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Liquidierte Bücher

Joachim Walther

/ 21 Minuten zu lesen

Diktaturen lassen Schriftstellern selten Freiraum - außer sie schreiben im Sinne der vorherrschenden Ideologie. Tun sie das nicht, gelten sie schnell als "feindlich", im Jargon der Stasi als "negativ-dekadent". Daher galt der Literatur ein besonderes Augenmerk der DDR-Geheimpolizei. Über die Freigabe von Texten entschieden auch Gutachter des MfS.

Aus der DDR ausgebürgerte und emigrierte Autoren: Hans-Joachim Schädlich, Wolf Biermann und Jürgen Fuchs auf einer Tagung des Internationalen PEN in Hamburg 1986 (© Holger Kulick)

Einleitung

Diktaturen behandeln Kunst und Literatur stets in ähnlicher, extremer Weise: sie honorieren Anpassung mit Privilegien und verfolgen unnachgiebig Kritik. Literatur soll Ideologie transportieren, sie soll positive Alltagshelden zeigen, mit denen sich Leserinnen und Leser identifizieren können. Auf der anderen Seite gehören Zensur, Verbote und systematische Ausgrenzung kritischer Künstler und Autoren zu den grundlegenden Werkzeugen der Machterhaltung in totalitären Systemen.

Da sich die regierende Partei in der DDR, die SED, ihre politische Macht zu keinem Zeitpunkt durch freie und geheime Wahlen bestätigen ließ, hegte sie vor dem freien Wort einen extremen Argwohn, der wahnhafte Züge trug. Wer Kritik laut werden ließ, galt als "Klassenfeind" und automatisch als bekämpfenswerter "Gegner". Dieser ausgeprägte, über die 40 Jahre DDR spürbare und nachweisbare Verfolgungswahn gebar einen auf künstlerischen Gebiet besonders intensiven Verfolgungsdrang. Er ging aus von Beschlüssen des SED-Politbüros und Funktionärs-Debatten im Zentralkomitee (ZK) der SED, die Wert darauf legten, dass Kunst "Parteilichkeit" und "Volksverbundenheit" ausstrahlen sollte. Darüber zu wachen hatte die Stasi. Bereits auf ihrem 5. Plenum des Zentralkomitees (ZK) der SED vom 17. März 1951 wurden Kunst und Literatur als Propagandatransportmittel definiert. Damals nannte DDR-Ministerpräsident Otto Grotewohl als Zielrichtung des Beschlusses: „Literatur und bildende Künste sind der Politik untergeordnet, aber es ist klar, dass sie einen starken Einfluss auf die Politik ausüben. Die Idee der Kunst muss der Marschrichtung des politischen Kampfes folgen“.

Um Andersschreibende zu entschärfen und unterzuordnen, wurden Künstler und ihre Zirkel besonders intensiv überwacht, unterwandert, gelenkt und ggf. strafrechtlich verfolgt. Dazu beauftragte die „führende Partei“ ihr "Schild und Schwert", das Ministerium für Staatssicherheit, das den Apparat zur Überwachung der Literatur stetig ausbaute, seine Strukturen kontinuierlich modernisierte und das methodische Instrumentarium zur Unterdrückung unangepasster Literatur, aber auch zur Lenkung und Kontrolle staatlich genehmer Literaten, fortlaufend verfeinerte. In der zuständigen Diensteinheit zur Durchsetzung der SED-Kulturpolitik, in der Hauptabteilung XX/7, wurden im Jahr 1975 bereits 379 Inoffizielle Mitarbeiter geführt, überwiegend aus dem DDR-Kulturbetrieb. Hinzu kamen etwa 600 IM, die bei den Bezirksverwaltungen angebunden waren, sowie, vorsichtig geschätzt, 500 IM auf Kreisebene - deutlich mehr, als in anderen Bereichen.

Überdurchschnittlich hohe Überwachungsrate

Während auf 120 DDR-Bürger durchschnittlich ein Spitzel der Staatssicherheit kam, betrug das Verhältnis bei Schriftstellern in etwa 1:1. Das ergibt sich aus den bislang ausgewerteten Stasi-Akten. Hinzu kommt eine vergleichsweise hohe Zahl an Verhaftungen und Verurteilungen sowie der Operativen Vorgänge (OV) gegen Schriftsteller.

Natürlich war auch in der DDR Schriftsteller nicht gleich Schriftsteller. Da gab es zum einen staatstragende Parteiliteraten, aus denen sich zum großen Teil auch Denunzianten ihrer Kollegen rekrutierten, im Parteijargon zählten sie zu den "progressiven Kulturschaffenden" und rückten bis ins ZK der SED auf, wie der langjährige Vorsitzende des DDR-Schriftstellerverbands, Hermann Kant.

In der Mitte gab es eine Gruppe kritisch-loyaler Autoren, die der gesellschaftlichen Entwicklung partiell kritisch gegenüberstanden und das mitunter auch schrieben, zugleich aber treu zur sozialistischen Idee oder der kommunistischen Utopie standen, wie der Schriftsteller Stephan Heym. Er nahm zeitweise sogar Veröffentlichungsverbote und Ermittlungsverfahren wegen angeblicher Devisenvergehen ins Kauf, bekannte sich aber zum Sozialismus als Ziel und wollte im Lande bleiben.

Und es gab nicht staatstreue und subversive Autoren, die die volle Wucht der Unterdrückung traf. Diese abgedrängte, verhinderte und verbotene Literatur findet sich im "Archiv unterdrückter Literatur in der DDR" in Berlin, in dem annähernd 100 solcher Fälle aus 40 Jahren dokumentiert sind. Sie belegen, wie kritische Autoren in der DDR-Diktatur ihre geistige Autonomie gewahrt haben, welche Stoffe, Themen und ästhetischen Konzepte sie gegen diese staatlich organisierte Übermacht verteidigt haben und wie Partei und Staatssicherheit gegen sie vorgegangen sind. Meist waren dies junge Autoren, oft am Anfang ihres literarischen Weges, bis dahin ohne Publikation und deshalb durch die fehlende Öffentlichkeit dem Zugriff von Verfolgern nahezu ungeschützt ausgeliefert. Disziplinierungs- und Zersetzungsmaßnahmen von SED und MfS zielten entweder auf die möglichst frühzeitige Zerstörung ihrer Kreativität oder auf die Verhinderung der bereits geschriebenen Literatur, weshalb diese Texte, die bei konspirativen Wohnungsdurchsuchungen gestohlen oder bei Verhaftungen beschlagnahmt worden waren, oft bis 1989 in gesperrten Ablagen der Staatssicherheit lagerten.

Diffamierte Literatur

Die Liste der auf Geheiß der SED Ausgesonderten, Gemaßregelten und Bestraften ist lang, darunter bekannte Autoren wie Jürgen Fuchs, Sarah Kirsch, Günter Kunert, Reiner Kunze oder Jurek Becker, denen nichts anderes übrig blieb, als das Land zu verlassen. Daneben litten viele unbekanntere Autorinnen und Autoren - sie waren nicht durch Popularität vor einer Inhaftierung geschützt. Eine der ersten Leidtragenden war die Lyrikerin Edeltraud Eckert, 1950 eine idealistisch gestimmte, 20-jährige Pädagogikstudentin an der Humboldt-Universität, die früh von den sowjetischen Speziallagern in der DDR erfuhr, daraufhin eine Flugblatt-Aktion plante, vor Ausführung aber denunziert, von der Staatssicherheit verhaftet und an das Sowjetische Militärtribunal (SMT) in Potsdam übergeben wurde. Das verurteilte sie zu 25 Jahren Haft, die sie in den Zuchthäusern Bautzen, Waldheim und dem Frauenzuchthaus Hoheneck verbrachte, bis sie dort im Januar 1955 bei einem Arbeitsunfall durch eine Maschine skalpiert worden ist und - zu spät medizinisch behandelt - mit 25 Jahren an Wundstarrkrampf starb. Die gegen sie verhängte langjährige Haftstrafe war kein Einzelfall.

Auch der Nachwuchsautor und Journalist Horst Bienek wurde im November 1951 wegen "antisowjetischer Hetze" und angeblicher "Spionage für die USA" verhaftet und 1952 zu 20 Jahren Haft verurteilt - von einem sowjetischen Militärtribunal. Drakonische Urteile waren aber nicht nur Sache der Sowjets, so verhängte das Oberste Gericht der DDR 1952 gegen die Musikstudentin und Nachwuchsautorin Elisabeth Graul wegen „Jugendwiderstandes“ 15 Jahre Zuchthaus. Angeblich sei sie in einer "faschistischen Bande" aktiv, beschuldigte sie der Oberstaatsanwalt, und in einer "Söldnerarmee des Adenauer-Regimes", schimpfte die staatlich gelenkte DDR-Presse.

Die mit Stalins Tod im März 1953 erhoffte Lockerung kam mit dem Volksaufstand vom 17. Juni 1953 schon wieder zum Stillstand. Nun griff die SED zum Mittel ideologischer Säuberungen, Autoren, Publizisten, Journalisten bekamen das in den Folgejahren zu spüren. Nachdem beispielsweise der Leipziger Schriftsteller Erich Loest kritisiert hatte, DDR-Zeitungsredakteure hätten sich "kilometerweit von den Realitäten entfernt" und "säßen im Elfenbeinturm", fiel er bald in Ungnade, verlor den Vorsitz des Leipziger Schriftstellerverbands und wurde 1957 aus der Partei ausgeschlossen und zu einer mehrjährigen Zuchthausstrafe verurteilt. Ein ähnliches Schicksal erlitten der Lektor Wolfgang Harich und sein Verlagschef Walter Janka im Ostberliner Aufbau-Verlag, die offene Diskussionen und Kritik am Kurs der SED zugelassen hatten. Walter Janka wurde am 6. Dezember 1956 unter Anklage einer konterrevolutionären Verschwörung verhaftet und aus seiner Verlagsposition entfernt.

