Für Angst blieb keine Zeit
Die Entmachtung des MfS durch Frauen in Erfurt
Gabriele Stötzer
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Nicht in Berlin am 15.1.1990, sondern in Erfurt sechs Wochen zuvor, begann das Ende der DDR-Geheimpolizei. Dort mobilisierte auch eine Gruppe von Frauen zur Besetzung des Ministeriums für Staatssicherheit. Die Erfurter Schriftstellerin Gabriele Stötzer schildert in einer Reportage aus ihrer Sicht den historischen Tag - und wie sich der Mut entwickelte, keine Angst mehr vor professionellen Angstmachern zu haben.
Ich erinnere mich noch genau an den frühen Morgen des 4. Dezember 1989 in Erfurt. Kurz nach 6 Uhr klingelte es eindringlich an meiner Wohnungstür. Zwei Frauen standen vor mir, die aufgeregt erzählten, was sie seit einem Fernsehbericht gestern Abend aufwühle. In der Berliner Staatssicherheit seien Akten verbrannt worden, obwohl vor dem Tor eine Bürgerwache postiert war. Dass es darum wichtig sei, heute die Erfurter Stasi-Liegenschaft zu besetzen, um wenigstens hier die Vernichtung der Geheimpolizei-Akten zu verhindern.
Ich kannte Kerstin Schön und Sabine Fabian aus der Erfurter Frauenbewegung, die sich aus mehreren Strängen zusammensetzte. Einen Anstoß dazu gab der Kirchentag 1988. Damals hatte Erfurts Probst Heino Falcke das Augustinerkloster drei Tage ausschließlich Frauen zur Verfügung gestellt. Es gab dort Frauengottesdienste, Ausstellungen, Aktionsmalereien, ein Frauenkaffee und Informationsstände, an denen sich auch unsere Künstlerinnengruppe, die seit 1984 aktiv war, vorstellte. Alle hatten sich bisher eher in kleinen Zirkeln in Privatwohnungen getroffen, beschlossen aber von diesem Zeitpunkt an, sich einmal im Monat gemeinsam in der kirchlichen Stadtmission zu versammeln und mischten sich zunehmend gesellschaftspolitisch ein.
Als sich im September 1989 in der DDR die politischen Bewegungen "Neues Forum" und "Demokratischer Aufbruch" gründeten, bildeten wir eine Gruppe mit eigener Stimme: "Frauen für Veränderung". Unter diesem Titel meldeten wir uns im Zuge der Friedlichen Revolution bei den Erfurter Donnerstagsdemonstrationen zu Wort. Sie waren das Pendant zu den populär gewordenen "Montagsdemos" in Leipzig und anderen Orten.
Wöchentlich gingen immer mehr Bürger auf die Straße, aber gleichzeitig verließen Tausende von Jugendlichen über die Tschechoslowakei und Ungarn resigniert das Land. Mütter, die im Rahmen dieser Fluchtwelle ihre Kinder verloren, suchten bei uns Rat. Jahrelang hatten sie sich angepasst, damit es ihren Kindern einmal besser gehe, doch diese Hoffnungen waren zerstoben. So riefen wir am 8. November 1989 zu einem Frauenforum im Rathaus auf, zu dem fast 200 Frauen kamen, die sich auf unterschiedliche Weise engagierten, sei es in anderen Fraueninitiativen oder Basisgruppen.
Eine dieser Gruppen analysierte die nachgewiesenen Ergebnisfälschungen der DDR-Kommunalwahlen vom 7. Mai 1989. Eine Umweltschutzgruppe maß mit selbstgebauten Geräten die regionale Luftverschmutzung und eine „Vorbereitungsgruppe“ bestimmte Inhalte und Redezeiten bei den Donnerstagdemonstrationen auf dem Domplatz. All dies baute auf einem graswurzelartig gewachsenen Netz von Menschen auf, die sich im Lauf der Vormonate, ja auch Vorjahre, gegenseitig schätzen gelernt hatten, weil sie das Ziel einte, wenigstens im Kleinen eine engagierte, demokratische Zivilgesellschaft zu verwirklichen.
