Meine Merkliste Geteilte Merkliste PDF oder EPUB erstellen

Besetzung mit Folgen | Stasi | bpb.de

Stasi Definition & Geschichte Definition Geschichte Die Rolle Erich Mielkes Feindbild Funktionen KGB-Wurzeln Stasi = Gestapo? Einsatzfelder Alltag Betriebe Bezirke Bildung Entführungen Film Grenze Haft Kirche Kuba Kunst Literatur Mauertote Medien Medizin Neonazis Post Recht Spionage Sport Volkswirtschaft Volkswirtschaft 1989 Weihnachtsschmuck Westpolitiker Zwangsarbeit Stasi und Nordkorea Akteure Auftraggeber SED KGB-Verzahnung Jugendliche Spitzel IM-Bekenntnis Weitere Stasi-Helfer Sicht eines Stasi-Majors "Neinsager" Oppositionelle Gegenspionage Entmachtung Friedliche Revolution Für Angst blieb keine Zeit Entmachtung in den Regionen Macht der Bürgerkomitees Berlin: Erstürmung ohne Masterplan Zweifel an einem Bürgererfolg Durchbruch durch zweite Besetzung Fußball auf dem Stasi-Flur Aufarbeitung Psychofolgen bis heute Auslaufmodell Aufarbeitung? Einmal Stasi - immer Stasi? Das deutsche Ringen um die Akten Stasi in Syrien Stasi-Wirken in Polen Skandalisierung in Ungarn Nur temporäre Aufarbeitung des KGB Entzweite Freunde Auf Berias Spuren in Georgien Albanien: Deutschland als Musterland Lehren Lehren aus der Stasi-Überwachung Beispielhafte Abiturprojekte Erfurt: Grabe, wo Du stehst Berlin: Lernen am historischen Ort Schüler anregen, nicht belehren Erben der DDR-Bürgerbewegung? Videos Linktipps Redaktion

Besetzung mit Folgen

Stephan Konopatzky

/ 19 Minuten zu lesen

Eine zweite Besetzung der Stasi-Zentrale im September 1990 führte zum Durchbruch, der seit 1992 in Form des Stasi-Unterlagengesetzes Bestand hat. Einer der Besetzer von damals blickt als Augenzeuge zurück.

Genug gespitzel jetzt - Besetzer-Graffiti in einem der Korridore des Berliner Stasiarchivs 1990 (© Holger Kulick)

Angefangen hat alles an einem Augustabend 1990 in der Senefelder Straße, Berlin Prenzlauer Berg. Zu Besuch bei Christian Halbrock - er ist heute Historiker in der Stasi-Unterlagen-Behörde - redeten wir an seinem Küchentisch, wie wir es in den Jahren zuvor schon öfter getan hatten, über Dinge, die uns bewegten. Meistens waren dies mehr oder weniger politische Fragen, die sich in diesen letzten Wochen der DDR reichlich stellten. Auch zum Thema Stasi. Besonders war bloß, dass es die Stasi (zumindest offiziell) zum Zeitpunkt unseres Gesprächs schon einige Zeit nicht mehr gab. Und mindestens genauso phantastisch war der Umstand, dass ich selbst seit Februar 1990 meinen Arbeitsplatz in der Stasi-Zentrale hatte. Dort war ich als ein Mitglied des Bürgerkomitees aus dem Januar 1990 in der sogenannten »Operativen Gruppe« zunächst für die AG Sicherheit des Zentralen Runden Tisches und später für das Staatliche Komitee zur Auflösung des MfS/AfNS tätig. Insofern unterschieden sich die Rahmenbedingungen für unsere Diskussion zum Thema Staatssicherheit deutlicher von denen der Jahre zuvor.

Zurück zum Küchentisch. Angelangt beim Thema Stasi-Akten, waren wir uns einig, dass das Verfahren, was zu diesem Zeitpunkt für den künftigen Umgang mit den Geheimpolizei-Unterlagen nach der deutschen Wiedervereinigung am 3. Oktober geplant war, bei uns keine Begeisterung aufkommen ließ. Geplant war die Akten-Einlagerung im Bundesarchiv, Sperrfristen (und damit aus unserer Sicht ein Informationsmonopol ausgesuchter Macht- und Geheimdienstkreise) und keine gezielte Aufarbeitung (dadurch befürchteten wir ein mögliches Weiterwirken von Stasi-Spitzeln) usw.. Dieses Resümee stellte in der damaligen Zeit nichts Besonderes dar, zumindest nicht bei Leuten mit einer ähnlichen Provenienz wie der unsrigen. Das Bemerkenswerte war, und das macht diesen Abend in gewisser Weise bedeutsam, dass wir verabredeten, eine Protestaktion in Form der Besetzung des Stasi-Archivs in der Ruschestraße zu organisieren.

Die Planung der Besetzung

Ohne dass wir damals wissen konnten, wie erfolgreich eine solche Aktion letztendlich sein würde – in der NOCHDDR, die in den letzten Monaten ihres Bestehens von Demonstrationen, Streiks, Mahnwachen u.ä. in allen nur erdenklichen Formen gebeutelt wurde –, ahnten wir doch, dass diese einen Nerv der Zeit treffen könnte. Der Rest der Geschichte ist ja weitaus bekannter als diese kleine Begegnung zwischen Christian Halbrock und mir. Christian kontaktierte in den folgenden Tagen ihm vertrauenswürdige Leute aus dem Umfeld der Umweltbibliothek in der evangelischen Zionsgemeinde. Ich unterbreitete die Idee der "Operativen Gruppe", deren Chef damals der Bürgerrechtler Reinhard Schult war. Es war nicht nötig, irgendwelche Überzeugungsarbeit zu leisten, alle Leute, die in dieser allerersten Phase eingeweiht wurden, waren von der Idee angetan. Zumal der geplante bzw. ungeplante, zukünftige Umgang mit den Stasiakten sowieso überall heiß diskutiert wurde. Das Volkskammergesetz hierfür war gerade geboren und – dank Staatssekretär Günther Krause, der die Einheitsvertragsverhandlungen der DDR mit der Bundesrepublik leitete – eigentlich schon wieder politisch tot.

