Angefangen hat alles an einem Augustabend 1990 in der Senefelder Straße, Berlin Prenzlauer Berg. Zu Besuch bei Christian Halbrock - er ist heute Historiker in der Stasi-Unterlagen-Behörde - redeten wir an seinem Küchentisch, wie wir es in den Jahren zuvor schon öfter getan hatten, über Dinge, die uns bewegten. Meistens waren dies mehr oder weniger politische Fragen, die sich in diesen letzten Wochen der DDR reichlich stellten. Auch zum Thema Stasi. Besonders war bloß, dass es die Stasi (zumindest offiziell) zum Zeitpunkt unseres Gesprächs schon einige Zeit nicht mehr gab. Und mindestens genauso phantastisch war der Umstand, dass ich selbst seit Februar 1990 meinen Arbeitsplatz in der Stasi-Zentrale hatte. Dort war ich als ein Mitglied des Bürgerkomitees aus dem Januar 1990 in der sogenannten »Operativen Gruppe« zunächst für die AG Sicherheit des Zentralen Runden Tisches und später für das Staatliche Komitee zur Auflösung des MfS/AfNS tätig. Insofern unterschieden sich die Rahmenbedingungen für unsere Diskussion zum Thema Staatssicherheit deutlicher von denen der Jahre zuvor.
Zurück zum Küchentisch. Angelangt beim Thema Stasi-Akten, waren wir uns einig, dass das Verfahren, was zu diesem Zeitpunkt für den künftigen Umgang mit den Geheimpolizei-Unterlagen nach der deutschen Wiedervereinigung am 3. Oktober geplant war, bei uns keine Begeisterung aufkommen ließ. Geplant war die Akten-Einlagerung im Bundesarchiv, Sperrfristen (und damit aus unserer Sicht ein Informationsmonopol ausgesuchter Macht- und Geheimdienstkreise) und keine gezielte Aufarbeitung (dadurch befürchteten wir ein mögliches Weiterwirken von Stasi-Spitzeln) usw.. Dieses Resümee stellte in der damaligen Zeit nichts Besonderes dar, zumindest nicht bei Leuten mit einer ähnlichen Provenienz wie der unsrigen. Das Bemerkenswerte war, und das macht diesen Abend in gewisser Weise bedeutsam, dass wir verabredeten, eine Protestaktion in Form der Besetzung des Stasi-Archivs in der Ruschestraße zu organisieren.
Die Planung der Besetzung
Ohne dass wir damals wissen konnten, wie erfolgreich eine solche Aktion letztendlich sein würde – in der NOCHDDR, die in den letzten Monaten ihres Bestehens von Demonstrationen, Streiks, Mahnwachen u.ä. in allen nur erdenklichen Formen gebeutelt wurde –, ahnten wir doch, dass diese einen Nerv der Zeit treffen könnte. Der Rest der Geschichte ist ja weitaus bekannter als diese kleine Begegnung zwischen Christian Halbrock und mir. Christian kontaktierte in den folgenden Tagen ihm vertrauenswürdige Leute aus dem Umfeld der Umweltbibliothek in der evangelischen Zionsgemeinde. Ich unterbreitete die Idee der "Operativen Gruppe", deren Chef damals der Bürgerrechtler Reinhard Schult war. Es war nicht nötig, irgendwelche Überzeugungsarbeit zu leisten, alle Leute, die in dieser allerersten Phase eingeweiht wurden, waren von der Idee angetan. Zumal der geplante bzw. ungeplante, zukünftige Umgang mit den Stasiakten sowieso überall heiß diskutiert wurde. Das Volkskammergesetz hierfür war gerade geboren und – dank Staatssekretär Günther Krause, der die Einheitsvertragsverhandlungen der DDR mit der Bundesrepublik leitete – eigentlich schon wieder politisch tot.