Während einer dieser Demos schloss ich mich spontan einer kleinen Gruppe an, die sich zur am Domplatz liegenden Bezirkszentrale der Staatssicherheit begab, um in Erfahrung zu bringen, wie sich die gefürchtete Geheimpolizei während der Demonstrationen verhielt. Überraschend wurden wir eingelassen. Drinnen zog der Erfurter Stasi-Generalmajor Josef Schwarz demonstrativ die Vorhänge seiner Fenster zu, um die Massen nicht zu provozieren und auf sich aufmerksam zu machen. Plötzlich saß ich ihm in einem Raum voll spießigen Mobiliars gegenüber, das mich an meine Vernehmungen 12 Jahre zuvor erinnerte – ebenfalls hier. Damals hatten mich Stasi-Leute wegen einer Unterschriftensammlung gegen die Ausbürgerung des Liedermachers Wolf Biermann verhaftet. Es folgten fünf Monate Stasi-U-Haft in Erfurt und eine Verurteilung zu einem Jahr Strafvollzug in der Frauenhaftanstalt Hoheneck wegen Staatsverleumdung.
Von den wenigen Demonstranten, die mit in das Büro gelangt waren, kannte ich nur einige, und die ich kannte, verhielten sich eigenartig, fast unterwürfig. Alle klaren Fragen nach Struktur und Funktion der Stasi verhallten, die kargen Antworten des Generalmajors verwoben sich in einem Netz irreführender Erklärungen, die mich deprimierten. Diese Begegnung half nicht weiter.
Eine Besetzung mit vielen Eingeweihten
An diesem Morgen nun erklärten mir die beiden Frauen, wie sie sich eine Besetzung vorstellten – verblüffend einfach organisiert und überzeugend geregelt. Um ein friedliches Vorgehen zu gewährleisten, müsse man zuerst im Rathaus den Bürgermeister um Unterstützung bitten, dann den Bezirksrat der Sozialistischen Einheitspartei SED überzeugen, danach die Presse benachrichtigen und schließlich zum Staatsanwalt. Dies einerseits um die Stasi wegen Vernichtung von Volkseigentum anzuzeigen und andererseits, um dafür zu sorgen, nicht selber kriminalisiert zu werden. In diesem Plan lag viel Utopie, aber auch so viel Klarheit und Entschiedenheit, dass ich zustimmte. Schnell berieten wir, wer noch einbezogen werden könnte. Für uns in Frage kamen Menschen aus der Frauen- und alternativen Bewegung, der Kirche, aus Betrieben, Buchhandlungen, Museen und aus den zwei neuen Bürgerbewegungen Neues Forum und Demokratischer Aufbruch. Sie sollten dazu aufgerufen werden, umgehend zum Gebäude der Staatssicherheit aufzubrechen und es mit zu umstellen.
Sabine und Kerstin besaßen beide einen Trabant (DDR-Automarke), und hatten gerade ihre Kinder in die Schule gebracht. Sabine arbeitete als stellvertretende Bauleiterin zur Umgestaltung der Domplatzbibliothek und stand mit Erfurter Großbetrieben in Kontakt. Sie brach zur Bibliothek am Domplatz auf, vom dort vorhandenen Telefon aus rief sie alle anderen Bibliotheken und Buchhandlungen in Erfurt an. Anschließend fuhr sie allein in mehrere Betriebe.
Kerstin und ich fuhren zu Tely Büchner aus unserer Künstlerinnengruppe, sie lebte mit Matthias Büchner, dem Gründer des Erfurter Neuen Forums zusammen. Er war erst in den frühen Morgenstunden aus Berlin von einem Treffen des Neuen Forums in Grünheide bei Katja Havemann zurückgekehrt und schlief noch fest. Kerstin erklärte Tely ohne Umschweife ihren Plan, heute die Stasi zu besetzen. Obwohl sie schwanger war, war sie umgehend bereit, uns zu begleiten.