Bestandteil der Verabredung mit Christian Halbrock war, möglichst viele Prominente an der Aktion zu beteiligen, um Medieninteresse sicherzustellen. Reinhard Schult hatte damals die besten Kontakte zu Bärbel Bohley und Katja Havemann. Er lud sie zu einem Treffen in das damalige "Haus der Demokratie" der Bürgerbewegungen ein; Ingrid Köppe besuchte uns in den Büros der Operativen Gruppe und informierte sich über die Planung. Almut wurde beauftragt, gemeinsam mit Hans Schwenke, die Räumlichkeiten des Stasi-Archivs zu erkunden, denn sie waren dort leseberechtigt und hatten dadurch offiziellen Zugang zu einem Teil der Räume in den Häusern 7 und 8/9. Das einzige und endgültige Koordinierungstreffen fand dann im Haus der Demokratie in der Friedrichstraße statt. Daran hat neben den Akteuren der Operativen Gruppe auch Bärbel Bohley teilgenommen. Almut Seidel und Hans Schwenke informierten über die räumlichen Gegebenheiten in der Ruschestraße. Möglicherweise kam später noch Jürgen Fuchs hinzu. Katja Havemann erfuhr erst am Tag der Besetzung von unserem Vorhaben. Konkret wurde beschlossen, am 4. September über eine Zwischentür vom Haus 7 in das Archivgebäude, Haus 8/9, einzudringen und sich dort in einem der Archivräume festzusetzen. Dieses Zusammentreffen fand am Montag, den 3. September statt, also einen Tag vor der Besetzung. Einigen der später Beteiligten wurde der Termin erst am Vorabend mitgeteilt. So erinnert sich Tom Sello, dass die Leute von der Umweltbibliothek erst am Abend durch Christian Halbrock informiert wurden.

Die Besetzung

Am Dienstagvormittag des 4. September trafen sich alle Beteiligten in kleinen Gruppen vor den verschiedenen Eingängen zur Stasi-Zentrale – ich zum Beispiel an der Ecke Ruschestraße/Hoenerweg gegenüber dem Haupteingang. Von dort ging es dann »unauffällig« zum Eingang von Haus 7, dem ehemaligen Sitz der HA XX. Zwischenzeitlich waren dort Benutzerräume der staatlichen Archivverwaltung untergebracht worden. Henry Leide ging voran und hielt mit seiner Körpermasse und einem Holzkeil für die nachströmenden angehenden Stasi-Besetzer die Tür offen. Die verdutzten Wachleute machten keine ernsthaften Versuche uns an unserem Tun zu hindern. Drinnen angelangt begannen unsere Probleme erst richtig: die Verbindungstür zum Archivgebäude war verschlossen. Es entstand ein ziemliches Durcheinander, einige versuchten nun selbständig andere Wege ins Archiv zu finden. Bärbel Bohley war sauer, dass sie nicht wirklich im Stasi-Archiv gelandet war, sondern nur in belanglosen Büroräumen.

Besetzer des Stasi-Archivs im September 1990. Im Fenster des 2. Stocks von Haus 7: Der Autor dieses Textes, Stephan Konopatzky, Ingrid Köppe, Frank Ebert, Till Böttcher und Christian Halbrock. (© Barbara Timm)

Die ganze Sache stand ziemlich auf der Kippe. Stimmen kamen auf, die Sache unter diesen Umständen abzubrechen. Die Lösung kam in Form der anrückenden Staatsgewalt, welche sich auf dem Hof und im Eingangsbereich des Hauses zu formieren begann. Mehr dem natürlichen Fluchtinstinkt als einem genauen Plan folgend, flüchteten sich nun doch alle Eindringlinge in einige Büroräume der 3. Etage des Hauses 7. Hier stellte sich heraus, dass einige Leute verloren gegangen waren, die zunächst mit ins Haus gelangt waren. So fehlte zum Beispiel Tom Sello von der Umweltbibliothek. Mehrere Türen wurden verrammelt und die dazwischen liegenden Räume mit allerlei Gerümpel gefüllt. Kaum war die letzte Tür verschlossen, begann sich auch schon eine Einheit der Volkspolizei (VP) mit Brechstangen und Äxten zu uns vorzuarbeiten. Erst kurz vor dem Fall der letzten »Barrikade« hörten diese Aktivitäten plötzlich auf und es trat eine seltsame Stille ein, die durch ein schwächliches Anklopfen beendet wurde. Es war eine piepsige Frauenstimme zu vernehmen. Sabine Bergmann-Pohl, die amtierende Volkskammerpräsidentin der NOCHDDR gab sich die Ehre.

Was in Wochen darauf folgte, ist bekannt. Der SPIEGEL schrieb schon eine Woche nach Beginn der Besetzung: »Wohl nie zuvor in der Geschichte brachte das Establishment eines Landes einer Truppe linker Hausbesetzer so viel Respekt entgegen...« Tatsächlich gaben sich Prominenten die Klinke die Hand, gab es schriftliche und mündliche Solidaritätsbekundungen buchstäblich aus der ganzen Welt. Zum ebenso wichtigen Faktor für die Übermittlung der Ereignisse in die Öffentlichkeit wurde eine Mahnwache, die sich spontan am Haupteingang der Ruschestraße formierte und in den folgenden drei Wochen durch die kontinuierliche Organisation von öffentlichkeits- bzw. medienwirksamen Aktivitäten zum Erfolg der ganzen Aktion beitrug.