Bestandteil der Verabredung mit Christian Halbrock war, möglichst viele Prominente an der Aktion zu beteiligen, um Medieninteresse sicherzustellen. Reinhard Schult hatte damals die besten Kontakte zu Bärbel Bohley und Katja Havemann. Er lud sie zu einem Treffen in das damalige "Haus der Demokratie" der Bürgerbewegungen ein; Ingrid Köppe besuchte uns in den Büros der Operativen Gruppe und informierte sich über die Planung. Almut wurde beauftragt, gemeinsam mit Hans Schwenke, die Räumlichkeiten des Stasi-Archivs zu erkunden, denn sie waren dort leseberechtigt und hatten dadurch offiziellen Zugang zu einem Teil der Räume in den Häusern 7 und 8/9. Das einzige und endgültige Koordinierungstreffen fand dann im Haus der Demokratie in der Friedrichstraße statt. Daran hat neben den Akteuren der Operativen Gruppe auch Bärbel Bohley teilgenommen. Almut Seidel und Hans Schwenke informierten über die räumlichen Gegebenheiten in der Ruschestraße. Möglicherweise kam später noch Jürgen Fuchs hinzu. Katja Havemann erfuhr erst am Tag der Besetzung von unserem Vorhaben. Konkret wurde beschlossen, am 4. September über eine Zwischentür vom Haus 7 in das Archivgebäude, Haus 8/9, einzudringen und sich dort in einem der Archivräume festzusetzen. Dieses Zusammentreffen fand am Montag, den 3. September statt, also einen Tag vor der Besetzung. Einigen der später Beteiligten wurde der Termin erst am Vorabend mitgeteilt. So erinnert sich Tom Sello, dass die Leute von der Umweltbibliothek erst am Abend durch Christian Halbrock informiert wurden.
Die Besetzung
Am Dienstagvormittag des 4. September trafen sich alle Beteiligten in kleinen Gruppen vor den verschiedenen Eingängen zur Stasi-Zentrale – ich zum Beispiel an der Ecke Ruschestraße/Hoenerweg gegenüber dem Haupteingang. Von dort ging es dann »unauffällig« zum Eingang von Haus 7, dem ehemaligen Sitz der HA XX. Zwischenzeitlich waren dort Benutzerräume der staatlichen Archivverwaltung untergebracht worden. Henry Leide ging voran und hielt mit seiner Körpermasse und einem Holzkeil für die nachströmenden angehenden Stasi-Besetzer die Tür offen. Die verdutzten Wachleute machten keine ernsthaften Versuche uns an unserem Tun zu hindern. Drinnen angelangt begannen unsere Probleme erst richtig: die Verbindungstür zum Archivgebäude war verschlossen. Es entstand ein ziemliches Durcheinander, einige versuchten nun selbständig andere Wege ins Archiv zu finden. Bärbel Bohley war sauer, dass sie nicht wirklich im Stasi-Archiv gelandet war, sondern nur in belanglosen Büroräumen.
Die ganze Sache stand ziemlich auf der Kippe. Stimmen kamen auf, die Sache unter diesen Umständen abzubrechen. Die Lösung kam in Form der anrückenden Staatsgewalt, welche sich auf dem Hof und im Eingangsbereich des Hauses zu formieren begann. Mehr dem natürlichen Fluchtinstinkt als einem genauen Plan folgend, flüchteten sich nun doch alle Eindringlinge in einige Büroräume der 3. Etage des Hauses 7. Hier stellte sich heraus, dass einige Leute verloren gegangen waren, die zunächst mit ins Haus gelangt waren. So fehlte zum Beispiel Tom Sello von der Umweltbibliothek. Mehrere Türen wurden verrammelt und die dazwischen liegenden Räume mit allerlei Gerümpel gefüllt. Kaum war die letzte Tür verschlossen, begann sich auch schon eine Einheit der Volkspolizei (VP) mit Brechstangen und Äxten zu uns vorzuarbeiten. Erst kurz vor dem Fall der letzten »Barrikade« hörten diese Aktivitäten plötzlich auf und es trat eine seltsame Stille ein, die durch ein schwächliches Anklopfen beendet wurde. Es war eine piepsige Frauenstimme zu vernehmen. Sabine Bergmann-Pohl, die amtierende Volkskammerpräsidentin der NOCHDDR gab sich die Ehre.