Schlüsselmoment Mauerbau

Mit dem Mauerbau 1961 setzten SED-Kulturpolitiker und Stasi noch eine weitere Erschwernis durch. Sie kappten den regelmäßigen Austausch von Schriftstellern aus dem Osten und Westen. Nachdem beispielsweise am 16. August 1961 die Schriftsteller Günter Grass und Wolfdietrich Schnurre eine Protestresolution bei mehreren Institutionen in Ost-Berlin abgegeben hatten, darunter dem DDR-Schriftstellerverband, wies das ZK der SED an, "die beiden Schriftsteller auf die Liste derjenigen Personen zu setzen, denen das Betreten des demokratischen Sektors nicht gestattet ist" - so ein Vermerk vom 18. August 1961. Und bei Grass' Gesprächspartner in Ost-Berlin, dem Schriftsteller Erwin Strittmatter, der zugleich "geheimer Informator" der Stasi mit dem Decknamen "Dollgow" war, beschwerte sich zwei Tage später dessen Führungsoffizier, "die Verhaftung" von Grass und Schnurre "nicht veranlasst zu haben". So zu lesen in einem Aktenvermerk vom 19. August 1961 der damaligen Stasi-Hauptabteilung HA V. (siehe: http://www.bstu.bund.de/DE/BundesbeauftragterUndBehoerde/Aktuelles/guenter-grass_protest_neu.html?nn=2191210 )

Ab der Zäsur durch den Mauerbau achteten SED, FDJ und MfS intensiv darauf, dass Literaten und Bühnenautoren nicht die leiseste Kritik an der Abschottung gegenüber dem Westen übten. Einer der ersten Leidtragenden wurde am 30. September 1961 der Dramatiker Heiner Müller. Sein Stück „Die Umsiedlerin oder Das Leben auf dem Lande“ wurde von Studenten der Hochschule für Ökonomie in Berlin-Karlshorst uraufgeführt – noch in der gleichen Nacht kam es zum Verbot, denn es sei ein "konterrevolutionäres, antikommunistisches und antihumanistisches Machwerk", urteilten die SED-Kulturideologen. Thema des Stückes waren die Folgen der Zwangskollektivierungen und Umsiedlungen in der Landwirtschaft, eingeordnet in die Zeit. IM-Berichte über die Premiere hielten fest, wer sich lobend oder kritisierend äußerte: „Sehr laut gelacht hat Manfred Krug.... Mickel bezeichnete es als einen Höhepunkt. Er werde darüber schreiben. Es gebe noch eine Zeitung, in der man schreiben könne (er sagte nicht welche)...", berichtete ein Stasiinformant und meldete zugleich: "Positive Kräfte“ seien in der Pause empört gegangen. Regisseur B.K. Tragelehn musste daraufhin nach Klettwitz in den Braunkohletagebau und Heiner Müller wurde aus dem Schriftstellerverband ausgeschlossen, was einem Publikationsverbot gleichkam. Erst 1963/64 lockerten sich für ihn die Einschränkungen wieder (siehe http://www.bstu.bund.de/DE/Wissen/Publikationen/Publikationen/band-04_drama-um-komoedie.html).

Wenn auch die Höhe des Strafmaßes für sanktionierte Autorinnen und Autoren mit den Jahren sank, so gab es bis in die achtziger Jahre Haftstrafen von zwei bis sechs Jahren, nicht selten nur wegen lautem kritischen Denken und des Verfassens einiger kritischer Prosa- oder Gedichtzeilen. Die Kontinuität der Verfolgung über vier Dekaden DDR-Existenz zeigt sich auch in der Verurteilung der jungen Autorin Gabriele Stötzer-Kachold, die 1977 wegen einer Unterschriftensammlung gegen die Ausbürgerung des DDR-Liedermachers Wolf Biermanns zu einem Jahr Haft verurteilt wurde und diese in dem gleichen Zuchthaus Hoheneck absaß, in dem 25 Jahre zuvor auch Edeltraud Eckert gesessen hatte.

Die Biermann-Ausbürgerung

Den Dichter und Musiker Wolf Biermann hatte die SED-Spitze im November 1976 nach einem Konzert in Köln aus der DDR ausgebürgert, SED und Stasi hatten ihr Vorgehen sorgsam geplant, die Stasi meldete allen Grenzübergangsstellen sogar einen Text, der Biermann beim Versuch einer möglichen Wiedereinreise vorzutragen sein. Biermann war einer der wenigen kritischen Autoren in der DDR gewesen, der schon in der DDR auch das Thema Stasi offen benannt hatte. Bereits in den 60er Jahren hatte er in seiner Stasi-Ballade ironisch getextet: "Menschlich fühl' ich mich verbunden mit den armen Stasi-Hunden die bei Schnee und Regengüssen mühsam auf mich achten müssen". Solche Zeitkritik stieß Parteioberen und MfS heftig auf, Auftrittsverbote waren die Folge: "...ich sitz hier fest darf nach Ost, nicht nach West, darf nicht singen, darf nicht schrein, darf nicht, was ich bin, auch sein - holtet ihr mich also doch eines schwarzen Tags ins Loch ach, für mich wär das doch fast nichts als ein verschärfter nichts als ein verschärfter nichts als ein verschärfter Knast...".

Interner Link: PDF Aus einem Bericht der zentralen Auswertungsgruppe des MfS (ZAIG) an die Parteispitze aus dem Jahr 1971 ergibt sich, dass bereits damals eine Ausbürgerung Biermanns vorgeschlagen wurde

Die am 16.11.1976 vollzogene Ausbürgerung Wolf Biermanns führte zu einem heftigen Einschnitt für Künstler in der DDR. Autorinnen und Autoren, die sich mit ihm solidarisierten, wurden kaltgestellt, protestierende Studenten exmatrikuliert. Der Propagandapparat der SED mobilisierte aber auch Unterstützer der Ausbürgerung, so dass sich andere, staatsnahe Künstler über Biermann empörten (Siehe auch: http://www.bpb.de/geschichte/zeitgeschichte/deutschlandarchiv/146198/kulturelite-im-blick-der-stasi?p=all ).

Das Kahlschlag-Plenum

Die Biermann-Ausbürgerung war aber nicht die erste Zäsur seitens des SED-Staates, Künstlern ihre Grenzen aufzuzeigen. Schon elf Jahre zuvor hatte die SED in ihrem 11. Plenum, dem sogenannten Kahlschlag-Plenum vom 16. bis 18. Dezember 1965 Künstler deutlich gemaßregelt und eine Welle der Zensur von Filmen, Bühnenstücken und Literatur eingeleitet. Auf dem ursprünglich als Wirtschaftsplenum gedachten Parteitag wurden Künstler für Rowdytum unter Jugendlichen und deren Vorliebe für englische Beatmusik verantwortlich gemacht. "Wo ist von Seiten zentraler Organe des Fernsehens, der Kultur, der Literatur so gewirkt worden, dass solche Auswirkungen auf die Jungen unvermeidlich waren" leitete Staats und Parteichef Walter Ulbricht in das Thema ein und wetterte über Künstler, sie dürften "doch nicht denken, dass wir uns weiter als Partei- und Arbeiterfunktionäre von jedem beliebigen Schreiber anspucken lassen, liebe Genossen."

Künstlerische Freiheit wurde abgeschafft und der sozialistischen Ideologie unterstellt, kritische Autorinnen und Autoren wurden ausgegrenzt, Schriftstellerkarrieren wie die von Werner Bräunig, dessen gerade beendeter Roman "Rummelplatz" über den Uranabbau der Wismut nach einem Vorabdruck öffentlich als "unsozialistisch" gegeißelt wurden, endeten abrupt. Ulbricht argumentierte: " Ist jetzt allen Genossen klar, frag ich, dass es nicht um Literatur geht, und auch nicht um höhere Philosophie, ja? Sondern dass es um einen politischen Kampf geht zwischen zwei Systemen. Ich hoffe, dass das inzwischen jetzt klar geworden ist. Also, worum geht es? Um die Gewährung der Freiheiten in der DDR, die in der bürgerlichen Gesellschaft des Westens üblich sind. Aber wir haben viel weitergehende Freiheit Wir haben nur keine Freiheit, also, für Verrückte, ja, ich meine, sonst haben wir absolute Freiheit, nicht wahr ja? Für Konterrevolutionäre haben wir auch keine.“

Die sogenannte Auswertung jenes die Künstler in der DDR scharf reglementierenden Parteiplenums nahm am 20. Januar 1966 auf einer Zentralen Parteiaktivtagung im MfS Stasichef Mielke vor, der u.a. sagte: "So, Genossen, nun steht so die Frage: Diese Abhandlung über Langeweile von Minsk von Heym grenzt objektiv an Staatsverrat. (…) Wenn wir nur einen Tag diesen Menschen die Macht in die Hände gäben, dann wäre die Macht verloren!".

Tatwerkzeug Schreibmaschine

Dieses Misstrauen gegenüber Künstlern hatte bis zum Ende der DDR die planmäßige Aussonderung und Auslöschung kritischer Stimmen möglichst vor der ersten Veröffentlichung zur Folge. Auch Lesekreise wurden gezielt von IM verraten und zersetzt. Das hieß in der Sprache der Staatssicherheit "vorbeugende Verhinderung" oder auch "Liquidierung eines feindlichen Stützpunktes" und es bedeutete, dass literarische Texte als strafrechtliche Beweismittel, Schreibmaschinen als „Tatwerkzeuge“ sichergestellt wurden und "feindliche" Autoren entweder zu Haftstrafen verurteilt oder aber "isoliert", "demotiviert" und "neutralisiert" wurden.