Natürlich folgte auch eine Anzeige gegen die Besetzer (von Günther Eichhorn, dem damaligen Leiter des Staatlichen Komitees zur Auflösung des MfS/AfNS – er wurde sechs Jahre später als IM enttarnt). Wir starteten unseren Hungerstreik, der Kreis der Besetzer erweiterte sich durch die Volkskammerabgeordneten Christine Grabe und Angelika Barbe sowie, last but not least, Wolf Biermann (»’Zu Haus’ in Hamburg hatte ich von diesem Coup gehört. Ja, und ich wollte dabei sein, schon aus sentimentalen Gründen...«). Eine Abordnung der Besetzer störte die Volkskammersitzung am 20. September, es gab Kopierer von der DSU, Innenminister Diestels Ex-Stasi-Sondereinheiten wurden zu unserer Bewachung abgestellt (denen wir, ohne es zu ahnen, für die Zukunft einen sicheren Job verpassten) und viele andere kleine und größere Geschichten ergaben sich, die vielleicht später einmal erzählt werden. Als wir am 28. September 1990 die Besetzung beendeten (die Mahnwache blieb noch länger), war der Einigungsvertrag vom 31. August um den folgenden Anhang erweitert worden:

Art 1, 6 und 7 der Zusatzvereinbarung zum Einigungsvertag – siehe u.a.: Klaus Stoltenberg, Stasi-Unterlagengesetz: Kommentar, Baden-Baden 1992, S. 485

Vereinbarung zwischen der Bundesrepublik Deutschland und der Deutschen Demokratischen Republik zur Durchführung und Auslegung des am 31. August 1990 in Berlin unterzeichneten Vertrages zwischen der Bundesrepublik Deutschland und der Deutschen Demokratischen Republik über die Herstellung der Einheit Deutschlands – Einigungsvertrag – Die Bundesrepublik Deutschland und die Deutsche Demokratische Republik –

in dem Bestreben, die Durchführung und Auslegung des am 31. August 1990 in Berlin unterzeichneten Vertrages zwischen der Bundesrepublik Deutschland und der Deutschen Demokratischen Republik über die Herstellung der Einheit Deutschlands – Einigungsvertrag – sicherzustellen, in Ausfüllung des Artikels 9 Abs. 3 des Einigungsvertrags – sind übereingekommen, eine Vereinbarung mit den nachfolgenden Bestimmungen zu schließen:

Artikel 1 Zu der Frage der weiteren Vorgehensweise hinsichtlich der vom ehemaligen Staatssicherheitsdienst der Deutschen Demokratischen Republik gewonnenen personenbezogenen Informationen stellen die Regierungen der beiden Vertragsparteien übereinstimmend fest:

  1. Sie erwarten, daß der gesamtdeutsche Gesetzgeber die Grundsätze, wie sie in dem von der Volkskammer am 24. August 1990 verabschiedeten Gesetz über die Sicherung und Nutzung der personenbezogenen Daten des ehemaligen Ministeriums für Staatssicherheit/ Amtes für Nationale Sicherheit zum Ausdruck kommen,umfassend berücksichtigt.

  2. Sie erwarten, daß der gesamtdeutsche Gesetzgeber die Voraussetzungen dafür schafft, daß die politische, historische und juristische Aufarbeitung der Tätigkeit des ehemaligen Ministeriums für Staatssicherheit/Amtes für Nationale Sicherheit gewährleistet bleibt.

  3. Sie gehen davon aus, daß ein angemessener Ausgleich zwischen - der politischen, historischen und juristischen Aufarbeitung, - der Sicherung der individuellen Rechte der Betroffenen und - dem gebotenen Schutz des einzelnen vor unbefugter Verwendung seiner persönlichen Daten geschaffen wird.

  4. Sie gehen davon aus, daß von den in Artikel 1 des Einigungsvertrags genannten Ländern bestellte Beauftragte den Sonderbeauftragten bei der Erfüllung seiner gesetzlichen Aufgaben beraten und unterstützen, damit die Interessen der Bürger der neuen Bundesländer in besonderer Weise Berücksichtigung finden.

  5. Sie stellen Einvernehmen darüber fest, daß bei zentraler Verwaltung die sichere Verwahrung, Archivierung und Nutzung der Unterlagen zentral und regional erfolgen kann. In wichtigen Angelegenheiten der sicheren Verwaltung, Archivierung und Nutzung der Unterlagen soll sich der Sonderbeauftragte mit dem Beauftragten des jeweiligen Landes ins Benehmen setzen.

  6. Sie gehen davon aus, daß sobald wie möglich den Betroffenen ein Auskunftsrecht – unter Wahrung der schutzwürdigen Interessen Dritter – eingeräumt wird.

  7. Sie gehen davon aus, daß der Sonderbeauftragte unverzüglich eine Benutzerordnung erläßt, die die gesetzlichen Vorgaben ausfüllt. Mit dieser Benutzerordnung werden zugleich Inhalt, Art und Umfang der Beratung und Unterstützung durch die Landesbeauftragten näher bestimmt.

  8. Sie gehen davon aus, daß bis auf die unumgängliche Mitwirkung bei der Aufklärung und Verfolgung von Straftaten entsprechend Paragraph 2 Abs. 1 Nr. 4 der Maßgabe b) zum Bundesarchivgesetz die Nutzung oder Übermittlung von Daten für nachrichtendienstliche Zwecke ausgeschlossen wird. Der Bundesminister des Innern wird das Bundesamt für Verfassungschutz anweisen, bis zum Erlaß der in Nummer 7 genannten Benutzerordnung keine diesbezüglichen Anfragen an den Sonderbeauftragten zu richten. Die verwendeten Informationen aus den Akten sind so zu kennzeichnen, daß Art, Umfang und Herkunft der übermittelten Daten kontrollierbar und eine abschließende gesetzgeberische Entscheidung über den Verbleib der Daten möglich bleibt.