Um die Ecke lebte Claudia Bogenhardt von der Erfurter Frauengruppe "Autonome Brennesseln". Ich suchte sie auf, als sie gerade ihre drei kleinen Kinder fütterte. Schnell organisierte sie eine Kinderbetreuung aus der Nachbarschaft und kam ebenfalls mit. Nächste Station war Almuth Falcke, sie hatte sich in den letzten Monaten bei der Organisation von Frauengruppen besonders engagiert. Die Treffen zur Gründung eines alternativen Frauenverbandes der DDR fanden in ihrem Haus statt. Auch dort gab es ein Telefon, von dem aus Kerstin beim Bürgermeister, dem Rat des Bezirkes der SED, der Landesszeitung "Das Volk" und beim Staatsanwalt anrief. Auch den Mitbegründer des Erfurter Neuen Forums, Manfred Ruge, erreichte sie telefonisch und bat ihn eindringlich: „Komm du auch ins Rathaus!".
Mobilisierung per Telefon und vor Ort in Betrieben
Es war kurz nach 7. Ich rief einzelne Frauen auf ihren Arbeitsstellen an und forderte sie auf, unabhängig von uns zur Bezirkszentrale der Stasi in der Andreasstraße aufzubrechen, gleich die ersten drei antworteten mit einem selbstbewussten Ja. Das waren Monique Förster bei der Sozialfürsorge und Elisabeth Kaufhold an ihrer Arbeitsstelle in der Poliklinik Mitte. Da ihr einige Patienten abgesagt hatten, brach sie sofort zur Andreasstraße auf und gehörte mit zu den ersten, die sich dort versammelten. Dann die Künstlerin Verena Kyselka, die zu Hause über ein eigenes Telefon verfügte (was damals selten war), ich bat sie, dort zu bleiben und zu warten, falls wir in Gefahr geraten und Hilfe benötigen sollten.
Almuth Falcke rief ihrerseits kirchliche Einrichtungen wie die Predigerschule an, deren Leiter, Pfarrer Lippold, sofort seine Mitarbeiterbesprechung absagte und sein Team und seine Studenten zur Andreasstraße beorderte. Auch Almuth Falcke und ihr Mann fuhren mit ihrem Auto, einem Wartburg, der größer war als ein Trabant, dorthin und blockierten den Hinterausgang des MfS-Geländes. Es sollte nicht lange dauern, dann kamen als Unterstützer Mitarbeiter aus Stadtreinigung und Verkehrsbetrieben dazu, die halfen, die Ausfahrt zu blockieren.
Denn Sabine Fabian war mit ihrem Trabbi auch dorthin gefahren und hatte auch dort ihren immergleichen Satz gesagt, den man das Mantra der Stasibesetzung nennen könnte: "Wir besetzen heute die Stasi und es wäre schön, wenn sie mitmachten". Zuvor war sie in mehreren Betrieben auf Entsetzen und Lethargie gestoßen, hier war das anders. Als sie auf dem Rückweg zur Andreasstraße war, sah sie Fahrzeuge von dort in die gleiche Richtung fahren und spürte ein überwältigendes Glücksgefühl.
Im Rathaus ein politisches Vakuum
Kerstin, Tely, Claudia und ich machten uns indessen auf zum Rathaus. Als sich das große Holztor das Gebäudes hinter uns schloss, ahnten wir weder, wie sich dieser Tag entwickeln sollte, noch was unmittelbar auf uns zukam: eine Art politisches Vakuum.
Wir eilten hoch zum Tagungssaal, Punkt 8.00 Uhr hatte dort die Ratssitzung begonnen. Im vollen Vorzimmer versuchten uns noch Sekretärin und Mitarbeiter den Zutritt zu verwehren, doch vergebens. Wir stellten uns vor die anwesenden 18 Ratsmitglieder und Kerstin und Sabine erklärten unser Auftreten als erste Schritte, heute noch in die Staatssicherheit einzudringen um die Verbrennung der Stasiakten zu unterbinden. Tely betonte, dass das alles friedlich ablaufen müsse und ich setzte hinzu, dass alle Bürger Erfurts hinter uns ständen. Diese Gewissheit hatten wir jedoch nicht.