Was in Wochen darauf folgte, ist bekannt. Der SPIEGEL schrieb schon eine Woche nach Beginn der Besetzung: »Wohl nie zuvor in der Geschichte brachte das Establishment eines Landes einer Truppe linker Hausbesetzer so viel Respekt entgegen...« Tatsächlich gaben sich Prominenten die Klinke die Hand, gab es schriftliche und mündliche Solidaritätsbekundungen buchstäblich aus der ganzen Welt. Zum ebenso wichtigen Faktor für die Übermittlung der Ereignisse in die Öffentlichkeit wurde eine Mahnwache, die sich spontan am Haupteingang der Ruschestraße formierte und in den folgenden drei Wochen durch die kontinuierliche Organisation von öffentlichkeits- bzw. medienwirksamen Aktivitäten zum Erfolg der ganzen Aktion beitrug.
Natürlich folgte auch eine Anzeige gegen die Besetzer (von Günther Eichhorn, dem damaligen Leiter des Staatlichen Komitees zur Auflösung des MfS/AfNS – er wurde sechs Jahre später als IM enttarnt). Wir starteten unseren Hungerstreik, der Kreis der Besetzer erweiterte sich durch die Volkskammerabgeordneten Christine Grabe und Angelika Barbe sowie, last but not least, Wolf Biermann (»’Zu Haus’ in Hamburg hatte ich von diesem Coup gehört. Ja, und ich wollte dabei sein, schon aus sentimentalen Gründen...«). Eine Abordnung der Besetzer störte die Volkskammersitzung am 20. September, es gab Kopierer von der DSU, Innenminister Diestels Ex-Stasi-Sondereinheiten wurden zu unserer Bewachung abgestellt (denen wir, ohne es zu ahnen, für die Zukunft einen sicheren Job verpassten) und viele andere kleine und größere Geschichten ergaben sich, die vielleicht später einmal erzählt werden. Als wir am 28. September 1990 die Besetzung beendeten (die Mahnwache blieb noch länger), war der Einigungsvertrag vom 31. August um den folgenden Anhang erweitert worden:
Art 1, 6 und 7 der Zusatzvereinbarung zum Einigungsvertag – siehe u.a.: Klaus Stoltenberg, Stasi-Unterlagengesetz: Kommentar, Baden-Baden 1992, S. 485
Vereinbarung zwischen der Bundesrepublik Deutschland und der Deutschen Demokratischen Republik zur Durchführung und Auslegung des am 31. August 1990 in Berlin unterzeichneten Vertrages zwischen der Bundesrepublik Deutschland und der Deutschen Demokratischen Republik über die Herstellung der Einheit Deutschlands – Einigungsvertrag – Die Bundesrepublik Deutschland und die Deutsche Demokratische Republik –
in dem Bestreben, die Durchführung und Auslegung des am 31. August 1990 in Berlin unterzeichneten Vertrages zwischen der Bundesrepublik Deutschland und der Deutschen Demokratischen Republik über die Herstellung der Einheit Deutschlands – Einigungsvertrag – sicherzustellen, in Ausfüllung des Artikels 9 Abs. 3 des Einigungsvertrags – sind übereingekommen, eine Vereinbarung mit den nachfolgenden Bestimmungen zu schließen:
Artikel 1 Zu der Frage der weiteren Vorgehensweise hinsichtlich der vom ehemaligen Staatssicherheitsdienst der Deutschen Demokratischen Republik gewonnenen personenbezogenen Informationen stellen die Regierungen der beiden Vertragsparteien übereinstimmend fest:
Sie erwarten, daß der gesamtdeutsche Gesetzgeber die Grundsätze, wie sie in dem von der Volkskammer am 24. August 1990 verabschiedeten Gesetz über die Sicherung und Nutzung der personenbezogenen Daten des ehemaligen Ministeriums für Staatssicherheit/ Amtes für Nationale Sicherheit zum Ausdruck kommen,umfassend berücksichtigt.