  9. Die Regierungen der beiden Vertragsparteien gegen davon aus, daß die Gesetzgebungsarbeit zur endgültigen Regelung dieser Materie unverzüglich nach dem 3. Oktober 1990 aufgenommen wird. Dabei soll das Volkskammergesetz in Verbindung mit dem Einigungsvertrag als Grundlage dienen. [...] Artikel 6 Bei Zweifeln oder Unstimmigkeiten über den Inhalt des Vertrages oder seiner Anlagen ist diese Vereinbarung maßgebend.

Artikel 7 Diese Vereinbarung tritt gleichzeitig mit dem am 31. August 1990 unterzeichneten Vertrag in Kraft. [...]

Bonn, den 18. September 1990 Für die Bundesrepublik Deutschland Dr. Wolfgang Schäuble Für die Deutsche Demokratische Republik Dr. Günther Krause

Wir gingen mit durchaus gemischten Gefühlen. Das Hauptproblem für uns war das Misstrauen darüber, ob diese Punkte vom zukünftigen deutschen Parlament auch wirklich in Gesetzesform gebracht werden würden. Formulierungen wie »Sie erwarten, dass« oder »Sie gehen davon aus, dass« empfanden wir als unzureichend. Zusätzlich gingen uns die formulierten Punkte nicht weit genug. Unsere Forderungen, zum Akteneinsichtsrecht und vor allem das Verwendungsverbot für Geheimdienste betreffend, fanden sich unseres Erachtens nur unzureichend in diesem Anhang zum Einigungsvertrag. Nicht durchsetzen konnten wir unsere Forderung nach der Entlassung von Peter-Michael Diestel und den ehemaligen Stasi-Leuten im Archiv.

Noch im Oktober 1990 war ich einer von fünf ehemaligen Archivbesetzern die sich beim Aufbaustab des BMI für eine Mitarbeit beim zukünftigen Sonderbeauftragten der Bundesregierung bewarben. Am 18. Januar 1991 erhielten wir alle eine Absage. Erst nach vielfältigen Interventionen fand man sich im August 1991 bereit, den fünf Kandidaten einen auf ein Jahr befristeten Arbeitsvertrag anzubieten. Zur selben Zeit wurden von diesem Aufbaustab hunderte Verträge ohne bzw. mit deutlich längeren Befristungszeiten abgeschlossen. Eines war klar, bei der Auswahl der Mitarbeiter der neuen Behörde wurde lieber auf DDR-Verwaltungserfahrung gesetzt, als auf die politische Motivation von Überzeugungstätern. So entstand die paradoxe Situation, dass eine jahrelange SED-Mitgliedschaft oder sonstige Systemnähe einer Einstellung in die neue Behörde weniger hinderlich war als das aktive Engagement für das Entstehen derselben. Ich war letztlich der Einzige, der unter diesen Bedingungen das Angebot annahm und den Arbeitsvertrag unterschrieb. Die Befristung meines Vertrags wurde später verlängert und dann ganz aufgehoben.

16 Jahre später

Es ist nun schon 16 Jahre her, als ich diesen Artikel über die Besetzung und unseren Hungerstreik 1990 für die Aufarbeitungs-Zeitschrift „Horch und Guck“ schrieb. Eigentlich wollte ich ihn für die Publikation an dieser Stelle noch einmal überarbeiten vor allem was die Chronologie der Ereignisse rund um die Auseinandersetzung über die Stasi-Unterlagen im Rahmen der Verhandlungen zum Einigungsvertrag angeht. Ich verzichte aber darauf und belasse es bei meiner subjektiven Darstellung. Ergänzen möchte ich den Text dafür mit einem kurzen persönlichen Resümee, das meine Zeit in der Behörde des Sonder-, später Bundesbeauftragten für die Stasi-Unterlagen aber vor allem 25 Jahre Aktenöffnung insgesamt reflektiert - ohne Anspruch auf eine umfassende Berücksichtigung aller Aspekte dieser Geschichte. Also meine ganz persönliche Sicht, keine empirische belegte Studie. Auch von heute aus betrachtet war unsere Besetzung sicherlich ein nicht ganz unwichtiges Mosaiksteinchen für den dann bald folgenden relativ freien Zugang zu den Stasi-Unterlagen. Ob der Umgang mit den Unterlagen ohne unsere Aktion und den ertrotzten Anhang zum Einigungsvertrag ein anderer geworden wäre, ist Spekulation. Wahrscheinlich wäre es letztlich auch so zu einer Aktenöffnung gekommen. Ob sie auch so weitreichend geworden wäre? Der größte Wert unserer damaligen Aktion lag in der sehr starken öffentlichen Resonanz, die Besetzung, Hungerstreik und Mahnwachen ausgelöst haben. Diese breite Wirkung hat deutlich gezeigt, dass der Umgang mit den Stasi-Unterlagen nicht einfach einer Art Staatsräson untergeordnet werden kann. So aber wollten es ganz offensichtlich nicht wenige politische Akteure vor allem im Westen und so hofften es wohl viele Stasiverstrickte im Osten insgeheim.