Nicht wenige Autorinnen und Autoren schüchterte das ein. So Horst Schumacher, der nach Krieg und britischer Gefangenschaft als Lehrer in Jena lebte und schrieb, seine literarischen Texte jedoch niemals öffentlich anbot, da er unter den kulturpolitischen Bedingungen der frühen DDR-Jahre von vornherein keine Chance auf Veröffentlichung sah und sich den ideologischen und ästhetischen Normen nicht beugen wollte. Sein Versdrama "Die Niederlage", das zwischen 1952 und 1965 in Jena entstand, verarbeitet die Erfahrungen der Heimkehrer-Generation nach dem Kriegsende, die Hoffnungen auf eine wirklich neue, demokratische Entwicklung und die Enttäuschung über das Hinübergleiten von der ersten in die zweite deutsche Diktatur.

Ebenfalls vollständig in der DDR unveröffentlicht geblieben ist der 1946 geborene und in Greiz lebende Lyriker und Maler Günter Ullmann, der über seine künstlerische Arbeit sagt: "In meinen Gedichten finde ich so etwas wie einen Archetypus, eine metaphysische Formel. Meine Bilder sind Zeichen der Transzendenz." Wie Akten belegen, regelte die Staatssicherheit über ihre konspirativen Verlagskontakte, dass seine Texte nicht gedruckt werden konnten. In einer Selbstäußerung schrieb der Lyriker: "Nach einer Petition zur Ausbürgerung Wolf Biermanns und dem Wegekeln von Reiner Kunze aus Greiz wurde ich in Gera Verhören zugeführt, denen ich psychisch nicht gewachsen war. Ich litt unter Verfolgungswahn, unternahm zwei Selbstmordversuche und musste mich mehrfach in psychiatrische Behandlung begeben. Ich ließ mir alle Zähne ziehen, im Glauben, in meinem Mund seien Wanzen versteckt worden." Bis zur Wende 1989 schrieb Günter Ullmann 14 Buchmanuskripte für die Schublade.

Lückenloser Zensurkomplex

Kontroll- und Verfolgungsmaßnahmen gegen Autorinnen und Autoren wurden in der DDR systematisch organisiert. Die Staatssicherheit postierte an allen wichtigen Stellen des Literaturbetriebes, also in den Verlagen, den Zeitungsredaktionen und den Künstlerverbänden ihre Inoffiziellen Mitarbeiter in sogenannten Schlüsselpositionen. So waren zum Beispiel von 19 Mitgliedern des Präsidiums des DDR-Schriftstellerverbandes im Jahr 1987 zwölf der Staatssicherheit zu Diensten. Hinzu kam das verdeckt arbeitende Zensursystem der DDR mit einer eigens dafür eingerichteten Behörde. Sie aber hieß nicht Zensurbehörde, sondern "Hauptverwaltung für Verlage und Buchhandel", der oberste Zensor hatte den Titel eines stellvertretenden Ministers für Kultur, ließ sich gern "Bücherminister" nennen und das eigentliche Zensurverfahren hieß "Druckgenehmigungsverfahren". Das bedeutete, dass landesweit keine Druckmaschine ohne den offiziellen Druckgenehmigungsstempel anlaufen durfte. Hinzu kam die gründliche Vorzensur in den Lektoraten der Verlage, die Zensur direkt durch die Partei oder durch eine spezielle Gutachtergruppe der Staatssicherheit. Dieser vierfach ausgelegte Zensurkomplex machte die Literaturkontrolle lückenlos, und er funktionierte über die ganzen 40 Jahre der DDR-Existenz.

Lesung in einer Stasi-Dienststelle. Zu Gast ist die ehemals sowjetische Agentin Ruth Werner ("Sonja"), die nach ihrem Ausscheiden aus dem sowjetischen Militärgeheimdienst GRU 1950 in der DDR als Schriftstellerin arbeitete. Ihr eigentlicher Name war Ursula Maria Kuczynski, später Ursula Beurton. (© BStU, MfS HA IX, Fo 1182, Bild 3)

Dazu kamen zahlreiche Denunzianten im Literaturbereich, die sich dem MfS als IM verpflichteten und Decknamen wie "Hölderlin", "Büchner", "Caroline Schlegel", "Schiller", "Goethe" oder gar "Faust" gaben: erhabene Namen für eine schäbige Tätigkeit. Bei der erschreckend hohen Bereitschaft von staatsnahen Schriftstellern, die zumeist freiwillig („auf der Basis der politisch-ideologischen Überzeugung“, wie das bei der Staatssicherheit hieß) mit dem MfS zusammenzuarbeiten, spielte neben niederen Gründen wie Karrieredenken, Neid, Machtstreben und Geltungsbedürfnis die Utopie-Gläubigkeit eine besondere Rolle. Die politische Überzeugung, auf dem rechten Weg zum Kommunismus zu sein, wirkte wie eine ideologische Verzauberung und Selbstverführung und wurde rational begründet als "Einsicht in die Notwendigkeit", die offenbar simple sittliche Regeln außer Kraft setzte. Es war in diesem Denken nicht Unmoral, sondern Ausdruck einer überlegenen, neuen Moral, der sozialistischen, die sich als Klassenmoral im weltweiten Klassenkampf verstand und mithin selbst den Verrat als notwendiges Instrument akzeptierte, um vom "Reich der Notwendigkeit" ins kommunistische "Reich der Freiheit" (Karl Marx) zu gelangen. Diese utopische Verheißung war Teil des Machtmissbrauchs der SED und diente der Begründung der angeblich historisch unvermeidbaren Härten und der zahlreichen Opfer auf dem Weg zum gelobten Endziel, dem Kommunismus.

"Das Buch verdient unsere Verachtung"

Nur zwei Beispiele. Der Lyriker Uwe Berger mit dem Decknamen "Uwe" denunzierte 20 Jahre lang seine Kolleginnen und Kollegen, unter anderen Günter Kunert, Sarah Kirsch, Katja Lange-Müller, Lutz Rathenow, Franz Fühmann und Wolfgang Hilbig. In einem Gutachten für die Staatssicherheit zu einem Roman Klaus Poches schrieb er: "Es wäre sehr falsch, Poches 'Atemnot' in der DDR zu drucken. Der Autor, sein Buch und seine Absicht verdienen unsere Verachtung." Zum Schluss bewertete es den Text sogar als "Vorbereitung der Konterrevolution" - und liefert damit seinen Berufskollegen der Staatssicherheit ans Messer.

Die Germanistik-Professorin Anneliese Löffler wurde vom MfS 1971 unter dem Decknamen „Dölbl" registriert und wird in zusammenfassenden Treffberichten mehrfach als „zuverlässige inoffizielle Quelle" beschrieben, auch ihre Unterschrift als „Dölbl" taucht auf. In einem ihrer Akte zugeordneten Treffbericht vom 18.12.75 über ein Gespräch am 25.11.1975 zwischen „8.30 – 10 Uhr 10" mit einem Stasihauptmann „Reinhardt" heißt es beispielsweise: „Der Rostocker Schriftsteller Martin Stade ist dem IM bekannt. Der IM hat im Zusammenhang mit dem letzten Schriftstellerkongress über das Schaffen von Stade literaturkritisch geschrieben. Da dieses Material überarbeitet werden soll, hat der IM die Möglichkeit, Stade zu einem weiteren Gespräch über sein Schaffen einzuladen. Der IM glaubt, daß Stade die Einladung annimmt und den IM aufsucht. Der IM wird ihn im Verlauf des Gesprächs gut bewirten und nicht mit Alkohol sparen. Eine Abschrift der Einladung Stades übergibt der IM dem Mitarbeiter". (Quelle: BStU, AIM 8396/91 Band II.2 Bl. 96). Laut einem weiteren MfS-Bericht, der „Dölbl" zugeordnet wird, übergab sie auch ein Manuskript über ein Buchprojekt des Autors Martin Stade, dazu notierte der protokollierende und für sie zuständige Stasihauptmann „Tischendorf": „Die Veröffentlichung des vorliegenden politisch-feindlichen Manuskripts als Buch muß unbedingt verhindert werden, erklärte die Quelle". Außerdem werde die Quelle „die Möglichkeit nutzen, den Schriftstellerverband der DDR vom feindlichen Inhalts dieses Manuskripts zu informieren." (Quelle: BStU, AIM 8396/91 Band II.2 Bl. 128). In einer persönlichen Erklärung an die Stasi-Unterlagenbehörde vom 1.9.2014 verneint Frau Löffler allerdings eine bewusste IM-Tätigkeit, bei solchen Treffen habe sie „allein über Probleme der Literatur gesprochen, aber nicht über Privatangelegenheiten von Mitmenschen".

Bestrafte Weitergabe kritischer Literatur

Doch wurden nicht nur die kritischen Schriftsteller "bearbeitet", sondern auch die mündigen Leser, die sich nicht offiziell zugängliche Literatur zur Lektüre besorgten. Allein die Weitergabe unbotmäßiger Literatur wurde mit Haft bestraft. So verurteilte das Bezirksgericht Karl-Marx-Stadt im Oktober 1978 einen jungen Theologen, der vier Freunden Georg Orwells "1984" ausgeliehen hatte, wegen „staatsfeindlicher Hetze“ zu einer Freiheitsstrafe von zwei Jahren und vier Monaten. 1981 wurde gegen die junge Autorin Annegret Gollin folgende Anklage erhoben: „Die G. beging öffentliche Herabwürdigung, indem sie zwölf selbstgefertigte Schriften in Versform sowie die Schriften `Die wunderbaren Jahre`, `Zimmerlautstärke`und `Sensible Wege`von Kunze, die ihrem Inhalt nach geeignet sind, die staatliche Ordnung der DDR, staatliche Organe und Einrichtungen, gesellschaftliche Organisationen sowie deren Tätigkeit und Maßnahmen verächtlich zu machen, als Abschriften bzw. Fotokopien in einem Fall Ende 1978 und in fünf Fällen ab August 1979 an insgesamt fünf Personen verbreitete.“

Auch wurden zahlreiche literarische Freundeskreise, die sich in ihren Wohnungen schwer oder gänzlich unzugängliche Literatur vorlasen und darüber diskutierten, durch gezielt eingesetzte IM beobachtet, unterwandert, politisch entschärft und "zersetzt", also zerstört (Beispiele dazu im angefügten Text "Entschärfen, Entpolitisieren, Entsolidarisieren - Die Rolle von Szene-IM am Prenzlauer Berg aus der Aufarbeitungszeitschrift Horch und Guck).