Sie erwarten, daß der gesamtdeutsche Gesetzgeber die Voraussetzungen dafür schafft, daß die politische, historische und juristische Aufarbeitung der Tätigkeit des ehemaligen Ministeriums für Staatssicherheit/Amtes für Nationale Sicherheit gewährleistet bleibt.
Sie gehen davon aus, daß ein angemessener Ausgleich zwischen - der politischen, historischen und juristischen Aufarbeitung, - der Sicherung der individuellen Rechte der Betroffenen und - dem gebotenen Schutz des einzelnen vor unbefugter Verwendung seiner persönlichen Daten geschaffen wird.
Sie gehen davon aus, daß von den in Artikel 1 des Einigungsvertrags genannten Ländern bestellte Beauftragte den Sonderbeauftragten bei der Erfüllung seiner gesetzlichen Aufgaben beraten und unterstützen, damit die Interessen der Bürger der neuen Bundesländer in besonderer Weise Berücksichtigung finden.
Sie stellen Einvernehmen darüber fest, daß bei zentraler Verwaltung die sichere Verwahrung, Archivierung und Nutzung der Unterlagen zentral und regional erfolgen kann. In wichtigen Angelegenheiten der sicheren Verwaltung, Archivierung und Nutzung der Unterlagen soll sich der Sonderbeauftragte mit dem Beauftragten des jeweiligen Landes ins Benehmen setzen.
Sie gehen davon aus, daß sobald wie möglich den Betroffenen ein Auskunftsrecht – unter Wahrung der schutzwürdigen Interessen Dritter – eingeräumt wird.
Sie gehen davon aus, daß der Sonderbeauftragte unverzüglich eine Benutzerordnung erläßt, die die gesetzlichen Vorgaben ausfüllt. Mit dieser Benutzerordnung werden zugleich Inhalt, Art und Umfang der Beratung und Unterstützung durch die Landesbeauftragten näher bestimmt.
Sie gehen davon aus, daß bis auf die unumgängliche Mitwirkung bei der Aufklärung und Verfolgung von Straftaten entsprechend Paragraph 2 Abs. 1 Nr. 4 der Maßgabe b) zum Bundesarchivgesetz die Nutzung oder Übermittlung von Daten für nachrichtendienstliche Zwecke ausgeschlossen wird. Der Bundesminister des Innern wird das Bundesamt für Verfassungschutz anweisen, bis zum Erlaß der in Nummer 7 genannten Benutzerordnung keine diesbezüglichen Anfragen an den Sonderbeauftragten zu richten. Die verwendeten Informationen aus den Akten sind so zu kennzeichnen, daß Art, Umfang und Herkunft der übermittelten Daten kontrollierbar und eine abschließende gesetzgeberische Entscheidung über den Verbleib der Daten möglich bleibt.
Die Regierungen der beiden Vertragsparteien gegen davon aus, daß die Gesetzgebungsarbeit zur endgültigen Regelung dieser Materie unverzüglich nach dem 3. Oktober 1990 aufgenommen wird. Dabei soll das Volkskammergesetz in Verbindung mit dem Einigungsvertrag als Grundlage dienen. [...] Artikel 6 Bei Zweifeln oder Unstimmigkeiten über den Inhalt des Vertrages oder seiner Anlagen ist diese Vereinbarung maßgebend.
Artikel 7 Diese Vereinbarung tritt gleichzeitig mit dem am 31. August 1990 unterzeichneten Vertrag in Kraft. [...]