Mein Einstieg als Mitarbeiter des Sonderbeauftragten in die staatliche „Stasi-Aufarbeitung“ war mit Hindernissen verbunden: Obwohl ich nicht in die offenen und geheimen Machtstrukturen der DDR verstrickt war und mich bereits 1990 bei der Stasi-Auflösung in der sogenannten „Operativen Gruppe“ der Arbeitsgruppe Sicherheit des Zentralen Runden Tischs engagiert hatte, wollte man mich in der neuen Behörde nicht haben. Das wird nicht zuletzt daran gelegen haben, dass gerade die heute sogenannte „zweite Besetzung“ beim späteren Bundesbeauftragten auf wenig Gegenliebe gestoßen ist. Mahnwachen, Besetzungen, Demonstrationen – Joachim Gauck mochte diese Art der politischen Auseinandersetzung und wohl auch ihre Akteure nicht. So gesehen war meine Entscheidung für die Behörde mit einer Enttäuschung verbunden. Meine Erfahrung in der Zeit der Stasi-Auflösung und meine Motivation die ich mitbrachte reichten - zunächst – nur für einfaches Aufräumen, Sortieren und einen befristeten Arbeitsvertrag.

Nachdenklich stimmte mich bald die Erfahrung, dass sich die Behörde so anfühlte wie ich mir ein DDR-Ministerium vorstellte. Unzählige neue Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter kamen aus der Ministerialbürokratie des gerade untergegangenen „Arbeiter- und Bauernstaates“ zu der ja auch das DDR-Archivwesen gehörte. Zurück bis in die sogenannten „Bewaffneten Organe“, wie Polizei, NVA und Zoll reichten die Biografien der neuen Mitarbeiter, von denen einige bald leitende Funktionen einnahmen. Die Weiterbeschäftigung und Übernahme einiger Dutzend hauptamtlicher Stasi-Mitarbeiter trug ein Übriges dazu bei, dass noch lange Zeit nicht nur Akten und Gemäuer den Duft der DDR in der neuen Behörde verströmten.

Insofern fühlte ich mich mit meiner so behörden- und staatsfernen Biografie auch oft fremd in den langen Fluren der neuen Behörde. Der in meinen Augen damals skandalöse Wechsel des Direktors der Behörde Hans-Jörg Geiger 1995 zunächst in das Amt des Präsidenten des Bundesamtes für Verfassungsschutz und ein Jahr später als Chef des Bundesnachrichtendienstes, zeigte für mich deutlich wie man die Behörde des Bundesbeauftragten für die Stasi-Unterlagen damals im Umfeld des BMI und des Bundeskanzleramts einordnete - offensichtlich empfand man es dort als eine gute Idee, das profunde „Fachwissen“ in Sachen ungebremster Spitzelei und Massenüberwachung, welches sich Hans-Jörg Geiger in den Jahren des Umgangs mit den Stasi-Akten aneignen konnte, direkt in die Optimierung der beiden größten bundesdeutschen Geheimdienste einfließen zu lassen. Aus meiner Sicht ein Trauerspiel!

Anfang 2005 endete die Zugehörigkeit der Behörde des Bundesbeauftragten für die Stasi-Unterlagen zum Geschäftsbereich des BMI. Der Wechsel in den neuen Geschäftsbereich des Beauftragten für Kultur und Medien wurde von Bürgerrechtlern kritisiert. Manche befürchteten eine Abwertung und Mineralisierung des Stasi-Themas. Für mich war dieser Wechsel aber ein kleiner Befreiungsschlag, versprach ich mir davon doch einen frischen Wind, endlich weg aus dem Dunstkreis von Polizei und Geheimdiensten. Die positiven Folgen für die Behörde waren leider weniger deutlich zu spüren, als ich es mir gewünscht hätte. Inzwischen war die Arbeit mit der archivalischen Überlieferung dieses Teils der jüngsten Deutschen Geschichte für mich schon zu einem Lebensthema geworden. Mein Blick auf die Probleme und Widersprüche der eigenen Behörde entspannte sich langsam, wenn er auch nicht sorgenfrei wurde. Es liegt in der Natur des Menschen, dass er immer im Unbekannten, Geheimen nach neuen Erkenntnissen oder „der Wahrheit" sucht. So war es auch bei mir. Als ich damals begann, mich an der Stasi-Auflösung zu beteiligen, war ich vor allem neugierig. Wie oft kam es in den vorangegangenen Jahren bei Gesprächen mit Freunden und Verwandten auf das Thema „Stasi“, wie oft hatte ich den riesigen Ministeriums-Komplex in Lichtenberg ungläubig umrundet, sogar mit Freunden aus dem Westen. Wie oft haben wir darüber spekuliert, wie viele unterirdische Etagen es in der Stasi-Burg wohl gibt, wer sich vielleicht aus unserem Umfeld bei den heimlichen Genossen ein Zubrot verdient, wo sie ihre Kameras und Mikrofone versteckt haben, woran man ihre Autos erkennt, wie oft sie deren Nummern wechseln, wie man wirkliche oder vermeintliche Observanten am besten abschüttelt, ob sie das letzte Wort bei jeder beruflichen Bewerbung haben, ob sie mich holen, weil ich den „Wehrdienst“ total verweigert habe, welche Techniken sie haben um mir die Schliche zu kommen, wenn ich politische Parolen sprühte, ob sie die Nummern von illegal besorgter Vervielfältigungstechnik registriert haben, ob sie wissen, wenn ich mich mit meiner Schwester aus dem Westen in Prag oder Budapest treffe, ob sie wissen, dass ich den Absender der Einladung nach Polen gar nicht kenne, ob sie immer alle Leitungen in den Westen abhören, jeden Brief öffnen...