"In der polizeilichen Öffentlichkeit"

Vielen Schriftstellern wurde aber erst nach dem Untergang der DDR bewusst, wie intensiv die Stasi über ihr Leben und ihre Manuskripte wachte. In einem Interview aus dem Jahre 2001 mit SPIEGEL ONLINE schilderte das DDR-Schriftsteller-Ehepaar Stefan und Inge Heym seine Erkenntnisse aus den Stasiakten:

Stefan und Inge Heym über ihre Erkenntnisse aus den Stasiakten

"Inge Heym: Das war schon sehr ernst, was wir erlebt haben, aber manchmal auch ein bisschen wie ein Spiel. Man musste sich ständig überlegen, was man tut.

SPIEGEL ONLINE: Weil die Stasi versuchte, Keile zwischen Sie zu treiben?

Inge Heym: Das ist in deren Maßnahmeplänen sogar richtig formuliert: "Auseinandermanipulieren der Ehe. Zersetzung der Beziehung". Es war ja nicht so, dass unsere Ehe immer harmonisch war. Wir hatten auch Krisenzeiten und Streitigkeiten. Aber da musste man sich immer wieder überlegen: Wer hätte denn davon profitiert, wenn wir uns getrennt hätten? Dann hätten wir ja gemacht, was die wollten, und die haben das ja auch bei vielen geschafft.

SPIEGEL ONLINE: Hatten Sie geahnt, wie nah die Stasi an Ihre Lebenswege herantrat, Herr Heym?

Stefan Heym: Mein Gott, ganz dicht! Die haben den Schlüssel gehabt zu meinem Schreibtisch, den Schlüssel zu meinem Safe, den Schlüssel zu unserem Haus. Und wenn wir verreist waren und zurückkamen, konnte man sehen und spüren, dass Leute da gewesen waren und sich umgeschaut haben.

Inge Heym: Aber damals hat er das nicht geglaubt, wie dicht die uns an die Haut kamen, dass wir sie praktisch unter der Haut hatten. Gerade Leute, die mir hier im Haus halfen, im Haushalt, die waren von der Stasi angeheuert.

Stefan Heym: Als wir unsere Akten einsehen konnten, zu denen jetzt schon wieder neue Bände dazugekommen sind, waren kartonweise auch Fotos dabei. Die haben alles im Haus fotografiert, jede Tasse im Schrank, jeden Buchrücken und natürlich die Menschen, die hierher kamen oder zu meinem Geburtstagsfest in einem Restaurant. Man lebte in einer ganz merkwürdigen Öffentlichkeit, einer polizeilichen Öffentlichkeit."

Zu DDR-Zeiten nur Andeutungen über die Stasi in der Literatur

Angesichts der hohen Präsenz der Staatssicherheit im Alltagsbewusstsein der DDR-Bürger beschäftigten sich zwar viele Autorinnen und Autoren mit dem Thema Stasi, aber in der offiziell veröffentlichten DDR-Literatur kam sie relativ selten vor, und wenn, dann entweder in heroisierender Weise oder aber in kryptisch verschlüsselter Form. So bei Hermann Kant, langjähriger Präsident des DDR-Schriftstellerverbandes und selbst als IM „Martin“ im Dienste der Staatssicherheit, der in dem 1965 erschienenen Roman „Die Aula“ in der Figur des „Quasi‘“ Riek mit seiner nonchalanten Schreibweise einen sogenannten Kundschafter der Hauptverwaltung Aufklärung in Hamburg mehr verrätselt als darstellt. 1975 erschien in der Literaturzeitschrift „Sinn und Form“ Volker Brauns „Unvollendete Geschichte“, in der die Tabus Stasi und Republikflucht thematisiert wurden. In Christa Wolfs 1983 erschienener Erzählung „Kassandra“, einem Stoff aus den Zeiten des Trojanischen Krieges, wird die Figur des Eumelos, Chef der trojanischen Palastwache, literarisch genutzt, um Analogien zum Überwachungsapparat der Staatssicherheit anzudeuten. Das umfangreiche Wirken der Staatssicherheit im Innern konnte lediglich in einigen kürzeren Texten angespielt oder in historischen Stoffen versteckt werden, um die Zensur möglichst zu umgehen. Die weitgehende Abwesenheit der Staatssicherheit in der veröffentlichten DDR-Literatur ist auch damit erklärbar, dass die DDR-Staatssicherheit bis 1989 ein streng konspirativ operierender Militärapparat war, dessen Wirken zu den ehernen Tabus gehörte wie die Verbrechen des Stalinismus oder die Zahlen und Schicksale der politischen Häftlinge in der DDR.

Dennoch wurde sie zum Gegenstand von Literaten, die ihre in der DDR darüber angelegten Manuskripte aber nur im Westen veröffentlichen konnten. So veröffentlichte der 1977 aus der DDR-Bürgerschaft entlassene Hans Joachim Schädlich 1986 im Westen den Roman "Tallhover", die fiktive Biografie eines politischen Polizeibeamten durch alle deutsche Staaten, auch der DDR.

Der Autor und Psychologe Jürgen Fuchs gibt in seinem Buch Vernehmungsprotokolle die Stasi-Verhöre aus der Zeit seiner Inhaftierung in der DDR wieder. Fuchs war 1975 in Jena aufgrund seiner Texte und Künstlerkontakte zwangsexmatrikuliert worden und wurde am 19. November 1976 nach Protesten gegen die Ausbürgerung des Liedermachers Wolf Biermann wegen „staatsfeindlicher Hetze“ verhaftet. 1977 wurde er nach West-Berlin abgeschoben - und auch dort noch von der Stasi überwacht. Das MfS beschaffte sich sogar einen Zweitschlüssel zu seiner Wohnung in Tempelhof, ließ 1986 einen Sprengsatz vor seiner Wohnung detonieren und sabotierte die Bremsschläuche seines Autos. Aus Stasi-Akten ergibt sich, dass auch die Installation einer radioaktiven Quelle in Fuchs' Wohnung erwogen wurde.

Noch mehr Texte über die Stasi erschienen nach dem Untergang der DDR und dem Bekanntwerden des bislang Geheimgehaltenen. Von Hans Joachim Schädlich folgten 1992 "Aktenkundig" und "Über Dreck, Politik und Literatur" sowie 1998 sein "Trivialroman", alles Texte, die sich essayistisch, dokumentarisch oder satirisch mit der Staatssicherheit befassen. Nach der Einsicht in ihre Stasi-Akten erschienen 1990 "Deckname Lyrik" von Reiner Kunze, der 1976 nach Erscheinen seines im Westen erschienenen systemkritischen Buches "Die wunderbaren Jahre" aus dem Schriftstellerverband ausgeschlossen und ebenfalls 1977 ausgebürgert worden war, und 1991 "Die Stasi ist mein Eckermann oder: mein Leben mit der Wanze" von Erich Loest, der 1957 zu siebeneinhalb Jahren Zuchthaus verurteilt und 1981 ebenfalls in den Westen gedrängt worden war. In dem 1993 veröffentlichten Roman "Ich" von Wolfgang Hilbig, der 1985 nach Repressalien und Zensur ebenfalls die DDR verließ, steht ein für die Staatssicherheit arbeitender Lyriker im Mittelpunkt.

Nachhaltig hat für viele dieser Autoren die eigene Erfahrung mit der Stasi das literarische Werk geprägt. Der 1976 aus der DDR ausgereiste Schriftsteller Thomas Brasch verarbeitete beispielsweise die Erfahrung mit seinem eigenen strengen Vater Horst Brasch, der zeitweise stellvertretender DDR-Kulturministers war. Er verriet seinen Sohn 1968 an die Stasi, nachdem der seinem Vater gestanden hatte, Flugblätter gegen den sowjetischen Überfall auf die Tschechoslowakei gedruckt und verteilt zu haben. Thomas Brasch erhielt in einem Eilprozess eine Haftstrafe zu zwei Jahren und drei Monaten Haft, wurde aber im Folgejahr auf Bewährung entlassen. Der Dramatiker Heiner Müller verarbeitete Braschs Schicksal später in seinem Bühnenstück Wolokolamsker Chausse V. (Siehe auch: http://www.berliner-zeitung.de/von-den-frauen-geliebt--von-der-stasi-ueberwacht-und-vom-eigenen-vater-angezeigt--der-dichter-thomas-brasch-und-das-jahr-1968-der-unbeugsame-15463304 )

Generell gilt der Prager Frühling 1968 als eigentlicher Beginn der totalen geheimpolizeilichen Ausspähung und Indienstnahme des DDR-Kultur- und Literaturbetriebes. Die DDR-Machthaber fühlten sich in ihrer Angst vor Künstlern und Schriftstellern bestätigt, die sie als Initiatoren der „Konterrevolution“ ausgemacht hatten. Daher forderte Stasi-Chef Mielke - unmittelbar nach dem Einmarsch der Sowjets in Prag - mit einer Dienstanweisung (Nr. 610 vom 25. August 1968) aus allen Bezirken binnen vier Tagen Berichte über Redakteure, Theaterleute, Schriftsteller, Künstler und Sänger der Republik. Das Ergebnis der Mielke-Anfrage fiel allerdings unbefriedigend aus. Und auch die Analyse der MfS-Hauptabteilung XX vom Januar 1969 für das zurückliegende Krisenjahr zeigte, dass die Geheimdienstler für eine Bekämpfung der "politisch-ideologischen Diversion" unter den Künstlern ungenügend gerüstet waren. Der Mielke-Befehl vom 18. Juni 1969, in der Hauptabteilung XX eine spezielle Diensteinheit zur Kontrolle der Intellektuellen einzurichten, war denn auch eine unmissverständliche Reaktion auf dieses Informationsdefizit. Die "Abwehrarbeit auf dem Gebiet von Kunst und Kultur" galt fortan als "Schwerpunktbereich" des MfS. Die nun gegründete Abteilung XX/7 tüftelte sofort neue, intensivere Überwachungsmethoden aus. Vor allem die Mitarbeiter des Referats IV widmeten sich hingebungsvoll der operativen Arbeit gegen einzelne Autoren. Gegen Wolf Biermann begann der Operativvorgang (OV) Lyriker, gegen Stefan Heym der OV "Diversant".