Bonn, den 18. September 1990 Für die Bundesrepublik Deutschland Dr. Wolfgang Schäuble Für die Deutsche Demokratische Republik Dr. Günther Krause
Wir gingen mit durchaus gemischten Gefühlen. Das Hauptproblem für uns war das Misstrauen darüber, ob diese Punkte vom zukünftigen deutschen Parlament auch wirklich in Gesetzesform gebracht werden würden. Formulierungen wie »Sie erwarten, dass« oder »Sie gehen davon aus, dass« empfanden wir als unzureichend. Zusätzlich gingen uns die formulierten Punkte nicht weit genug. Unsere Forderungen, zum Akteneinsichtsrecht und vor allem das Verwendungsverbot für Geheimdienste betreffend, fanden sich unseres Erachtens nur unzureichend in diesem Anhang zum Einigungsvertrag. Nicht durchsetzen konnten wir unsere Forderung nach der Entlassung von Peter-Michael Diestel und den ehemaligen Stasi-Leuten im Archiv.
Noch im Oktober 1990 war ich einer von fünf ehemaligen Archivbesetzern die sich beim Aufbaustab des BMI für eine Mitarbeit beim zukünftigen Sonderbeauftragten der Bundesregierung bewarben. Am 18. Januar 1991 erhielten wir alle eine Absage. Erst nach vielfältigen Interventionen fand man sich im August 1991 bereit, den fünf Kandidaten einen auf ein Jahr befristeten Arbeitsvertrag anzubieten. Zur selben Zeit wurden von diesem Aufbaustab hunderte Verträge ohne bzw. mit deutlich längeren Befristungszeiten abgeschlossen. Eines war klar, bei der Auswahl der Mitarbeiter der neuen Behörde wurde lieber auf DDR-Verwaltungserfahrung gesetzt, als auf die politische Motivation von Überzeugungstätern. So entstand die paradoxe Situation, dass eine jahrelange SED-Mitgliedschaft oder sonstige Systemnähe einer Einstellung in die neue Behörde weniger hinderlich war als das aktive Engagement für das Entstehen derselben. Ich war letztlich der Einzige, der unter diesen Bedingungen das Angebot annahm und den Arbeitsvertrag unterschrieb. Die Befristung meines Vertrags wurde später verlängert und dann ganz aufgehoben.
16 Jahre später
Es ist nun schon 16 Jahre her, als ich diesen Artikel über die Besetzung und unseren Hungerstreik 1990 für die Aufarbeitungs-Zeitschrift „Horch und Guck“ schrieb. Eigentlich wollte ich ihn für die Publikation an dieser Stelle noch einmal überarbeiten vor allem was die Chronologie der Ereignisse rund um die Auseinandersetzung über die Stasi-Unterlagen im Rahmen der Verhandlungen zum Einigungsvertrag angeht. Ich verzichte aber darauf und belasse es bei meiner subjektiven Darstellung. Ergänzen möchte ich den Text dafür mit einem kurzen persönlichen Resümee, das meine Zeit in der Behörde des Sonder-, später Bundesbeauftragten für die Stasi-Unterlagen aber vor allem 25 Jahre Aktenöffnung insgesamt reflektiert - ohne Anspruch auf eine umfassende Berücksichtigung aller Aspekte dieser Geschichte. Also meine ganz persönliche Sicht, keine empirische belegte Studie. Auch von heute aus betrachtet war unsere Besetzung sicherlich ein nicht ganz unwichtiges Mosaiksteinchen für den dann bald folgenden relativ freien Zugang zu den Stasi-Unterlagen. Ob der Umgang mit den Unterlagen ohne unsere Aktion und den ertrotzten Anhang zum Einigungsvertrag ein anderer geworden wäre, ist Spekulation. Wahrscheinlich wäre es letztlich auch so zu einer Aktenöffnung gekommen. Ob sie auch so weitreichend geworden wäre? Der größte Wert unserer damaligen Aktion lag in der sehr starken öffentlichen Resonanz, die Besetzung, Hungerstreik und Mahnwachen ausgelöst haben. Diese breite Wirkung hat deutlich gezeigt, dass der Umgang mit den Stasi-Unterlagen nicht einfach einer Art Staatsräson untergeordnet werden kann. So aber wollten es ganz offensichtlich nicht wenige politische Akteure vor allem im Westen und so hofften es wohl viele Stasiverstrickte im Osten insgeheim.
