"An der Wiege des Bonner Grundgesetzes [...] haben die Gespenster von Weimar gestanden", schrieb Eduard Dreher im Jahr 1950. Und "Bonn ist nicht Weimar" lautete 1956 der plakative Titel eines Buches des Journalisten Fritz René Allemann. Beide Aussagen weisen auf eine Abgrenzung zur Weimarer Verfassungswirklichkeit hin. Diese hatte in das unselige, so genannte Dritte Reich gemündet und wurde deswegen zu Recht als gescheitert gebrandmarkt. Dennoch kam Friedrich Karl Fromme 1960 bei einem genaueren Vergleich des Grundgesetzes mit der Weimarer Verfassung zu der nur auf den ersten Blick überraschenden Feststellung, das Grundgesetz sei "eine modifizierte Neubelebung" der Weimarer Verfassung. Wie aber kommt Fromme zu dieser Einschätzung?
1919: Erste parlamentarische Demokratie in Deutschland
Die Kaiserzeit (1871-1918) wird im Allgemeinen als konstitutionelle Monarchie bezeichnet: Das Parlament verfügte nur über ein stark eingeschränktes Budgetrecht (Haushaltsrecht) und hatte nicht einmal ein Selbstbestimmungsrecht, denn es wurde vom Kaiser einberufen und auf kaiserliche Anordnung hin vertagt.
Hingegen wird für den Reichstag der Weimarer Zeit (1919-1933) von der ersten parlamentarischen Demokratie in Deutschland gesprochen. Doch diese Demokratie ging unter und mündete in die nationalsozialistische Diktatur, die Demokratie, Gewaltenteilung, Grundrechtsschutz und Rechtsstaatlichkeit beseitigte. Verfassungspolitisch heikle Punkte, die die Weimarer Republik in Krisen stürzten, waren:
die wiederholte Unfähigkeit des Parlaments zur Regierungsbildung
die Verweigerung der Gesetzgebung durch das Parlament
die Abwehrschwäche gegenüber scheinlegalen Attacken gegen die parlamentarische Demokratie.
Mit dem Grundgesetz für die Bundesrepublik Deutschland vom 23. Mai 1949 wurde nun zum zweiten Mal eine parlamentarische Demokratie in Deutschland begründet. Für die "Mütter und Väter" des Grundgesetzes galt es, die richtigen Lehren aus den Fehlern der Weimarer Verfassung zu ziehen.
Die bedeutendsten Unterschiede zwischen Weimarer Verfassung und Bonner Grundgesetz
Den Verfassern des Grundgesetzes lag wesentlich daran, im Unterschied zur Weimarer Verfassung, folgende Prinzipien durch Grundgesetzbestimmungen umzusetzen:
Verfassungsänderungen wurden erschwert und nur mit einer Zweidrittelmehrheit möglich.
Die Gewaltenteilung zwischen Legislative (Gesetzgebung), Exekutive (Regierung) und Judikative (Rechtsprechung) wurde gesichert.
Mit der verfassungsmäßigen Verankerung der Parteien wurden diese gestärkt, um zugleich die Bildung eines Einparteiensystems zu verhindern.
Der Grundsatz der Rechtsstaatlichkeit wurde durch die Schaffung eines Bundesverfassungsgerichts und einer Verwaltungsgerichtsbarkeit gestärkt.
Die Grundrechte waren auch schon in der Weimarer Reichsverfassung als Staatsziele bezeichnet worden. Doch banden die Grundrechte nur die Verwaltung, nicht jedoch den Gesetzgeber. Dem Grundgesetz zufolge stellen die Grundrechte hingegen eindeutig unmittelbar geltendes Recht dar (Art. 1 Abs. 3 GG), das zukünftig die gesamte Staatsgewalt – einschließlich Legislative – band. Menschen- und Bürgerrechte wurden als einklagbare subjektive Rechte formuliert.
Der Grundrechtsschutz erhielt durch die Formulierung, dass deren Wesensgehalt nicht angetastet werden dürfe (Art. 19, Abs. 2), eine besondere Stärkung. Der verfassungsändernde Gesetzgeber durfte die Grundrechtsartikel des Grundgesetzes zwar abändern, allerdings waren fortan die in den Artikeln 1 und 20 niedergelegten Grundsätze unantastbar (Art. 79 Abs. 3).
Konfliktentscheidungen durch das Volk mittels Plebisziten sollten vor dem Hintergrund des Volksbegehrens gegen den Young-Plan 1929 vermieden werden. Der Plan sollte die Reparationszahlungen Deutschlands nach dem ersten Weltkrieg neu regeln.
Eine Parlamentsauflösung sollte erschwert werden.
Der Bundespräsident erhielt nicht mehr die herausgehobene Rolle wie sein "Vorgänger", der Reichspräsident.
Es wurde die Möglichkeit geschaffen, verfassungsfeindliche Parteien zu verbieten.