Samisdatliteratur – Ein U-Boot der Stasi zur Szenekontrolle?

Eine Sonderstellung nimmt die alternative Literaturszene in der DDR ein, die sich Mitte/Ende der siebziger Jahre zunehmend als system- und sprachkritische Gegenöffentlichkeit im gesellschaftlichen Untergrund etablierte. Deren Texte überschritten strukturell und semantisch die Grenzen des bisher in der DDR Geschriebenen. Außerdem gab es eine interdisziplinäre Kooperation innerhalb der subkulturellen Szene (Punk, Grafik, Malerei, Theater, Mode, Fotografie).

Die alternative literarische Szene teilte sich in die subversiv-apolitischen und die subversiv-systemkritischen Autoren. Während die einen aus dem gesellschaftskritischen Diskurs ausstiegen und ihre artifiziellen Sprachexperimente zum Programm erhoben, zum teil ermuntert von der Stasi, hatten die anderen einen politischen, die Gesellschaft sprengenden Anspruch, weshalb bei ihnen auch Texte zu finden sind, die den flächendeckenden Kontrollwahn und die Überwachung durch die Staatssicherheit thematisierten.

Die Spaltung und „Neutralisierung“ der Szene wurde von der Staatssicherheit aktiv betrieben. Sie hatte 1981 eigens für die „politische Untergrundtätigkeit“, zu der sie auch die alternative Literatur zählte, die Hauptabteilung XX/9 mit einem spezialisierten Referat gegründet, das nicht mehr auf das Zerschlagen von alternativen Gruppen und das Verbot ungenehmigter Publikationen zielte, sondern die raffinierte Methode der„Umprofilierung“ entwickelte. Das bedeutete, dass die Staatssicherheit Spitzen-IM in sogenannten Schlüsselpositionen installierte (in der Prenzlauer-Berg-Szene beispielsweise die Autoren Sascha Anderson und Rainer Schedlinski), die die Aufgabe hatten, detaillierte Informationen zu liefern und die künstlerische Programmatik der Szene zum Apolitischen, rein Ästhetischen umzuformen oder eben „umzuprofilieren“. Das gelang ihr allerdings nicht in vollem Umfang, weshalb man auch nicht von einer totalen Simulation der alternativen Szene durch die Staatssicherheit sprechen kann.

Ausschnitt aus dem Auftrag an einen Stasi-IM. Der Lyriker Sascha Anderson soll am 4.6.1982 eine Szene-Lesung in der Dresdener Obergrabenpresse "unter Kontrolle halten" und dokumentieren. (© Bürgerkomitee 15. Januar e.V.)

Autoren wie Uwe Kolbe, Lutz Rathenow, Jan Faktor oder Gabriele Stötzer, die sich auch in der Tradition von Franz Fühmann, Wolf Biermann und Bettina Wegner sahen, verteidigten ihre systemkritische und gesellschsaftsverändernde Positionierung, weshalb sie verstärkt ins Visier der Staatssicherheit gerieten. IMs, wie Sascha Anderson dienten dazu, sie an den Rand der Wahrnehmung zu drücken. Gabriele Stötzer schreibt im Jahr 2000 in der Aufarbeitungszeitschrift Horch und Guck: "Ich wehre mich auch gegen das Bild, das die Stasi-IMs und nicht nur Sascha von mir systematisch entwickelt haben. Das Bild, das ich auch heute nicht loswerde, das einer hysterischen, schrägen, unberechenbaren peinlichen Frau, mit dem ich als Person unmöglich gemacht wurde und was noch schlimmer ist, meine künstlerische Qualität vernichtet und ignoriert wurde...".

Taktisch vorgetäuschte Öffnung 1971

Zusammenfassend ist festzuhalten, dass der Freiraum einschränkende, zensierende und repressive Zugriff auf die Literatur über die 40 Jahre der DDR-Existenz trotz methodischer Modifikationen und kulturpolitischer Schwankungen immer gegeben war, selbst in Zeiten vorgeblicher Liberalisierung, wie es sie vorübergehend nach der Absetzung von Partei- und Staatschef Walter Ulbricht gab. Sein Nachfolger Erich Honecker hatte zunächst Hoffnungen auf eine Liberalisierung geweckt und sprach nach seiner Inthronisierung in einer Rede vor dem ZK der SED im Dezember 1971 den ebenso verheißungs- wie verhängnisvollen Satz: „Wenn man von der festen Position des Sozialismus ausgeht, kann es meines Erachtens auf dem Gebiet von Kunst und Literatur keine Tabus geben.“

Doch was für die Hoffnungsgläubigen nach Liberalisierung und Öffnung aussah, war für die Partei lediglich eine taktische Variante, um nach innen ihre kulturpolitische Leitfunktion zu stabilisieren und nach außen in besserem Licht zu erscheinen. Stasi-Chef Erich Mielke stellte wenig später intern - in einer als geheime Verschlusssache klassifizierten Rede - vor seinen Offizieren klar (Mielke-Referat 390/72): "Es geht also um keine 'neue Kulturpolitik', um keine 'liberale Welle', um keine Aufgabe des Klassenstandpunktes in Fragen der Kultur und Kunst, vielmehr kommt es darauf an, die sich uns jetzt bietende Gelegenheit zu nutzen, um weitgehend Aufschluss über die politisch-ideologische Grundeinstellung der uns interessierenden Personenkreise zu erhalten." Solche Doppelstrategien setzten sich fort. Auch, als 1988 Glasnost und Perestroika in der Sowjetunion dazu führten, dass in der DDR immer lauter eine überfällige Öffnung der Kulturpolitik und Abschaffung der Zensur gefordert wurde und liberalere SED-Kulturpolitiker andeuteten, dass etwas in Bewegung komme. Doch auch dies erwies sich nur als ein taktisches Täuschungsmanöver. In einer internen Information der Staatssicherheit aus dem Jahr 1988 steht zu lesen, es seien beispielsweise Überlegungen angestellt worden, "in welcher Weise das Druckgenehmigungsverfahren verändert bzw. zeitlich verkürzt werden könnte, ohne die staatliche Aufsicht und Entscheidungsbefugnis einzuschränken". Weiter hieß es allerdings auch, dass nicht vorgesehen sei, diese Überlegungen zur Diskussion zu stellen. Sollte dennoch in der Öffentlichkeit darüber diskutiert werden, so würden "sofort Untersuchungen und strenge disziplinarische Maßnahmen" eingeleitet.

Ein Jahr später machte die Friedliche Revolution die Abschaffung der Zensur überflüssig, in dem sie die DDR-Diktatur im Ganzen abschaffte.

Entpolitisieren, Entsolidarisieren, Kontrollieren.

Wie die Stasi versuchte, einen neuen Biermann zu verhindern. Die Rolle von Szene-IM wie Sascha Anderson oder Rainer Schedlinski am Prenzlauer Berg. Von Holger Kulick

Die DDR-Künstlerszene am Prenzlauer Berg war der Stasi spätestens seit Wolf Biermann als Unruheherd unheimlich geworden und viele Stasiakten deuten darauf hin, dass mit allen Mittel verhindert werden sollte, dass hier ein zweiter, unbeherrschbarer Biermann heranwachsen könnte. Gezielt wurden sogar IMs angeworben, dorthin zu ziehen. So erging es einem Leipziger Uniabsolventen im Bereich Journalistik, den die Stasi 1975 nach seinem Studium aufsuchte und bat, in den Prenzlauer Berg zu ziehen um ein Buch zu schreiben mit bestimmten Szenefiguren. Damit sollte er sich einen Namen machen um zu einem Kristallisationspunkt zu werden. X lehnte jedoch ab, was ihm fortan nur Schwierigkeiten bringen sollte.

Zu dieser Zeit stieß die Stasi in Dresden auf den kunstinteressierten Freiwilligen in ihren Reihen, Sascha Anderson, dem es durch seine Aufgeschlossenheit einfach fiel, in Künstlerkreise einzudringen. Ein Glückstreffer für die Stasi, genauso wie in im Juni 1979 der damals 23jährige Rainer Schedlinski in Magdeburg. Dieser, das sagt zumindest seine Stasiakte aus, hatte den Behörden anonyme Post gemeldet, die sich in seinem Hausbriefkasten fand, umgehend ließ die Stasi über zuverlässige ‚Nachbarn’ ausforschen, ob Schedlinski generell als zuverlässiger Informant eingesetzt werden könnte. Bald wurde er als »kontaktfreudig und aufgrund seines Äußeren geeignet, operativ-interessante Verbindungen herzustellen« begutachtet, freiwillig geworben und mauserte sich schnell zum »wertvollen IM zur Durchdringung feindlich-negativer und dekadenter Personen«. Dafür erhielt er laut Stasiakten zunächst in unregelmäßigen Abständen, etwa an Nationalfeiertagen, zwischen 100–300 Mark Prämien und ab Dezember 1985 regelmäßig 400 DM, zu diesem Zeitpunkt übernahm ihn die gleiche Berliner Abteilung, die bereits Sascha Anderson betreute, etwas besser bezahlt mit bis zu 500 DM im Monat.