Die Reaktion war Totenstille, kein Protest oder Fragen, nur bewegungslos erschrecktes Staunen. In Erfurt war gerade die "Rote Rosi" als langjährige SED-Oberbürgermeisterin abgesetzt worden und das neue Stadtoberhaupt, Siegfried Hirschfeld (SED), unterbrach die Sitzung und führte uns in ein Nebenzimmer. Zuvor hatte er bereits mit Manfred Ruge gesprochen. Er erklärte, für die Stasi nicht zuständig zu sein, wir sollten lieber zum Staatsanwalt und wenn wir etwas in der Stadt erreichen wollten, zur Kreisdienststelle des MfS in der Straße der Einheit.
Stasi-Drohung: "Sie werden verhaftet"
Für uns rief er seinen neuen Abteilungsleiter für Inneres ins Büro, einen Herrn Schneider, der gerade seinen abgesetzten Vorgänger abgelöst hatte. Claudia und ich saßen einem ratlosen Mann gegenüber, der unseren Fragen zunächst auswich, wer für die Stasi eigentlich verantwortlich sei. Doch dann rief er selber bei der Erfurter Stasiführung, um mitzuteilen, "dass heute Bürger in seine Dienststelle kommen wollen und einen friedlichen Ablauf fordern". Die uns wieder gegebene Antwort war barsch: "Nein, wir wollen keine Bürger im Haus, wenn sie kommen, werden sie verhaftet."
Plötzlich hatte ich ein Bild von den kahlen U-Haftzellen vor mir, Gedanken ratterten durch den Kopf, aber auch zu meiner eigenen Überraschung waren sie nicht angstbesetzt. Eher „Verhaften ist besser als erschießen“, „Wieder so eine langweilige dumme Zeit“ usw., so dass ich laut sagte: "Dann gehen wir eben hinein und lassen uns verhaften". Claudia hatte ihre Kamera dabei und wollte die Büro-Szene fotografieren, doch der Innen-Beauftragte kreischte sie an, er fühle sich "vergewaltigt"! Claudia musste lauthals lachen.
Mit wem ich anschließend zu einem Staatsanwalt fuhr, weiß ich nicht mehr. Ich kann mich nur noch an dessen längliches Zimmer erinnern. Er saß an der rechten Stirnfront hinter einem Schreibtisch. Ich saß auf einem Stuhl davor und neben mir stand noch jemand von uns. Wir versuchten den Staatsanwalt davon zu überzeugen, uns in die Andreasstraße zu begleiten um die dortige Besetzung zu legalisieren. Er lehnte dies ab, für die Stasi als Militärorgan sei allein der Militärstaatsanwalt zuständig und der säße in Berlin. Aber er rief dort an und erhielt die Rückmeldung, dass sich tatsächlich ein Militärstaatsanwalt auf den Weg machen würde und in 3 ½ Stunden in Erfurt sei. Doch das erschien mir viel zu spät. Ich brach auf zur Andreasstraße.
Neuer SED-Chef garantierte, dass nicht geschossen wird
In der Zwischenzeit waren Kerstin und Tely zur Bezirksdienststelle der SED gefahren und verlangten ein Gespräch mit dessen Leiter. Tags zuvor war der bisherige SED-Chef Gerhard Müller wegen Amtsmissbrauchs verhaftet worden. Nun redeten sie mit dem jetzigen Bezirkssekretär Arthur Swantek. Nach Telys Schilderung zeigte er sich offen und entgegenkommend und versicherte, die Türen der Bezirks- und Kreisdienststelle würden geöffnet. Und geschossen werde nicht. Beide begaben sich umgehend in die Straße der Einheit zur Kreisdienststelle, wo schon eine beachtliche Anzahl vonn Menschen versammelt waren, darunter viele Mitarbeiter der Städtischen Museen. Die Stimmung war explosiv, denn die Türen wurden nicht geöffnet. Kerstin und Tely gingen spontan in das Büro eines Saatzuchtbetriebes gegenüber, um von dort erneut den SED-Bezirkssekretär Swantek anzurufen. Spätestens jetzt begriff er, wie ernst wir unser Anliegen meinten und versicherte erneut, dass die Türen des MfS in Erfurt friedlich geöffnet werden sollen.
