Kreis Bremervoerde) werden die jüdischen Einwohner zusammengetrieben und die Männer verhaftet.
Die SA verbrennt das Synagogenmobiliar am Morgen des 10. November 1938 öffentlich auf dem Marktplatz. Obwohl die NS-Führung die Ausschreitungen als spontane Volkserhebung deklariert, ist für viele in- und ausländische Beobachter klar, dass es sich um ein staatlich inszeniertes Pogrom handelt. Auch Schilder wie auf diesem Bild "Rache für Mord an vom Rath! Tod den International. Juden und Freimaurern!" können nicht darüber hinweg täuschen.
Zerstörtes und geplündertes jüdisches Geschäft in Berlin, 9./10. November 1938. Von den Nazis organisierte Ausschreitungen gegen jüdische
Mitbürger, Geschäfte und Synagogen.
Baden-Baden, am Tag nach der "Reichskristallnacht" (10. November 1938): Kolonne verhafteter jüdischer Männer wird durch die Straßen der Stadt
geführt.
Antisemitismus in Wien: Die Fassade des Cafe Rembrandt und der Gehsteig sind mit antisemitischen Parolen beschmiert. Photographie. 1938.
Zerstörte Synagoge nach der Reichskristallnacht in Wien 1938.
Die Bilanz ist verheerend: Zwischen dem 7. und 13. November fallen die Hälfte aller Synagogen Verwüstungen und Brandanschlägen zum Opfer, knapp 7.500 Geschäfte werden binnen weniger Stunden demoliert und knapp 30.000 Juden und Jüdinnen werden in den nachfolgenden Tagen festgenommen und in Gefängnisse oder Konzentrationslager gebracht. Davon sind vor allem junge und wohlhabende Männer betroffen, die in "Schutzhaft" genommen werden, um sie zur raschen Emigration und Überlassung ihrer Besitztümer zu zwingen. Alleine bis zum Morgen des 10. Novembers 1938 sind 91 Tote zu beklagen. Doch die Zahl der Opfer der euphemistisch als "Kristallnacht" bezeichneten Gewaltexzesse liegt weitaus höher, mehr als 1.300 Personen sterben infolge der Novemberpogrome durch Gewalt, unmenschliche Haftbedingungen oder Suizid.
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