Reaktionen auf die NS-Diktatur
Zwischen den Reaktion der Verfassungsmütter und -väter auf die Weimarer Reichsverfassung sowie die nationalsozialistische Diktatur kann nur ungenau unterschieden werden. Denn schließlich bahnte sich die NS-Diktatur auf scheinbar verfassungsrechtlich legale Weise den Weg. Diese strukturellen Fehler der Weimarer Verfassung drücken sich in dem Schlagwort vom "Scheitern von Weimar" besonders gut aus.
Doch jener Grundgesetzartikel, in dem sich das Selbstverständnis der zukünftigen Bundesrepublik in besonderer Weise manifestiert, kann immerhin herangezogen werden, um zu dokumentieren, dass auch aus der NS-Vergangenheit Lehren gezogen wurden: Hatte die Weimarer Verfassung das Deutsche Reich schlicht als "Republik" definiert, so hatte das Grundgesetz die Bundesrepublik Deutschland als einen "demokratischen" Bundesstaat bezeichnet. Die Bundesstaatlichkeit darf laut Grundgesetz auch nicht verändert oder aufgehoben werden. Weimarer Reichsverfassung (Art. 1) wie Bonner Grundgesetz (Art. 20, Abs. 2) enthalten beide die Formulierung, alle "Staatsgewalt geht vom Volke aus" - doch vor dem Hintergrund der Forderung nach einem demokratischen Bundestag liest sich auch diese einfache Formulierung völlig anders.
"Bonn ist nicht Weimar"
Die lange Liste der wesentlichen Unterschiede zwischen der Weimarer Verfassung und dem Bonner Grundgesetz macht mehr als einmal deutlich, wie sehr sich die Bonner von der Weimarer Republik im Detail unterscheidet. Der spätere Erfolg der Bundesrepublik Deutschland ist aus verfassungsgeschichtlicher Perspektive auch den Erfahrungen in der Weimarer Republik zu verdanken.
Das Grundgesetz im Kontext deutscher Verfassungstraditionen
Trotz aller lehrreichen Erfahrungen aus Weimar stehen Weimarer Verfassung und Bonner Grundgesetz unverkennbar in der bis auf die Frankfurter Paulskirche 1848 zurückreichenden deutschen Verfassungstradition.
Zu den bemerkenswerten Anleihen aus der Weimarer Verfassung zählt Art. 140 des Grundgesetzes, der festlegt, das Art. 136, Art. 137, Art. 138, Art. 139 und Art. 141 der Weimarer Verfassung Bestandteil des Grundgesetzes sind. Die so genannten "Religionsartikel" bilden den Kern des bis heute geltenden Staatskirchenrechts. Sie zeigen, dass sich im Parlamentarischen Rat keine Mehrheiten zur Entwicklung eines neuen Konzeptes zum Verhältnis von Kirche und Staat fanden. Das mag 1948/49 noch mancher Politiker bedauert haben, doch heute wie damals gehört gerade die "positive Religionsfreiheit" zu jenen Errungenschaften, von denen sich inzwischen zwar die Kirchen, aber nicht der deutsche Staat als Profiteur zu trennen bereit zeigten.
Neuauflage oder "modifizierte Neubelebung" der Weimarer Verfassung?
Das Scheitern der Weimarer Demokratie war den Schöpfern des Bonner Grundgesetzes lebhaft vor Augen. Die Verfasser des Grundgesetzes hatten ihre politische Sozialisation im Kaiserreich und in der Weimarer Republik erfahren. Weimarer Demokratie und Nationalsozialismus waren negative Bezugspunkte während ihrer Arbeit am Grundgesetz. Die Auseinandersetzung mit dem Nationalsozialismus bestärkte die Abgeordneten darin, sich auf Werte zurückzubesinnen.
Es galt, aus dem historischen Erbe die richtigen Lehren und Konsequenzen zu ziehen und in das Grundgesetz einfließen zu lassen, ohne gleich die gesamte Weimarer Reichsverfassung zu verteufeln. So gehörte die Weimarer Reichsverfassung mit dem Verfassungsentwurf des Sachverständigen Ausschusses der Ministerpräsidenten auf Herrenchiemsee zu den am meisten verwendeten Texten bei der Arbeit des Parlamentarischen Rates am Grundgesetz. Deswegen kommt Fromme auch zu der treffenden Formulierung, dass das Grundgesetz "eine modifizierte Neubelebung" der Weimarer Verfassung sei.
Das Grundgesetz ist demnach wesentlich mehr als nur eine "Neuauflage" der Weimarer Verfassung. Durch eine Machtverschiebungen zwischen den Verfassungsorganen, durch die Chance, Grundrechte einzuklagen, durch die Wehrhaftigkeit der Bonner Demokratie und durch das unverwechselbare Bekenntnis zum freiheitlich-demokratischen Rechtsstaat ist mit dem Grundgesetz in Deutschland eine demokratische politische Kultur entstanden, die die Verfassungswirklichkeit der zweiten deutschen Demokratie kennzeichnet.