Aber erst nach zähen Verhandlungen ließ das MfS gegen 12.00 Uhr die ersten Demonstranten in die Stasi-Kreisdienststelle ein. Innen befanden sich hastig leer geräumte Zimmer, eine umfangreiche Waffenkammer und Überwachungsräume. Claudia Bogenhard und Manfred Ruge notierten die wenigen Bestände und nahmen improvisiert erste Versiegelungen vor.
Zehn verschollene Demonstranten
Etwas anders war die Situation in der größeren MfS-Bezirksverwaltung in der Andreasstraße. Bereits gegen 10 Uhr zuvor waren dort zehn Bürger unter Leitung von Almuth Falcke [10] hineingelassen worden. Doch nach einer Stunde gab es von ihnen keinerlei Signal. Um diese Zeit kamen Kerstin und Tely dorthin und machten sich Sorgen, ob die Gruppe vielleicht schon verhaftet sei. Beide wollten auf alle Fälle selber hinein. Doch der Haupteingang blieb verschlossen, sie gingen zum mit Autos blockierten Hintereingang, den auf Stasi-Seite zwei bewaffnete Soldaten mit Maschinenpistolen bewachten. Auch hier hatte sich eine Traube ratloser Menschen gebildet, doch Kerstin und Tely liefen schnurstracks an den Soldaten vorbei. Tely erinnert sich heute: "Du hast in ihren Augen gesehen, dass sie auch nicht genau wussten, was sie machen sollen. Wir haben gesagt: "Wir wissen, dass Leute von uns hier drin sind und wir wollen jetzt auch hinein". Wir liefen geradeaus an den Soldaten vorbei und ich winkte den Wartenden zu, wusste aber nicht, ob die anderen uns folgen. Aber sie sind uns gefolgt und boten uns Schutz, das war wichtig. Wir alle waren jetzt Besetzer."
Tely Büchner beschreibt diesen Moment, schwanger an den bewaffneten Soldaten vorbeizueilen, als den dramatischsten und emotionalsten am ganzen Tag. In ihrem Gefolge drängten nun immer mehr Bürger ins Gebäude. Sie gingen durch große leere Gänge, die ein verlassenes Gefühl vermittelten, das sich schnell änderte, als sie nach Durchforsten des Gebäudes den Haupteingang öffneten und von dort die schon seit Stunden Wartenden hineinströmten.
Almuth Falcke hatte ab 10 Uhr die ersten Verhandlungen mit Generalmajor Schwarz geführt. Sie beschrieb anschließend den Moment, als ein nervöser MfS-Mitarbeiter zu ihnen stieß und sagte: "Hier stürmt jetzt eine Gruppe von 200 Leuten das Gelände!", worauf Schwarz die Verhandlung abbrach, um "Ordnung und Arbeitsfähigkeit seiner Einrichtung" wieder herzustellen. Doch von dem Moment an hatte er jegliche Befehlsgewalt verloren.[11] Wie wenig er die Situation fassen konnte, zeigt ein Fernschreiben des Erfurter Stasi-Chefs an die Geheimpolizei-Leitung in Berlin am Nachmittag des 4.12.1989: "Während dieses Gesprächs im Konferenzzimmer des Leiters des Amtes ...verschafften sich weitere Personen unter der Führung einer Frau Dr. Schön, Kerstin, die sich als Sprecherin eines unabhängigen Untersuchungsausschusses ausgab, gewaltsam Zugang zum Bezirksamt und begaben sich ebenfalls in das Konferenzzimmer".[12]
Auch Spitzel unter den Besetzern
Natürlich waren auch IM darunter. Von einem Beispiel erfuhren wir später aus den Stasi-Akten. So stellte sich Herbert G., der stets mit Aktentasche und Anzugjacke als Vermittler zwischen der Offenen Arbeit für kirchliche Jugendarbeit und der staatlichen Stellen agierte und den wir immer an "unserer" Seite geglaubt hatten, als IMB "Schubert" heraus. Er arbeitete halbtags in einer Apotheke und den anderen halben Tag für die Stasi, sie zahlte ihm 600 Ostmark monatlich. Am 4.12.1989 hatte er ab 8 Uhr Dienst in der Apotheke und wurde dort gegen10 offenbar aus dem MfS angerufen. Sinngemäß wurde ihm mitgeteilt: "Kümmere dich, da passiert irgendwas, wir gehen davon aus, das sie jetzt in die Stasi hineinwollen." Zeugen des Geschehens berichteten später, dass er eilig losgelaufen sei, sich durch die Menschentraube am Haupteingang der MfS-Zentrale drängte und durch das Portal. Dahinter befand sich eine Glaswand mit einem Loch zur Kommunikation mit der Wache, dort wurde verhandelt und telefoniert bis entscheiden wurde: die ersten zehn Leute können rein. Und da sei er dabei gewesen. Zu diesem Zeitpunkt entstand auch ein Foto mit ihm, das am nächsten Tag in der Lokalzeitung "Das Volk" erschien, beschrieben als "kritisches Auge der Bürgerbewegung"... Sein Führungsoffizier sagte ihm später, dass sie vergessen hatten, seine Akten zu vernichten. Darum konnte die Bezirkszeitung "Thüringer Allgemeine" (zuvor "Das Volk") auch später das an jenem Tag von ihm gemachte Bild mit seinem Klar- und IM-Namen veröffentlichen.