Mein Einstieg als Mitarbeiter des Sonderbeauftragten in die staatliche „Stasi-Aufarbeitung“ war mit Hindernissen verbunden: Obwohl ich nicht in die offenen und geheimen Machtstrukturen der DDR verstrickt war und mich bereits 1990 bei der Stasi-Auflösung in der sogenannten „Operativen Gruppe“ der Arbeitsgruppe Sicherheit des Zentralen Runden Tischs engagiert hatte, wollte man mich in der neuen Behörde nicht haben. Das wird nicht zuletzt daran gelegen haben, dass gerade die heute sogenannte „zweite Besetzung“ beim späteren Bundesbeauftragten auf wenig Gegenliebe gestoßen ist. Mahnwachen, Besetzungen, Demonstrationen – Joachim Gauck mochte diese Art der politischen Auseinandersetzung und wohl auch ihre Akteure nicht. So gesehen war meine Entscheidung für die Behörde mit einer Enttäuschung verbunden. Meine Erfahrung in der Zeit der Stasi-Auflösung und meine Motivation die ich mitbrachte reichten - zunächst – nur für einfaches Aufräumen, Sortieren und einen befristeten Arbeitsvertrag.
Nachdenklich stimmte mich bald die Erfahrung, dass sich die Behörde so anfühlte wie ich mir ein DDR-Ministerium vorstellte. Unzählige neue Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter kamen aus der Ministerialbürokratie des gerade untergegangenen „Arbeiter- und Bauernstaates“ zu der ja auch das DDR-Archivwesen gehörte. Zurück bis in die sogenannten „Bewaffneten Organe“, wie Polizei, NVA und Zoll reichten die Biografien der neuen Mitarbeiter, von denen einige bald leitende Funktionen einnahmen. Die Weiterbeschäftigung und Übernahme einiger Dutzend hauptamtlicher Stasi-Mitarbeiter trug ein Übriges dazu bei, dass noch lange Zeit nicht nur Akten und Gemäuer den Duft der DDR in der neuen Behörde verströmten.
Insofern fühlte ich mich mit meiner so behörden- und staatsfernen Biografie auch oft fremd in den langen Fluren der neuen Behörde. Der in meinen Augen damals skandalöse Wechsel des Direktors der Behörde Hans-Jörg Geiger 1995 zunächst in das Amt des Präsidenten des Bundesamtes für Verfassungsschutz und ein Jahr später als Chef des Bundesnachrichtendienstes, zeigte für mich deutlich wie man die Behörde des Bundesbeauftragten für die Stasi-Unterlagen damals im Umfeld des BMI und des Bundeskanzleramts einordnete - offensichtlich empfand man es dort als eine gute Idee, das profunde „Fachwissen“ in Sachen ungebremster Spitzelei und Massenüberwachung, welches sich Hans-Jörg Geiger in den Jahren des Umgangs mit den Stasi-Akten aneignen konnte, direkt in die Optimierung der beiden größten bundesdeutschen Geheimdienste einfließen zu lassen. Aus meiner Sicht ein Trauerspiel!