Wen wundert es da noch, dass, obwohl es 1990 praktisch unendlich viele Möglichkeiten gab, sich politisch einzubringen oder auch sonst zu verwirklichen, mir das Thema Stasi „am spannendsten“ schien. Die Möglichkeit, hinter die Kulissen (Mauern, Türen und schwarzen Vorhänge usw.) des gerade noch Geheimen blicken zu können, elektrisierte mich. Die Anziehungskraft des, zuvor so oft durchdachten, Geheimen war für mich enorm. Und ich glaube, was heute gerne als „Stasi-Aufarbeitung“ bezeichnet wird, ist nicht selten einfach die Befriedigung des zutiefst menschlichen Impulses der Neugier. Schlicht Neugierde als ein Reiz Neues zu erfahren und insbesondere Verborgenes kennenzulernen, für die Einen zur Befriedigung einer Lust an Sensationen, für die Anderen ein Interesse an Wissenszuwachs - auch um zu begreifen, warum so viele sich wegduckten und das Machtsystem DDR scheinbar akzeptierten.

Ein System zwischen Kafka und Orwell

Die Sicht auf ein Vierteljahrhundert geöffneter Stasi-Akten hängt immer noch stark von der Perspektive des Betrachters ab. Auch wenn 25 Jahre Stasi-Forschung zu einer Objektivierung hätten führen sollen, ist doch zumindest bei denjenigen, die DDR und Stasi selbst „erlebten“, wenig davon zu spüren. Fast jeder hat sein Bild von dem, was war, geprägt vor allem davon auf „welcher Seite er stand“. Aber jeder kann heute wissen und auch in den Akten nachlesen: In der DDR etablierte sich im Laufe ihrer vierzigjährigen Geschichte ein Misstrauens-, Kontroll- und Überwachungssystem, dass sich zwischen Kafka und Orwell nicht entscheiden wollte.

Geheimdienstaktenstudium heute durch Journalisten und Wissenschaftler in einem Lesesaal der Stasi-Unterlagen-Behörde. Letztendlich ein Erfolg der Bürgerrechtler und Besetzern aus dem Jahr 1990. (© Holger Kulick)

Wie in Kafkas „Das Schloss“ wurde das kleine Land beherrscht und kontrolliert von einer für die meisten unerreichbaren, nicht fassbaren Macht, die immer mehr auch zu ihrem eigenen Mythos wurde. Erst seit der Öffnung der Stasi-Akten kann jeder nachlesen, wie es wirklich zuging in Mielkes „Schloss“: Vom heimlichen Todesurteil und der anschließenden Hinrichtung durch „unerwarteten Nahschuss“ für Verräter noch 1981, Kindern und Jugendlichen als Spitzel, Denunziatorischen Anrufen in der Stasi-Zentrale, Stasi-Leuten, die sich mit weißen Handschuhen und Polaroid-Kameras bewaffnet bei heimlichen Hausdurchsuchungen durch die Betten und Schränke einsamer alter Männer wühlten und dabei staatsgefährdende Texte, wie „allerlei Gereimtes“ zu Tage förderten und konspirativ dokumentierten, riesige Säle mit Millionen Karteikarten und Akten, surrende Speicherplatten und zuckende Magnetbändern in staubfreien Rechenzentren. Es gehörte zu den Zielen unserer damaligen Aktivitäten durch die Aktenöffnung Einblick in die Funktionsweise dieses Systems zu bekommen. Und es hat sich gelohnt.

Für die persönlich Betroffenen kann es ein Gefühl der Genugtuung sein, eine Art Korrektiv der so grob verletzten Informationellen Selbstbestimmung. Denen, den Schlimmeres angetan wurde, weil sie von der Stasi oder anderen „Organen“ der Arbeiter und Bauernmacht inhaftiert, drangsaliert oder gedemütigt wurden, konnte die Öffnung der Akten helfen, das Erlittene zu überwinden. Und für die juristische Rehabilitation und Wiedergutmachung war sie unerlässlich. Ganz zurück erhält man seine Geheimnisse aber nicht, sie bleiben Staatseigentum. Ursprünglich war mit § 14 des Stasi-Unterlagengesetzes vorgesehen, dass jeder Betroffene später das Recht der ersatzlosen Herausgabe bzw. der Vernichtung der von der Stasi über ihn gespeicherten Informationen hat. Auch während unserer Besetzung gehörte dies zu unseren Forderungen: „Wir sind der Meinung, dass jedes Opfer des Regimes das Recht haben sollte, sein Personendossier in die Hand zu bekommen, es zu vernichten oder auch nicht.“ Ein Gedanke, der mir auch heute noch gut gefällt, stand er doch für eine wirkliche und radikale Beendigung eines unrechtmäßigen Zustands. Dazu kam es jedoch nie. Nach mehrfacher Aufschiebung der Fristen, wurde § 14 des Stasi-Unterlagengesetzes im Jahr 2002 ersatzlos gestrichen. Als Archivar kann ich diese Entscheidung verstehen, weiß ich doch um die Schwierigkeiten der praktischen Umsetzung dieser Datenlöschung. Als Bürgerrechtler bedaure ich den Verlust dieser Möglichkeit. So wird es auch weiter keine Ruhe für die Geheimnisse geben und bei allen guten Vorsätzen und rechtlichen Regelungen bleibt die Gefahr des Missbrauchs.

Es ist auch schon vorgekommen (sicher nicht nur einmal), dass die Stasi-Unterlagen-Behörde Informationen aus der Akte eines DDR-Oppositionellen ohne dessen Einverständnis an staatliche Stellen herausgegeben hat – mehr als nur eine Peinlichkeit! Diese Gefahr sahen wir schon 1990 bei unserer Besetzung und formulierten: „Alle Stasi-Akten wurden mit kriminellen Mitteln und zu kriminellen Zwecken hergestellt. Wenn von nun an das Bundesamt für Verfassungsschutz Zugriff zu solchen Akten haben soll, ist das in unseren Augen selbst verfassungsfeindlich“. Es ist sicherlich spannend, darüber nachzudenken, warum dieses Thema bisher nie das Potential für einen wirklich wahrnehmbaren öffentlichen Diskurs hatte.