Leere Räume, keine Schlüssel und zerhäckseltes Papier
Als ich in die Andreasstraße kam, suchte ich Tely und Kerstin und erklärte Stasi-Mitarbeitern, dass ich meine Stasiakten sehen möchte. Auch die Staatsanwälte Helmut Rudat und Richard Illgender und der Militärstaatsanwalt des Bezirksgrenzkommandos Weißmantel stießen hinzu. Ich lief mit einem von ihnen durch das Haus und versiegelte Räume. Doch die ersten Zimmer, die wir sahen waren leer, echt leer ohne jedes Papier. Andere Räume waren abgeschlossen, Schlüssel oder Lagepläne gab es angeblich nicht.
In weiteren Räumen lag der Boden voll mit zerhäckseltem Papier. Plötzlich entdeckten wir ein Zimmer voller Computer, die es ebenfalls nicht geben sollte, so hatten es Stasi-Mitarbeiter zuvor beteuert. Doch nun lag eine riesige Computerschaltfläche vor uns und die anwesenden Mitarbeiter behaupteten, dass sie diese nicht anschalten oder bedienen könnten. Nur einmal in der Woche sei die Anlage auf unbekannte Weise in Betrieb. Auch die Existenz eines Ofens, in dem Akten verbrannt werden könnten, stritten sie ab: "Wir haben keine Öfen, wir haben doch Zentralheizung." Doch es dauerte nicht lange, dann stießen Besetzer im Heizungskeller auf einen größeren Verbrennungsofen. In Kellerräumen lagerten weitere Papiersäcke voller Schriftstücke, Briefe, und Postkarten, die offenbar zur Vernichtung vorgesehen waren. Der Erfurter Buchhändler Peterknecht stieß hier aus Zufall auf seine, nur noch leere, Stasi-Akte.
"Wir können die Mädels da nicht alleine stehen lassen."
Mit dem Fortschreiten der Zeit drangen immer mehr Bürger aus allen Schichten und Arbeitskreisen in das Gebäude. Hier landete auch Marina Schmidt, die in der Mikroelektronik, vormals VEB Funkwerk, arbeitete. Der Betrieb lag oberhalb der Stasi-Bezirksleitung. Es ging gegen 12 Uhr los, da kam die Spätschicht hoch und berichtete: "Da unten am Gericht, da tut sich was." Kurz darauf sagte eine Männerstimme laut im Betriebsfunk, dass die Stasi von Frauen besetzt worden sei. Wer die Möglichkeit habe, dahin zu gehen, der solle sich dran beteiligen. Ihr Mann holte sie gegen 14.30 Uhr ab und meinte gleich: "Da müssen wir hin, wir können die Mädels da nicht alleine stehen lassen." Später stand Martina mit ihrem Mann am Vordereingang und sah, wie die von draußen drängelnden Bürger die von drinnen nach außen kommenden Stasimitarbeiter wieder zurückdrängten, die sich daraufhin in ihren Büros einschlossen. Wer von ihnen das Haus verlassen wollte, wurde am Ausgang kontrolliert, damit keine Akten mehr verschwinden konnten.