Anfang 2005 endete die Zugehörigkeit der Behörde des Bundesbeauftragten für die Stasi-Unterlagen zum Geschäftsbereich des BMI. Der Wechsel in den neuen Geschäftsbereich des Beauftragten für Kultur und Medien wurde von Bürgerrechtlern kritisiert. Manche befürchteten eine Abwertung und Mineralisierung des Stasi-Themas. Für mich war dieser Wechsel aber ein kleiner Befreiungsschlag, versprach ich mir davon doch einen frischen Wind, endlich weg aus dem Dunstkreis von Polizei und Geheimdiensten. Die positiven Folgen für die Behörde waren leider weniger deutlich zu spüren, als ich es mir gewünscht hätte. Inzwischen war die Arbeit mit der archivalischen Überlieferung dieses Teils der jüngsten Deutschen Geschichte für mich schon zu einem Lebensthema geworden. Mein Blick auf die Probleme und Widersprüche der eigenen Behörde entspannte sich langsam, wenn er auch nicht sorgenfrei wurde. Es liegt in der Natur des Menschen, dass er immer im Unbekannten, Geheimen nach neuen Erkenntnissen oder „der Wahrheit" sucht. So war es auch bei mir. Als ich damals begann, mich an der Stasi-Auflösung zu beteiligen, war ich vor allem neugierig. Wie oft kam es in den vorangegangenen Jahren bei Gesprächen mit Freunden und Verwandten auf das Thema „Stasi“, wie oft hatte ich den riesigen Ministeriums-Komplex in Lichtenberg ungläubig umrundet, sogar mit Freunden aus dem Westen. Wie oft haben wir darüber spekuliert, wie viele unterirdische Etagen es in der Stasi-Burg wohl gibt, wer sich vielleicht aus unserem Umfeld bei den heimlichen Genossen ein Zubrot verdient, wo sie ihre Kameras und Mikrofone versteckt haben, woran man ihre Autos erkennt, wie oft sie deren Nummern wechseln, wie man wirkliche oder vermeintliche Observanten am besten abschüttelt, ob sie das letzte Wort bei jeder beruflichen Bewerbung haben, ob sie mich holen, weil ich den „Wehrdienst“ total verweigert habe, welche Techniken sie haben um mir die Schliche zu kommen, wenn ich politische Parolen sprühte, ob sie die Nummern von illegal besorgter Vervielfältigungstechnik registriert haben, ob sie wissen, wenn ich mich mit meiner Schwester aus dem Westen in Prag oder Budapest treffe, ob sie wissen, dass ich den Absender der Einladung nach Polen gar nicht kenne, ob sie immer alle Leitungen in den Westen abhören, jeden Brief öffnen...
Wen wundert es da noch, dass, obwohl es 1990 praktisch unendlich viele Möglichkeiten gab, sich politisch einzubringen oder auch sonst zu verwirklichen, mir das Thema Stasi „am spannendsten“ schien. Die Möglichkeit, hinter die Kulissen (Mauern, Türen und schwarzen Vorhänge usw.) des gerade noch Geheimen blicken zu können, elektrisierte mich. Die Anziehungskraft des, zuvor so oft durchdachten, Geheimen war für mich enorm. Und ich glaube, was heute gerne als „Stasi-Aufarbeitung“ bezeichnet wird, ist nicht selten einfach die Befriedigung des zutiefst menschlichen Impulses der Neugier. Schlicht Neugierde als ein Reiz Neues zu erfahren und insbesondere Verborgenes kennenzulernen, für die Einen zur Befriedigung einer Lust an Sensationen, für die Anderen ein Interesse an Wissenszuwachs - auch um zu begreifen, warum so viele sich wegduckten und das Machtsystem DDR scheinbar akzeptierten.
Ein System zwischen Kafka und Orwell
Die Sicht auf ein Vierteljahrhundert geöffneter Stasi-Akten hängt immer noch stark von der Perspektive des Betrachters ab. Auch wenn 25 Jahre Stasi-Forschung zu einer Objektivierung hätten führen sollen, ist doch zumindest bei denjenigen, die DDR und Stasi selbst „erlebten“, wenig davon zu spüren. Fast jeder hat sein Bild von dem, was war, geprägt vor allem davon auf „welcher Seite er stand“. Aber jeder kann heute wissen und auch in den Akten nachlesen: In der DDR etablierte sich im Laufe ihrer vierzigjährigen Geschichte ein Misstrauens-, Kontroll- und Überwachungssystem, dass sich zwischen Kafka und Orwell nicht entscheiden wollte.