Trotz dieses Missbrauchs und ähnlicher Gefahren sehe ich in der Aktenöffnung mehr Chance als Gefahr. Vielleicht so wie Milan Kundera 1982 mit großer Weitsichtigkeit in seinem Roman „Die unerträgliche Leichtigkeit des Seins“ den ehemaligen Redakteur einer verbotenen Literaturzeitschrift sagen lässt: „...übrigens stellen sie sich den Vorteil vor, den die Historiker der Zukunft haben werden! Sie werden in den Polizeiarchiven das Leben aller tschechischen Intellektuellen auf Tonband aufgezeichnet finden! Wissen sie, was für Mühe es einen Literaturwissenschaftler kostet, sich das sexuelle Leben eines Voltaire, Balzac oder Tolstoj konkret vorzustellen? Bei den tschechischen Schriftstellern werden keine Zweifel auftreten. Alles ist registriert. Jeder Seufzer“ Dann wandte er sich an die imaginären Mikrophone in den Wänden und sagte noch lauter: „Meine Herren, wie immer bei ähnlichen Anlässen möchte ich Sie zu Ihrer Arbeit ermutigen und Ihnen in meinem Namen und im Namen der künftigen Historiker danken!“

Und heute?

Die Zahl der Voltairs, Balzacs und Tolstojs in der DDR war überschaubar. Aber auch so hat die Stasi in ihrer Sammelwut wie eine äußerst penible Dokumentationsstelle des gesellschaftlichen und politischen Alltags der DDR und des „Kalten Krieges“ für die Historiker einen beachtlichen Berg hinterlassen. Von einem „Schatz“ will ich da lieber nicht reden. Natürlich bleiben zu Lebzeiten der Betroffenen und Jahre darüber hinaus viele Informationen aus den Akten tabu. Zu entdecken gibt es in diesem Berg jetzt schon viel, sowohl was die einst geheimen Interna der Stasi und der DDR angeht, aber auch das, was die „zeitgeschichtliche Dokumentation“ angeht. Damit meine ich die zunehmend mögliche Betrachtung der Stasi-Unterlagen als zeithistorische Quelle, die auch über die Erforschung des direkten Wirkens der Stasi hinaus weist.

Eine solche Betrachtung der Stasi-Unterlagen kommt nach meiner Meinung den Intentionen vieler Aktivisten der Stasi-Auflösung entgegen – die Akten werden umfunktioniert von einer geheimen Wissensbasis der einst Mächtigen zum zeithistorischen Wissenspool für jeden. So (und nur so) gesehen, kann man den gigantischen Investitionen, die Honecker, Mielke und Genossen sich ihren Überwachungswahn kosten ließen, sogar noch etwas Positives abgewinnen. Öffentlichkeit, Transparenz und Informationsfreiheit sind die Gegenpole des Geheimnisses. Es gibt diese Akten und wir können sie nicht ignorieren, um so etwas Geschehenes ungeschehen zu machen. Meines Erachtens muss auch dieser nüchterne Blick auf die Akten erlaubt sein. Dabei ist mir bewusst, dass sich auch für die Stasi-Geschichten, über kurzlebige Schlagzeilen hinaus, immer nur relativ Wenige wirklich interessieren. Nicht selten wundern sich Leute, die ich treffe, darüber, was Archive eigentlich sind und dass es Leute (wie mich) gibt, die dort ein Leben lang beschäftigt sein können. Mit der Bedeutung, was Stasi-Überwachung für einen persönlich ausmachte, verhält es sich ähnlich - manch einer fragt sich, was es am einst Erlebten ändert, später zu erfahren, was darüber im Geheimen fleißig notiert wurde. Für diejenigen, denen daraus Konsequenzen erwuchsen, ist die Antwort klar, für die anderen verständlicherweise nicht.

Ähnlich verläuft auch heute die Debatte um die elektronische Massenüberwachung unserer Kommunikation durch NSA, GCHQ, BND und Co. Solange sich daraus keine Folgen ergeben, haben viele, gerade in Anbetracht der tatsächlichen oder vermeintlichen Vorteile für die innere Sicherheit, getreu dem Motto „ich habe ja nichts zu verbergen“ eigentlich kein Problem damit. Die parallelen Geheimwelten lassen sich leicht ignorieren, solange sie nicht aus dem Dunklen hervortreten und sich merklich in das eigene Leben einmischen. Die Geschichten in den Akten sind weitaus differenzierter als es uns in den letzten 25 Jahren so manche Schlagzeile weismachen wollte. Sie sind nicht einfach nur schwarz und weiß, es gibt nicht nur Opfer und Täter, Helden und Verlierer, Ausreiser und Dableiber, Verräter und Verratene.

Im Zeitalter von Stasi 2.0

Der Bundesbeauftragte Roland Jahn stellt seine Behörde unter das Motto „Je besser wir Diktatur begreifen, umso besser können wir Demokratie gestalten“. Bei aller Begrenztheit solcher einfachen Wahrheiten, würde ich lieber sagen: „Je besser wir Demokratie gestalten, umso eher können wir Diktatur verhindern“. Dennoch ist es natürlich richtig und unverzichtbar, Lehren aus der Vergangenheit zu ziehen. Und es ist für mich naheliegend, dass man aus dem Erleben der DDR und dem Studium ihrer Akten nicht nur seine kritische Sicht auf die diktatorischen Verhältnisse in der DDR und im Ostblock insgesamt schärft, sondern diesen geschärften und kritischen Blick auch auf moderne Geheimdienste richtet. Es sei denn man gesteht ihnen auch heute die Aufgabe der Chronisten unserer intimsten Geheimnisse zum Wohl künftiger Historiker zu – wie in Kunderas Roman. Unsere Chronisten sind wir aber besser selbst. Mit dem Wissen über Stasi und Co haben wir für den kritischen Blick auf Geheimdienste überhaupt einen fast unerschöpflichen Fundus zusätzlicher Argumente. Und die Kritik darf natürlich auch kreativ sein, wie beispielsweise bei der Verwendung des Begriffs Stasi 2.0 für Vorratsdatenspeicherung, Online-Durchsuchungen und andere Gefahren, dem das zarte Pflänzchen der informationellen Selbstbestimmung heute ausgeliefert ist. Ich kann hier keine Grenzüberschreitung erkennen, im Gegenteil, pointierter lassen sich die Gefahren der modernen elektronischen Massenüberwachung kaum ausdrücken. Wer hier fantasie- und humorlos ist, hat sich im Gestern verfangen und tut sich und der Debatte damit keinen Gefallen.