Gründung von Bürgerwache und Bürgerkomitee
In einem großen Versammlungsraum standen sich Angestellte der Stasi und Bürger gegenüber und verhandelten. Unter ihnen befand sich Ulrich Scheidt, der gleich am frühen Morgen, nachdem ihn Sabine Fabian im Naturkundemuseum angerufen hatte, zur Andreasstraße gekommen und um 11 mit Tely und Kerstin durch den Hintereingang eingedrungen war. Er rief am späten Nachmittag zur Gründung einer Bürgerwache auf, die von diesem Tag an in dem Haus bleiben sollte um die versiegelten Räume und die später in den leeren U-Haftzellen gelagerten Aktensäcke zu bewachen. Diese Bürgerwache existierte noch Wochen und Monate. Es gab ein Anwesenheitsbuch, in dem sich Freiwillige für Stunden anmelden und einschreiben konnten. Zur Bewachung des U-Haft-Trakts meldeten sich viele ehemalige Gefangene, die oft aus weiter Entfernung anreisten, um hier an der Stelle ihres erfahrenen Leids, Stunden zu verbringen. Sie wollten Augenzeuge sein, dass die Macht der Stasi wirklich vorüber war. Unter dem Leiter des Neuen Forums, Matthias Büchner, wurde im Stasigebäude die Gründung eines "Bürgerkomitees" beschlossen, das noch Monate im Rathaus tagte und den Auflösungsprozess der Stasi begleitet hat.
Bei der schwangeren Tely machte sich am späten Nachmittag ihr ungeborenes Kind bemerkbar, sie ging, um Komplikationen zu vermeiden nach Hause. Auch Kerstin Schön musste aufbrechen, um die Kinder vom Schulhort abholen, ebenso Almuth Falcke. Sie wollte ihrem Mann wie immer das Abendbrot zubereiten.
Claudia Bogenhardt blieb bis zum Abend in der Kreisdienststelle in der Straße der Einheit in Erfurt und wartete dort auf Ablösung. Gegen 19 Uhr saß sie im Speiseraum des Stasiobjektes mit etwa 50 Stasimitarbeitern und deren Chef namens Schneeberg, dazu stießen Akteure aus der Bürgerbewegung. Alles Männer, von denen einer plötzlich Herrn Schneeberg fragte, ob er an der Ostfront gewesen wäre. "Und dann unterhielten die sich über die Ostfront. Es war so unwirklich. Die ganze Zeit gehörten wir zusammen und machen alles zusammen und plötzlich verbündet sich der, der gerade noch an meiner Seite ist mit dem, der die Gegenseite verkörpert."
Als sie nach Hause ging, löste sie ihren Mann bei den Kindern ab, der in seinen Fotoklub wollte und ärgerlich war, dass sie zu spät kam. "Ich habe dann meine Kinder wie jeden Abend ins Bett gebracht und eine Geschichte vorgelesen.... Dabei hatten wir gerade selber Geschichte gemacht."
Spontantat mit Folgen - eine Bilanz
Die Macht der Frauen an diesem Tag sollte vielfältige Folgewirkungen haben. In Erfurt wurden nicht nur das Bezirksgebäude, die Kreisdienststelle und eine Stasi-Villa in der Essbachstraße besetzt. Es flogen gleich am ersten Tag nach der Besetzung über 37 konspirative Wohnungen auf . Mittlerweile sind sogar rund 500 allein in Erfurt bekannt. Immer neue Gruppen von Bürgern setzten sich in Bewegung um neue Plätze zu sichten und dort noch vorhandenen Stasi-Unterlagen sicherzustellen.
Ein umfassender Teil der in der DDR angefertigten Geheimakten konnte durch das von Erfurt ausgehende Signal vor der angeordneten Vernichtung gerettet werden. Belege für solche Befehle fanden sich später in den Stasi-Akten. Beispielsweise hatte am 23. November 1989 ein MfS-Oberst Schneidereit aus dem "Amt für Nationale Sicherheit", in das die Stasi im Herbst 1989 umbenannt worden war, für die Abteilung Kader und Schulung der Erfurter Stasi, eine "Festlegung zur Vernichtung von Unterlagen und Materialien der Aus- und Weiterbildung im MFS" formuliert. Sie sollte bis zum 15. Dezember 1989 abgeschlossen werden. Diese Anordnung war nun nicht mehr umsetzbar. DDR-weit folgten weitere Bürger dem Erfurter Beispiel, bis zum Abend des 4. Dezembers wurden zum Beispiel in Leipzig, Rostock, Gotha und Interner Link: Suhl Stasizentralen besetzt.