Stasi-Künstler mit willkommenem Kontakt zum politischen Untergrund

Schedlinskis Salär wurde, so ist es in seiner Akte nachlesbar, wie folgt begründet: »Durch seine Beteiligungen an illegalen Ausstellungen und anderer Veranstaltungen erhält er Kontakt zu Personenkreisen des politischen Untergrunds sowie im geistig-kulturellen Bereich. Durch seine eigene literarische und journalistische Tätigkeit und die Veröffentlichung in sogenannten Untergrundzeitschriften hat er sich im politischen Untergrund fest verankert.« Er wurde extra dazu angehalten, regelmäßige Treffs mit der Untergrundszene wahrzunehmen und zu »ständigen Besuchen des Wiener Cafes« aufgefordert, einem der zentralen Treffpunkte der Jungkünstler in der Schönhauser Allee. »Der IM wurde beauftragt, sich zielgerichtet weiterhin in diese Gruppe zu integrieren um den Kontakt zu Opitz und Endler auszubauen«, wurden im Mai 1984 auch Namen genannt. Seine Aufträge umfassten ein breites Geheimdienstrepertoire. Plante die Stasi »operativ technische Maßnahmen (so am 16.5.86 gegen den Nachwuchsautoren Rüdiger Rosenthal) zu realisieren, schien es selbstverständlich für Schedlinski, die »Suche nach einer Möglichkeit zur Bindung Rosenthals« zu betreiben. Freundesverrat schien auch ihm keine Probleme zu bereiten, zum Beispiel, als es darum ging, im Januar 1986 Lutz Rathenow eine kleine Gefälligkeit zu tun: »Im Zusammenhang mit der Wohnungsangelegenheit Rathenow wurde ‘Gerhard’ dahingehend instruiert, bei der Renovierung unbedingt mitzuhelfen. Er hatte keine Scheu, gegebenenfalls von den Wohnungsschlüsseln Abdrücke zu fertigen«. Rathenow kann sich heute tatsächlich an die überraschende Hilfsbereitschaft seines Schriftstellerkollegens erinnern. Solcherart Schlüsselbeschaffung schien für IMs selbstverständlich zu sein, auch Anderson bot das laut seinen Akten mehrfach an, etwa in seiner Dresdener Zeit laut einem Bericht über den Dresdener Autor Uwe Hübner: »Schlüssel oder so was zu diesen Wohnungen oder zumindest sehen, wie diese Wohnung erreichbar ist oder wie man in diese Wohnung kommt ist mir möglich...«.

»Reaktionen und Absichten feststellen«

Den Künstlern misstraute die Stasi in jeder Beziehung, deshalb sollte IM Gerhard auch auf politische Vorhaben acht geben. So heißt es am 24.9.85 »Auftragsgemäß hatte Gerhard im Umfeld sogenannter Nachwuchskünstler versucht, Reaktionen, Pläne und Absichten im Zusammenhang mit dem Brandt-Besuch festzustellen. Es gab jedoch keine Hinweise auf ein Interesse an diesem Besuch und somit keine geplanten Störmanöver.« Während des Brandt-Besuchs soll der IM dennoch für Vorsichtsmaßnahmen sorgen: »Bei Bekanntwerden von Lesungen bzw. anderen Zusammenkünften des operativ relevanten Personenkreises zu den neuralgischen Zeiten Teilnahme und Einladung weiterer Personen, um so eine zeitliche Bindung zu erreichen.« Schedlinski berichtete ähnlich gründlich und sachlich, wie Anderson, seine etwas zurückhaltendere Art machte der Stasi aber Kopfzerbrechen. So vermerkt ein Treffbericht vom 26.9.85: »Der Treff wurde u.a. dazu genutzt, um ihm Wege und Möglichkeiten aufzuzeigen, in der ‘Szene’ stärker in Erscheinung zu treten«. So soll er »stabile Brücken« zu mehreren namentlich genannten Künstlern bauen, »um sie jederzeit anlaufen zu können«. Ferner heißt es: »Gerhard wurde angeraten, seine Stärken in der theoretischen Arbeit mehr zur Geltung zu bringen und seine Zurückhaltung abzulegen.« Ein »theoretisches« Heft, das es zu konzipieren galt, sollte ein Mittel dazu werden.

Illegale Zeitschriften – von der Stasi instrumentalisiert

Am 28.Januar 1986 teilte Schedlinski mit, dass das »rein essayistische Heft« unter dem Titel Ariadnefabrik alle 2 Monate erscheinen werde. Namentlich berichtete er, wer die Vervielfältigung, das Buchbinden und die Siebdrucke übernahm, so entstand ein von oben legalisiertes Untergrundblatt. Auch wurden andere literarische Zeitschriften von Schedlinski umgehend »zur operativen Auswertung« an die Stasi weitergeleitet, eigene Texte übergab er zum Teil vor der Veröffentlichung. Die Zeitungen gaben eine prima Legende für den Spitzel ab und wurden diesbezüglich sogar instrumentalisiert. So erging am 3.6.85 eine Stasi-Order: »Aufsuchen des Jansen in der Wohnung unter der Legende der Vorbereitung eines neuen Hefts der Serie ‚Schaden’. Dabei Feststellung der Lebensweise des J. sowie seiner Wohnungseinrichtung« .Veröffentlichungen des IMs waren in den Stasi-Augen sogar nutzbringend. Bereits im März 1983 hatte der Westberliner Kunsthistoriker Ekkehard Gillen Schedlinski angefragt, in einer seiner Fachzeitschriften zu veröffentlichen. Als Schedlinski sich beim Führungsoffizier rückversicherte, wie er sich verhalten soll, erhielt er die beruhigende Antwort, dass ihm dies »keine Nachteile bringt«, im Gegenteil:1». Durch seine Veröffentlichung bekommt er zwangsläufig Referenzen und wird weitergereicht, er kann sich dadurch profilieren und seine Stellung festigen, er wird für westliche Kreise interessant und hat die Möglichkeit, zu westlichen Einrichtungen Kontakte zu knüpfen, die das MfS später an die Pläne und Absichten dieser pseudo-kulturellen Einrichtungen und sog. Institute heranzuführen...«. Für alle Fälle gab es einen Rückzugstipp: »Sollte Veröffentlichung Form annehmen, die ihn mit den Gesetzlichkeiten in Konflikt bringen, sollte er legendiert folgende Begründung für sein ‘gemäßigtes’ Arbeiten geben: Er hat nicht die Absicht, dass durch derartige Veröffentlichungen die Staatssicherheit oder andere staatliche Organe auf ihn und somit auch auf Dietrich Bahß [den im Aufsatz behandelten Künstler – Anmerkung der Redaktion] aufmerksam werden und ihn oder Dietrich Bahß den Anstrich eines politischen Untergrunds zu geben, so dass die Magdeburger Szene im Blickfeld steht und weitere Aktivitäten erschweren wird«.

Die Devise: bloß nicht politisch werden. Auch als Schedlinski 1988 erstmals zu einem Interview mit (mir) für KENNZEICHEN D verabredet war, versicherte er laut Stasiakten schon im Vorfeld seinen Führungsoffizieren: »Schedlinski beabsichtigt nicht mit gegen die DDR gerichteten Aussagen aufzutreten, Rücksprache wollte er noch halten...«.

»Zersammlung« – wie ein Bund unabhängiger Autoren platzte

Entpolitisierung der Szene war offensichtlich eine der Hauptaufgaben von IMs wie Schedlinski oder Anderson. Wie gut das funktionierte, belegen Berichte, die Schedlinski von der »Zersammlung« im März 84 gibt, einem mehrtägigem Autoren-Treffen der nachwachsenden Schriftstellergeneration in Privatwohnungen am Prenzlauer Berg. In den abendlichen Lesungen und Debatten ohne Publikum sollten Wege zur Selbstverständigung gefunden werden, wie nicht veröffentliche Autoren Verlage finden könnten und wie untereinander bei Sanktionen solidarisch gehandelt werden kann. Viele hatten es satt, offiziell nur als »Pseudokünstler« bezeichnet zu werden und von offiziellen Verlagen ausgegrenzt zu werden. Als Folge der Treffen schlug Uwe Kolbe die Gründung eines Bundes unabhängiger Schriftsteller vor. Seine Absicht, so berichtete Rainer Schedlinski am 9.5.84 war es, »zum Einen, ein soziales Absicherungsnetz zu schaffen, z.B. mit einer gemeinsamen Kasse um Autoren in sozial unsicheren Verhältnissen zu helfen, und auf der anderen Seite, um ein Informationsnetz zu schaffen, für den Fall, dass jemand verhaftet wird oder in einer anderen Art mit den Sicherheitsorganen in Konflikt gerät. Das heißt, dass in diesem Fall durch Anderson oder Elke Erb ein Verlag in der BRD benachrichtigt wird, mit der Bitte, eine Öffentlichkeit herzustellen (in westlichen Medien)«. Aber Schedlinski konnte seine Dienstherren beruhigen und berichtete, dass Anderson richtig funktioniert hat: »In der Diskussion wurde betont, dass es einer Gründung dieses Bundes nicht bedarf, sondern die Zusammenarbeit untereinander mehr in den Vordergrund treten muss. Dazu gehörten Sascha Anderson und Bert Papenfuß.«