Die Diskussion um Stasi und DDR steht nicht selten in der Gefahr des Absolutheitsanspruchs - nichts Schlimmeres kann es nach 1945 gegeben haben. Menschen, denen in anderen Kontexten womöglich sogar außerhalb des kommunistischen Machtbereichs staatliches Unrecht widerfahren ist, die Opfer von staatlich ausgeübter oder legitimierter Gewalt geworden sind oder eben ihre Kritik an moderner Überwachung in den Stasi-Kontext stellen werden kritisch beäugt, ob sie nicht am mächtigen, Stasi-Bild kratzen. Nur wenn sie dies in einer Art Präambel ihren Berichten voranstellen finden sie Gehör. Gerne wird dabei vergessen, dass einiges von dem, was uns die Öffnung der Stasi-Akten an geheimen Methoden der Überwachung vor Augen geführt hat, gar nicht so spezifisch „Stasi“ war. Auch andere Geheimdienste in Ost und West nutzten (und nutzen) einen beachtlichen Teil des gleichen Instrumentariums. Ein unverkrampfter, in einen größeren historischen, politischen und geopolitischen Kontext eingeordneter Umgang mit den Themen Stasi und DDR nimmt niemandem seine persönliche Geschichte und Betroffenheit, ermöglicht aber das Geschehene besser zu erkunden und realistischer einzuordnen.

So betroffen der einzelne damals auch gewesen sein mag, verliert er sich heute ausschließlich in der (Stasi-)Vergangenheit ist es auch ein später Sieg der damals Mächtigen. Die geheime Parallelwelt der Stasi scheint dafür geschaffen, sich auch noch heute in ihr zu verirren. Scheinbar steckt hinter jedem Geheimnis noch ein weiteres, hinter jeder geöffneten Tür kommen weitere Türen zum Vorschein. Da die Akten nun zugänglich sind, vermutet man die eigentlich relevanten Informationen in den Aktenschnipseln oder in verborgenen, unzugänglichen Kammern der Stasi-Unterlagen-Behörde. Die Probleme bei der Rekonstruktion der Schnipsel – Verschwörung! Die Besetzung der Berliner Stasi-Zentrale am 15. Januar 1990 – ein von der Stasi inszeniertes Theater! So suggeriert es beispielsweise ein Berliner Historiker. Er ist damit nicht der Einzige, der in den letzten 25 Jahren die Orientierung im Labyrinth der Geheimnisse verloren hat. Gern werden Verschwörungstheorien auch von jenen befördert, die über sich in den Stasi-Unterlagen keine oder nur wenige Spuren finden. Frei nach dem Motto, das kann doch nicht sein, da muss doch was gewesen sein. Dass sie vielleicht mit ihrem angepassten Leben der Stasi gar keinen Anlass gaben über sie ein Dossier anzulegen, kommt ihnen dabei nicht in den Sinn.

Flüchtlingskinder surfen auf einem Flur in der ehemaligen Berliner Stasi-Zentrale in Berlin-Lichtenberg. Dort leben inzwischen 1.300 Geflüchtete. (© Holger Kulick)

Inzwischen sind auf dem Gelände der Stasi-Zentrale in Berlin Lichtenberg Flüchtlinge untergebracht, die wahrscheinlich überwiegend nach 1990 geboren sind. Da, wo einst Markus Wolf und Werner Großmann ihre Agenten in die weite Welt schickten, kicken heute syrische, irakische und afghanische Kinder ihre Bälle über Flure und Höfe. Ihre Eltern und Geschwister telefonieren und skypen mit ihren Smartphones auf labilen Datenkanälen mit Freunden und Verwandten in anderen Flüchtlingslagern oder den zerbombten Städten ihrer Heimat. Nur einen Steinwurf entfernt kämpfen hunderte Mitarbeiter des Bundesbeauftragten für die Stasi-Unterlagen mit alten und neuen Aktenbergen. Vorbei ziehen Besucher aus aller Welt, auf den Spuren des Stasi-Ministeriums. Die Analyse-Software der Geheimdienste versucht aus dem babylonischen Sprachgewirr die schwarzen Schafe zu filtern. Willkommen in der Gegenwart.

Der gelernte Nachrichtentechniker Stephan Konopatzky geriet als Jugendlicher in Konflikt mit dem DDR-System, setze sich offen und konspirativ für eine Änderung der Verhältnisse ein. Er gehörte während der Auflösung des Ministeriums für Staatssicherheit (MfS) zur "Operativen Gruppe" der AG Sicherheit des Zentralen Runden Tisches der DDR, dem später Komitee zur Auflösung des MfS/AfNS. Im September 1990 war er Mitinitiator der zweiten Besetzung des Archivs in der Berliner MfS-Zentrale, um einen freien Zugang zu den Stasi-Akten nach dem Beitritt zur Bundesrepublik zu erreichen. Er arbeitet seitdem in der BStU, ist heute Archivar und erforscht die elektronische Hinterlassenschaft der Stasi.