Das Geschehen in Erfurt hatte an diesem Tag mehrere Stränge. Ein wichtiger Impuls ging von engagierten Frauen aus - sie haben viele zur Stasibesetzung in Erfurt motiviert. Den ursprünglichen Plan hatten die Bürgerrechtlerinnen Kerstin Schön und Sabine Fabian, die auf eine Vielzahl spontaner Unterstützerinnen und Unterstützern trafen. Jegliche Angst vor der Stasi hatten alle abgelegt. Sie einte das Bewusstsein: wenn Bürger dem totalitären System der SED Einhalt gebieten wollten, dann mussten sie auch ins Zentrum vorstoßen. Und das war die Staatssicherheit als elementares Machtinstrument in diesem Staat, das sogar parallel zur Grenzöffnung am 9. November 1989 heimlich weiterarbeitete - so, als habe es weder Maueröffnung noch Reformen gegeben. Dieses Machtzentrum einzunehmen und zu sagen: "Diesen Staat steuert nicht mehr ihr, sondern wir!" - das war der Punkt.
Der 4. Dezember 1989 in Erfurt lief zwar so ab, dass niemand zu keiner Sekunde vorhersagen konnte, was in der nächsten Minute passiert. Doch ein Steinchen baute sich auf dem nächsten auf. Ausgangspunkt war der spontane Plan von Kerstin, der war klar. Und dann handelten wir mit unglaublicher Entschlossenheit und Intuition. Wir handelten auch in dem Wissen, dass wir nur diese eine Chance besaßen, just in diesem historischen Moment. "Die Entscheidung mitzugehen, traf ich binnen einer Minute", erinnert sich Claudia Bogenhardt. Gründe für so intensives Engagement habe es schon länger gegeben, doch die Aussicht darauf, die Stasi zu entmachten, gab ihr den letzten Schub: "Weil meine eigentliche Triebkraft war, mein Land, meine Heimat will ich so ändern, dass sich alle darin wohlfühlen und nicht gegenseitig totschießen oder Angst haben müssen. Ich wollte ein gründlicheres, liebenswerteres, würdigeres Leben. Das ist für mich Politik, denn polis bedeutet für mich eigentlich: die Sorge um...".
Gabriele Stötzer lebt als Künstlerin und Schriftstellerin in Erfurt, gibt Performanceunterricht an der Uni Erfurt, und arbeitet als Zeitzeugin. Sie erhielt 1994 ihre Stasisakten als Gabriele Stötzer, ehem. Kachold und entdeckte dabei, dass sie seit ihrer politischen Exmatrikulation 1976 bis zum Ende der DDR 1989 im Visier der Stasi war. Vier Vorgänge legte das MfS über sie an:
Untersuchung o.F., wegen § 220 StGB (ohne Festnahme aber Exmatrikulation 1976) 29.12.1976, archiviert 1978 (BStU-Erfurt, Archiv-Nr. 11.444/78)
Operatives Verfahren "Kapitän" wegen § 220 (1 Jahr Strafvollzug wegen Staatsverleumdung 06.01.1977- 05.01.1978) vom 25.11.1976- 08.11.1977 (BStU-Erfurt, Archiv-Nr. 1299/77)
Operatives Verfahren "Toxin" wegen § 106 StGB (staatsfeindliche Hetze) angelegt am 3.07.1979 beendet am 14.10.1986 (BstU-Erfurt, AOP 1753/86, Bd. 1-4)
OPK "Medium", angelegt am 16.04.1989 (bis Ende der DDR), vernichtet.
2013 erhielt sie das Bundesverdienstkreuz u.a. für die Stasibesetzung. Ihr jüngstes Prosa-Buch erschien 2017 unter dem Titel "Das Brennen der Worte im Mund".
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