Pflegeleichte Autoren: nach der Zähmung hoffähig geworden

Der Autor Jan Faktor erinnerte sich später, wie Anderson damals Kolbes Vorschlag ins Lächerliche zog und stattdessen eine gemeinsame Busfahrt in den Harz vorgeschlagen habe, um sich gegenseitig Texte vorzulesen. Auch diese Idee findet sich in einem Stasiprotokoll wieder. Die ernsthafteren Autoren hätten dann kopfschüttelnd die Runde verlassen. Auch Uwe Kolbe resümierte Anfang der 90ger Jahre im Blick zurück, dass vor allem Anderson das Scheitern der Idee verursachte, »so wurde aus der Zersammlung eine vertane Chance, ein niedlicher Kindergarten.« Auf diese Weise wurde den Autoren etliches von ihrer potentiellen Wirkungsmöglichkeit genommen und es wuchs eine immer ungefährlichere, unpolitische Schriftstellerschar heran. Am 19.4.86 konnte Schedlinski beispielsweise beruhigen: »Die Gruppe sogenannter Nachwuchskünstler zeigt keinerlei Interesse am Parteitagsgeschehen, sie hält sich überwiegend im Wiener Cafe auf und macht sich über die Sicherungsmaßnahmen in der Schönhauser Allee lustig.«

Szene-IMs wie Anderson und Schedlinski wurden also Garanten für zurückhaltendes Auftreten der Autoren auf die sich die Stasi auch in heiklen Situationen verlassen konnte. So wird in einer Stasiakte am 14.5.86 festgehalten: »Im Zusammenhang mit der geplanten Ausstellung sogenannter Kunstzeitschriften in der Samariterkirche wurde Gerhard beauftragt, keine eigenständigen Aktivitäten zu entwickeln und auf eventuelle staatliche Maßnahmen gegenüber anderen Personen zurückhaltend zu reagieren«. Eigentlich wusste der Staat aber zu diesem Zeitpunkt bereits, dass er diese Autoren nicht mehr fürchten brauchte, die kritischsten Geister waren inzwischen ausgereist so dass nun eine Lockerung beginnen konnte. Nun durfte der Verlagsfunktionär Elmar Faber am 14. Mai 1986 neun der Autoren im Aufbau-Verlag empfangen, um Veröffentlichungen zu planen – auch um den einsetzenden Mythos der jungen literarischen Bewegung für den Staat nutzbar zu machen. So zitiert Schedlinski Papenfuß: »Im Verlauf des Gesprächs sagte Papenfuß zu Faber, dass durch den Stau der Autoren, der in den letzten Jahren entstanden ist, sich diese Autoren damit abgefunden haben, nicht zu veröffentlichen. Durch diese Nichtveröffentlichung hat sich eine bestimmte Qualität, eine Art Mythos entwickelt. Viele Autoren können ganz gut damit leben, dass sie nicht unter Veröffentlichungsdruck stehen«.

Die Stasi selbst hatte zu diesem Zeitraum auch ihr abschätziges Vokabular gegenüber den Autoren abgelegt: zunehmend war nun von »Nachwuchsschriftstellern« die Rede, weniger von »Feinden des Sozialismus« wie noch in der ersten Hälfte der 80ger Jahre.

Urangst der Stasi: Subkultur als Instrument des Klassenfeinds?

Mit Datum vom 3.10.83 liegt der Anderson-Akte beispielsweise eine aufschlussreiche Stasi-Einschätzung der Zeitschrift Mikado bei, die auf den Punkt bringt, welche Ängste zunächst vor diesen Autoren herrschten, denen regelrechte Strategien gegen den sozialistischen Staat unterstellt wurden, sie belegt, was Detlef Opitz später einmal resümierte, dass die Stasi die Szene vom Prenzlauer Berg restlos überschätzte, »für uns war das ungewollte Hochstapelei«. Den illegalen Zeitschriften wurde folgendes zugetraut: »Die in der "Samisdat"-Methode nachgeahmte nummerierte Blattheftung ...trägt in der vorliegenden Ausgabe 2/83 das auffallende Merkmal einer lockeren, “zufällig” erscheinenden Konzeption und Planung des Inhalts. Vermutlich handelt es sich hier um die gleiche Methode, die nach 1965 in der UdSSR, ÈSSR, VR Polen praktiziert worden ist, zuerst den sogenannten ‚Freiraum’ solcher nicht legaler Veröffentlichungen auszutesten und dabei die ‚Reizung’ der Staatsorgane auf einer zunächst niedrigen Stufe anzusetzen, wie es in den Weisungen der psychologischen Kriegsführung des Klassengegners auch empfohlen wird. Damit wird auch der Effekt erzielt, ‚vorsichtige’ potentielle Mitschreiber nicht zu früh abzuschrecken, sondern allmählich an diese Veröffentlichungsform heranzuführen, um erst dann zur Kernbildung überzugehen. Das Wesen ist also eine taktische Sammlung und Schaffung von Möglichkeiten, mit einem Minimum an technischen Mitteln im geeignet scheinenden Moment operativ auch sogenannte ‚Große Fragen’ im antisozialistischen Sinne aufzuwerfen, dass die einzelne Folge nicht isoliert zu betrachten ist, sondern als rasch steigerungsfähiges, feindliches Potential.« Dabei würde die Staats- und Rechtsordnung der DDR durch »Verbreitung allgemeiner Unzufriedenheit, von Angstgefühlen, Misstrauen, sogenannten alternativen Vorschlägen für ein Sub-Kultur, die im Gegensatz zur sozialistischen Kultur- und Kulturpolitik steht«, angegriffen.

Was der Staat also fürchtete, war eine zusammenwachsende, wache Szene, genauso, wie einzelne, die sich hervortun könnten. In diesem Zusammenhang etwa spielte Anderson einen Feuermelder, zum Beispiel auch, um vor besonders eigenwilligen Künstlern zu warnen, so am 18.8.82 laut einem Tonbandprotokoll vor dem damals eigenwilligen Thomas Rößler: »...Rößler schreibt eine aggressive und gegen die DDR gerichtete Literatur. Er hat vor, sich der Dresdner Musikbrigade fest anzuschließen und auch seinen Wohnsitz in Dresden zu nehmen. Ich schätze ein, dass mit Rößler ein Vertreter der oppositionellen Literatur und ein Verfechter des harten Kurses nach Dresden kommt, mit dem es auf jeden Fall Ärger geben wird. Da ich auch seine eigene Literatur nicht schätze, werde ich die Möglichkeit des Einflusses meinerseits auf die Mitglieder der Dresdener Musikbrigade nutzen, um von der festen Anbindung an diese Formation abzuraten und auf jeden Fall vor einem festen Wohnsitz in Dresden zu warnen«. Solche Hinweise sind es immer wieder, die es der Staatssicherheit in ihren Maßnahmeplänen ermöglichen »geeignete politisch-operative Maßnahmen, um vorbeugend politische Provokationen zu verhindern« einzuleiten.

Gegebenenfalls wurde die beschleunigte Ausreise von kritischen Künstlern veranlasst, die in der Regel nach und nach Ausreiseanträge stellten. Am 29.3.84 warnte Anderson beispielsweise davor, dass »am 10.Mai, das ist in den DDR-Kalendern der Tag des freien Buches der Maler Helge Leiberg den ganzen Tag in seinem Atelier eine Veranstaltung« plant, wo von Künstlern »ein einzelnes Buch hergestellt wird...aus Anlass des Tags des freien Buchs«. Die gezogenen Konsequenzen lesen sich in den Aufzeichnungen Major Heimanns vom 6.6.84 so: »Helge Leiberg hat am 7.Mai seinen Laufzettel bekommen und ist seit 9.Mai mit Familie in Westberlin...« – einen Tag vor seiner geplanten Aktion. Damit war der Tag des freien Buches für die Stasi von allen Sorgen befreit.

CSSR als Vorbild? Punkmusik als Angstfaktor für die Stasi

Diese Angst vor unberechenbaren Künstlergruppen hatte nicht nur mit Trauma der Stasi zu tun, dass ein neuer Biermann heranwachsen könnte, sondern auch mit einer Erfahrung aus der CSSR, dass auch Subkultur wie Punkgruppen gefährlich werden könnten. So findet sich in der Schedlinski-Akte die Kopie eines Artikels aus der Zeitschrift dialog 3/86 über den Anfang der Charta 77, von Václav Havel verfasst: »In der Mitte der 70er Jahre fanden sich in bestimmten Schichten, vor allem unter den Intellektuellen Formen eines selbstständigen und unabhängigen Denkens. In der Zeit entstand zum Beispiel die bekannte Edition “Hinter Schloß und Riegel”, eine Samisdatpublikation, die heute bereits mehr als 170 Bände umfasst... Es ist bekannt, dass im bekannten Gerichtsverfahren gegen die Rockgruppe “The Plastic People of the Universe” der entscheidende Anstoß zur Überwindung der Isolation ganz verschiedener Initiativgruppen, die seit 1973/74 existierten, lag«. »The Plastic People of the Universe« waren eine weithin bekannte Kultband geworden. Auch deshalb schien die Stasi besondere Angst vor Ansteckungsgefahr durch Punkmusik aus dem DDR-»Andergraunt« [Stasi-Schreibweise] zu haben. Hier wurde nun Sascha Anderson als Sänger auch zu einem Erfüllungsgehilfen, Exzessen die Spitze zu nehmen. Ein Beispiel: am 30.9.81 berichtete Anderson von der Einladung zu einem Sozialfest in einer Pankower Kirche, wo neue Punk-Gruppen auftreten sollten: »Ich habe noch nicht zugesagt. Eine Zusage würde Kontrolle meinerseits (Teilnahme der Kerbach-Gruppe bedeuten).« Die Folge: Anderson durfte teilnehmen und bestimmte die Regeln für den Auftritt. Am 20.10.81 teilte er seine Entschärfungsstrategie mit: »Kerbach wird öffentlich verkünden, dass der Punk in der DDR, der noch gar nicht begonnen hat, damit endgültig zu Ende ist. Es wird ein Stegment [! – wohl: Statement] zum Ende des Punk verlesen. Ich selbst habe mit Kerbach und Cornelia Schleime gesprochen und habe sie auf die Gefahr hingewiesen, dass es während der Veranstaltung zu Provokationen kommt, wir sämtliche Instrumente und die ganze Anlage einpacken, versuchen, Ruhe wieder herzustellen und den Saal zu verlassen. Es soll eine vom Konzept her genau anders geartete Veranstaltung werden, als die Erwartung, die an die Gruppe gestellt ist. Ich habe mit Kerbach und Cornelia Schleime über Wege gesprochen, wie die Musik, mit welcher Wirkung diese Musik in der DDR überhaupt öffentlich funktionieren kann. Wir haben beschlossen, dass man diese Musik nicht weiter führt, dass sich die Gruppe jetzt wieder verstärkt mit Jazz beschäftigen wird.«

Zu dieser Zeit war die Band immer populärer geworden, nun zog sie sich freiwillig die Zähne.1982/83 hielt Anderson auch in mehreren Berichten die Stasi über die Planung einer Ost-Punk-Platte, die in Westberlin gepresst werden sollte auf dem Laufenden und gab zugleich Tipps, wie beteiligte DDR-Gruppen angegangen werden könnten: »Ich halte es für eine Möglichkeit, die Gruppe Rosa Extra anzusprechen, die sich wohl in nächster Zeit um eine Einstufung als Amateurkapelle bemühen wollen und ihnen zu sagen, dass, wenn sie überhaupt die Möglichkeit haben wollen, eingestuft zu werden, sie auf solche Plattenaufnahmen verzichten sollen« (14.10.82).

Nachwuchskünstler sollten Debatten und Einmischung vermeiden

Als 1983 eine der Punkgruppen verhaftet wurde, war die Erwartung in der Szene groß, dass sich Sänger Anderson solidarisch zeigte. Doch am 21.9.83 gab er selber als »Fritz Müller« zu Protokoll, wie er eigenes politisches Engagement vermied, obwohl es von ihm erwartet wurde: »Rathenow meint, es wäre günstiger gewesen, von Anfang an die Verhaftung der Punk-Gruppe in den Westmedien zu publizieren. Durch die Öffentlichkeit in den Westmedien wäre die Staatsanwaltschaft und die Untersuchungsorgane in der DDR in ihren Praktiken eingeschränkt worden. Rathenow fragte Anderson, warum er nichts von der Verhaftung der Punk-Gruppe in den Westmedien veröffentlicht hat. Anderson meinte, es müsse erst ein klarer Verhandlungspunkt gegen die Punk-Gruppe vorliegen, sonst könnte die Staatsanwaltschaft kriminelle Aspekte in den Vordergrund stellen, wenn es in den Westmedien um politische Gründe ginge«. So verzögerte er Reaktionen durch Nichtengagement. Wo immer Anderson als Sänger oder Autor auftrat, fiel Teilnehmern auch auf, dass nach Möglichkeit Diskussionen vermieden wurden. Als er am 30. Januar 1982 selbst bei Gerd Poppe las, berichtete »Fritz Müller«: »Die Lesung fand ein starkes Interesse, es wurde sehr kurz gelesen, ungefähr eine halbe Stunde. Eine Diskussion wurde vermieden. Es fand keine Diskussion statt«. Im Februar 1983 enttarnte Anderson auch die Schleichwege der Poppes, polizeiliche Verbote zu umgehen, nachdem bereits 200 Mark Strafe für Missachtung der Veranstaltungsordnung gegen das Ehepaar verhängt worden waren: »Poppes werden jetzt alle weiteren Veranstaltungen in Form von Familienfeiern stattfinden lassen. Ab März immer zwei Tage hintereinander. Einer ihrer nächsten Pläne ist es, Ulrich Plenzdorf lesen zu lassen. Sie wollen sehen, wie das dann bei den Behörden ankommt.«

Als eine Woche vor der Lesung Poppe die Veranstaltung doch noch anmeldete und zwar mit der Anzahl von ca. 30 Besuchern, enthüllt Anderson am 21.3.83: »Zur Lesung...hat er gesagt, dass er die Leute bittet, am Nachmittag zum Kaffee zu kommen, um sich zu unterhalten und dann nicht mehr zu gehen, damit die Polizei bei einer Zählung am Abend nicht mehr als 30 Leute zählt«. Auf diese Weise unterminierte Anderson einen politischen Kulturtreffpunkt nach dem anderen. Auch gegen die Lesungen bei seinem Berliner Wohnungsgeber Ekkehard Maaß empfahl er ein Rezept, als er davon erfuhr, dass Maaß seinen aktiven Wehrdienst als Reservist verweigern wollte. So diktierte er am 3.2.82 aufs Stasi-Tonband: »Er müsste rechnen damit, dass er 9 Monate in Knast ginge...Wenn Maas angenommen in den Knast ginge, zur Fahne ginge oder ähnliches könnte man vermeiden, dass bei Maaß Lesungen stattfinden«.

Auch ein Ziel: kreative Zirkel nicht ausufern lassen

»Unvorstellbar« resümiert der Schriftsteller Thomas Günther, nachdem sich die Stasiakten Andersons gefunden hatten, »dass jemand der zum Kopf einer Szene wurde, zugleich ihr größter Verräter war«. Wo allzu kreative Zirkel entstehen konnten, bremste Anderson offensichtlich mit. Als etwa am 27.Juni 1982 in der Berliner Erlöserkirche Pfarrer Eppelmann zu einer Schriftstellerwerkstatt einlud, sorgte Anderson dafür, »dass die ihm bekannten Dresdener Personen nicht nach Berlin reisen wollen. Durch geeignete Maßnahmen wird der IMB die Personen Kerbach, Schleime, Zeidler und Rom am 27.Juni 1982 bis 16 Uhr bei einem Malerpleinair in Eichsfeld (Bez. Erfurt) binden« heißt es in einem Schreiben der Dresdener Staatssicherheit vom 26.6.82. Auf diese Weise wurde risikoreiche Gruppenbildung in Zaum gehalten und wurde Anderson zum überzeugten Erfüllungsgehilfen des Systems. Ihn produktiv in noch politischere Zirkel einzupflanzen, gelang aber erst nach seiner Übersiedlung nach Westberlin, als er sich dort an den Schriftsteller Jürgen Fuchs und den Journalisten Roland Jahn annähern konnte (vgl. Horch und Guck 4/99). Im Osten aber schlug 1983 der Stasi-Auftrag fehl, sogar »langfristigen Kontaktausbau mit Herstellung intimer Beziehungen« zu Katja Havemann aufzubauen, auch wenn er die Annäherung an die Familie vehement versuchte. Aber in den politischeren Kreisen hatte Anderson ein gesundes Misstrauen geweckt, auch durch seine vielen Affären. Seine Amoralität gipfelt in einem Bericht vom 8.10.83: »Weiter gab der IM Hinweise auf (6) weibliche Personen aus Magdeburg, Dresden und Halle, mit denen er intime Beziehungen unterhält, die für eine Zusammenarbeit mit dem MfS geeignet sein könnten (Namen wurden zur Aufklärung Gen. Major Quaas übergeben). Als evtl. weiteren Werbungskandidaten tippte er....«.

Noch immer zu schweigen zeichnet Überzeugungstäter aus

Dass sich IMs wie Anderson so lange über ihre Geheimdiensttätigkeit ausgeschwiegen haben und kaum Reue zeigten, belegt, wie sehr verinnerlicht sie ihre Stasi-Rolle eigentlich hatten und durchaus noch haben. »Der IM hat eine positive Einstellung zu den gesellschaftlichen Verhältnissen in der DDR« wurde Rainer Schedlinski von der Stasi gelobt, der nach seiner Enttarnung als IM einmal reuelos Journalisten gegenüber betonte, er würde »wieder so handeln“, wie die Stasi seine Aufgabe definierte: »Angriffe gegen die sozialistische Gesellschaft rechtzeitig erkennen und wirksam verhindern«(14.2.83). Auch Sascha Anderson verstand sich nie als Opposition, das ist legitim. Bei Fortbestand der DDR wäre er womöglich irgendwann ein etwas progressiverer Kulturfunktionär wie Dietmar Keller geworden, aber immer noch angepasst an die Denkweise seines Systems, nur etwas offener für die Lebensweise und für kulturelle Ausdrucksformen seiner Generation. IMs wie Anderson waren somit als angebliche Untergrundkünstler keineswegs Minenleger im Unterdrückungsstaat, wie »wir Westjournalisten« irrtümlich dachten – sondern Entschärfungsspezialist von künstlerischem Sprengstoff. Wie gesagt: nicht Sand im Getriebe, sondern ein Rad davon.

Erstveröffentlichung im Frühjahr 2000 in der Aufarbeitungszeitschrift "Horch und Guck" des Bürgerkomitee 15. Januar e.V. Berlin (Heft 29/2000-I).

Der Autor, Joachim Walther (geb. 1943 in Chemnitz), Freiberuflicher Schriftsteller und Publizist. War 1990 letzter stellvertretender Vorsitzender des DDR-Schriftstellerverbandes, für dessen Erneuerung er sich einsetzte. Sein Buch "Sicherungsbereich Literatur" (1996) gilt als Standardwerk über Literatur und Zensur in der DDR. 2001 initiierte er zusammen mit Ines Geipel das Projekt eines „Archivs unterdrückter Literatur in der DDR“. Weitere Veröffentlichungen: Protokoll eines Tribunals - Die Ausschlüsse aus dem DDR-Schriftstellerverband 1979 (1991), Verlassenes Ufer (1994), Sicherungsbereich Literatur - Schriftsteller und Staatssicherheit in der Deutschen Demokratischen Republik (1996), Himmelsbrück (2009), Gesperrte Ablage – Unterdrückte Literaturgeschichte in Ostdeutschland 1945-1989 (mit I. Geipel, 2015).